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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Anna-Maria Rössler

Die „Kirchenstühl“. Barocke und klassizistische Laiengestühle im katholischen Sakralbau Süddeutschlands

(Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte 167), Petersberg 2019, Michael Imhof, 423 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, zum Teil farbig
Rezensiert von Johann Kirchinger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 14.10.2019

Kirchenstühle stellen das am wenigsten beachtete katholische Kirchenmobiliar dar. Während es etwas Forschung zu protestantischen gibt, sind katholische kaum Gegenstand des Interesses. Am ehesten noch beschäftigt sich die Kunstgeschichte mit ihnen, während sich um die protestantischen Kirchenstühle vor allem die sozialgeschichtliche Forschung kümmert. Die Invention der Laiengestühle provoziert nämlich die Frage der Ordnung, weshalb sich in ihrer Verteilung auf die Kirchengemeinde soziale Ordnungsvorstellungen widerspiegeln. Eine kunstgeschichtliche Dissertation versucht nun, diesen Forschungsrückstand durch die Integration sozial-, liturgie- und kunstgeschichtlicher Methoden auszugleichen. Dabei wertet die Autorin Anna-Maria Rössler ein Sample von 100 barocken und klassizistischen Kirchenstühlen in katholischen Kirchen aus dem Zeitraum von 1670 bis 1830 samt den greifbaren archivalischen Quellen vor allem aus dem heutigen Bayern, daneben auch aus dem benachbarten Oberschwaben, aus, da sie in diesem Gebiet einen kunsträumlichen Zusammenhang erblickt.

Eines der wichtigsten (liturgiegeschichtlichen) Ergebnisse der Arbeit besteht darin, dass die Autorin plausibel macht, dass es sich bei den Kirchenstühlen in katholischen Kirchenräumen nicht, wie bisher von der Forschung angenommen, um die Übernahme eines genuin protestantischen Möbels handelt, das sich aufgrund der Länge der Predigten zuerst in protestantischen Kirchen entwickelt habe. Vielmehr haben sich das protestantische und das katholische Kirchengestühl parallel aus spätmittelalterlichen Wurzeln entwickelt und konfessionsunterscheidende Gestalt angenommen. So besitzen sowohl der Grund- als auch der Aufriss konfessionell spezifische Gestalt. Das katholische Gestühl muss im Grundriss den in der Gegenreformation üblichen Prozessionen Raum bieten, was in protestantischen Kirchen unnötig ist. Außerdem führen die katholischen Kniebänke zu einer asymmetrischen Gestaltung der Bankdocken, während die protestantischen Docken eher symmetrisch sind