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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Johannes Moser (Hg.)

Themen und Tendenzen der deutschen und japanischen Volkskunde im Austausch

(Münchner Beiträge zur Volkskunde 46), Münster/New York 2016, Waxmann, 416 Seiten mit Abbildungen, Tabellen
Rezensiert von Alois Moosmüller
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 14.10.2019

Verbindungen zwischen der deutschsprachigen und der japanischen Volkskunde existierten schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, kühlten nach 1945 ab und nehmen seit den 2010er Jahren wieder an Intensität zu. Die japanische Volkskunde bemüht sich seit einigen Jahren verstärkt um eine methodologisch-theoretische Erneuerung wie auch um eine Intensivierung des internationalen Austauschs. So war 2015 auf Initiative der Japanischen Gesellschaft für Volkskunde ein Kooperationsvertrag mit der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde geschlossen worden. 2016 fand eine gemeinsame Fachtagung in München zu fünf Themenfeldern statt, woraus sich auch die Gliederung des vorliegenden Bandes ergibt: „Volkskunde/Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie in Japan und Deutschland“, „Stadtforschung“, „Kulturelles Erbe, Traditionen, Glaube und Ritual“, „Katastrophenforschung“ und „Migrationsforschung“. Von den insgesamt 19 Beiträgen sind 12 von japanischen Autorinnen und Autoren, davon sechs im dritten Themenfeld, das in der japanischen Volkskunde wohl noch immer von herausragender Bedeutung ist, was nicht zuletzt dem bis heute hochgehaltenen Erbe des Begründers der japanischen Volkskunde beziehungsweise Folkloristik, Yanagita Kunio (1875–1962), geschuldet sein dürfte. Yanagita hat Anfang des 20. Jahrhunderts die europäische Ethnologie in Japan eingeführt mit dem Ziel, die eigene Kultur oder vielmehr die „japanische Volksseele“ aus den „ursprünglichen und unverfälschten“ Bräuchen der dörflichen Bevölkerung zu erschließen. Eben darin sah Yanagita eine besondere Nähe zur damaligen deutschen Volkskunde.

Im ersten Themenfeld gibt der Beitrag von Shimamura „Was ist ‚minzokugaku‘?“ einen chronologisch geordneten Überblick zur Entwicklung der japanischen Volkskunde (minzokugaku) von den Anfängen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der heimatkundlich orientierten „Ein-Land-“ Volkskunde Yanagitas bis zur gegenwärtigen Neuorientierung im Sinne eines verstärkten Bemühens um Internationalisierung, Interdisziplinarität und mehr Öffentlichkeitswirksamkeit auch und vor allem hinsichtlich der Frage der „gesellschaftlichen Nützlichkeit“. Obwohl schon lange existent, war Volkskunde erst 1958 ein universitäres Fach geworden. Mit der 1978 erfolgten Eingliederung in das Institut für Geschichtswissenschaft und Anthropologie an der neu gegründeten Universität Tsukuba intensivierte sich die Orientierung an den Ansätzen von Kulturanthropologie, Kultursemiotik und Urban Folklore, was in den 1990er Jahren insbesondere von jungen Volkskundlern heftig kritisiert wurde und in der Folge zu einem Revival der klassischen Volkskunde Yanagitas führte.

Der Beitrag „Die gesellschaftliche und politische Rolle der japanischen Volkskunde während des Krieges und der Besatzungszeit. Ein Vergleich der japanischen und der deutschen Volkskunde in Bezug auf Kriegsverantwortung“ von Nakao beschäftigt sich u. a. eingehend mit dem Ethnologen Oka Masao (1898–1982), der in Wien vom Mäzen der Kulturkreislehre Wilhelm Schmidt promoviert wurde und die Idee vertrat, dass die deutschsprachige Volkskunde unter den westlichen Ethnologien die anschlussfähigste sei, da auch sie sich der Herstellung völkischer Einheit verpflichtet fühle. In der von dem Zoologen und SS- Sturmbannführer Ernst Schäfer geleiteten und von Himmler geförderten Tibet-Expedition von 1938/39 kooperierten deutsche und japanische Volkskundler und Ethnologen bei der Suche nach den völkischen Wurzeln der Arier und Japaner.

Forschungen in Okinawa sind ein klassischer Schwerpunkt japanischer Volkskundler und Ethnologen. In Ogumas Beitrag „Okinawas Volkskultur nach dem Zweiten Weltkrieg“ geht es um ein Tauziehritual. Beschrieben werden die vielfältigen Verwerfungen und performativen Ebenen im Kontext von touristischem Exotismus und der Suche nach kultischer Reinheit angesichts der noch immer andauernden Präsenz der Amerikaner.

Der Beitrag von Göttsch-Elten gibt eine Standortbestimmung der Europäischen Ethnologie/Kulturanthropologie. Es wird die Entwicklung der Volkskunde hin zu einer „kulturwissenschaftlich profilierten Europäischen Ethnologie“ mit einer theoretisch fundierten und methodologisch reflektierten eigenständigen Perspektive skizziert. Ähnliche Entwicklungen werden in den japanischen Beiträgen durchaus erwähnt, aber meist nur andeutungsweise diskutiert und in Bezug auf theoretische und methodologische Diskurse verortet.

Zum Themenfeld „Stadtforschung“ gibt der Beitrag „Vom Habitus der Stadt zu ‚urbanen Ethiken‘. Jüngere Tendenzen der europäisch-ethnologischen Stadtforschung“ von Moser einen konzisen Überblick über das Forschungsgebiet und stellt verschiedene aktuelle Forschungsansätze wie den Ansatz einer „Stadtvolkskunde“ vor. Der Beitrag „Stille Gewalt. Städte, Flüsse, unsichtbare Mauer und sozial Schwache in der japanischen Gesellschaft“ von Suga setzt sich anhand einer Fallstudie über Flussufergestaltung in Tokyo kritisch mit Collaborative Governance wie auch mit dem wissenschaftlichen Erbe Yanagitas auseinander. Die Anschlussfähigkeit deutscher und japanischer Forschungen scheint in diesem Themenfeld sehr hoch zu sein.

Zum Themenfeld „Kulturelles Erbe, Tradition, Glaube und Ritual“ liegen sechs japanische Beiträge und ein Beitrag von Tauschek vor, der überblicksmäßig die kulturanthropologischen Diskurse zum Thema Kulturerbe behandelt und zentrale Theorien, Ansätze wie auch Problemfelder, Brüche und Widersprüche diskutiert. In den japanischen Beiträgen werden anhand von Fallstudien die Auswirkungen von Heritage Regimen und Touristifizierung auf Tradition und Ritual behandelt und Fragen der volkskundlichen Kulturerbe-Forschung wie auch zum wissenschaftlichen Erbe Yanagitas erörtert. Interessant und aufschlussreich sind hier der Beitrag „Spirituelle Touristen und profane Pilger. Zusammentreffen von Religion und Tourismus an einem japanischen Kulturerbe“ von Kadota und der Beitrag „Anime-Pilgerfahrt und Krieg“ von Yoshitani zu den jüngst in Mode gekommenen „Pilgerfahrten von Fans militärischer Animes und Games“ zu religiösen Stätten.

Im Themenfeld „Katastrophenforschung“ beschreibt der Beitrag „Die große Erdbebenkatastrophe in Ost-Japan aus dem Blickwinkel der ‚minzokugaku‘“ von Masaoka den Versuch, ein Volksfest, das nach der Erdbebenkatastrophe in Fukushima aufgegeben worden war, wieder zu beleben. Dabei wird aufgezeigt, dass die Vermutung von Volkskundlern, alte Bräuche würden helfen, Leid zu lindern und dörfliches Gemeinschaftsleben wieder herzustellen, nicht haltbar ist. Die Volkskunde könne sich angesichts der radikalen Umbrüche nicht mehr primär mit der Frage der Erhaltung von Kulturgütern beschäftigen, vielmehr sei ein Paradigmenwechsel nötig, allerdings ohne dabei die klassische Volkskunde Yanagitas aufzugeben. In dem Beitrag „Kultur der Katastrophen“ von Johler u. a. wird am Beispiel der großen Lawinenkatastrophen 1954 in Blons, Vorarlberg, und 1999 in Galtür, Tirol, diskutiert, wie Katastrophen kulturell gedeutet werden und wie damit gesellschaftliche (Un‑)Ordnungen in den Blick genommen werden können.

Zum Themenfeld „Migrationsforschung“ gibt der Beitrag von Leimgruber einen materialreichen Überblick zur Migrationsforschung in der deutschsprachigen Kulturanthropologie, begleitet von der Forderung, deutlicher als bisher Migrantenperspektiven ins Zentrum zu stellen und Migration als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen auch aus postmigrantischer Perspektive zu konzeptualisieren. Im Beitrag „EUropäische Migrations- und Grenzregime“ von Schwertl werden diese Forderungen umgesetzt. Der Beitrag „Die Diskrepanz zwischen dem Multikulturalismus japanischer Ausprägung und opponierendem Nationalismus“ von Okada beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen Verwerfungen eines japanisch gefassten „koexistentiellen Multikulturalismus“ wie er von der liberalen Politik der Stadt Kobe propagiert worden war sowie mit den gesellschaftlichen Umbrüchen in der Folge des großen Erdbebens von 1995 in Kobe. Kritisch beleuchtet wird eine Politik, die in einer verstärkten Ausgrenzung von Minderheiten resultiert, indem sie den neuen Japan First Nationalismus vertritt und zugleich liberalen Multikulturalismus als touristischen Exotismus betreibt.

Der Sammelband präsentiert informative, den gegenwärtigen Kenntnisstand zu fünf aktuellen Forschungsfeldern der Volkskunde/Europäischen Ethnologie sehr übersichtlich zusammenfassende Texte und ermöglicht einen in diesem Umfang bisher wohl noch nie gebotenen Einblick in die vielfältige Forschungslandschaft der japanischen Volkskunde, die sich, wie einige Texte darlegen, aus einer tiefreichenden Krise befreit und theoretisch und methodisch neu orientiert hat. Gut ersichtlich wird, dass es zwischen der Japanischen und der Deutschen Volkskunde viele Anschlussmöglichkeiten gibt, aber auch, dass die japanische Volkskunde eigene Wege geht, die wohl nicht so einfach anschlussfähig sein dürften, was insbesondere für die klassischen, an Yanagitas Volkskunde orientierten Ansätze gilt. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass es womöglich dem Yanagita Revival zu verdanken ist, dass etwa zu medialisierten, populärkulturellen Phänomenen oder zum Thema „content tourism“ (wie im Beitrag von Yoshitani) in Japan neue Forschungsansätze entstanden sind, die auch international bedeutend sind.[1] Dies mag auf den ersten Blick durchaus verwundern, da in westlichen Diskursen zur Kultur Japans Yanagita beziehungsweise das wissenschaftliche Erbe Yanagitas als zentrale Quellen für den sogenannten „Japanerdiskurs“ (nihonjinron), einer besonders auch in den Wissenschaften betriebenen Selbstorientalisierung, gesehen wird.[2] Dass der Umgang mit Yanagitas Erbe aber auch anders betrachtet werden kann, zeigen einige der in diesem Buch versammelten Texte.

Anmerkungen

[1] Vgl. Philip Seaton u. Takayoshi Yamamura: Japanese Popular Culture and Contents Tourism – Introduction. In: Japan Forum 27 (2015), 1, S. 1–11 [online verfügbar].

[2] Harumi Befu: Hegemony of Homogeneity. An Anthropological Analysis of „Nihonjinron“. Melbourne 2001; Kaori Okano u. Yoshio Sugimoto (eds.): Rethinking Japanese Studies. Eurocentrism and The Asia-Pacific Region. London, New York 2018.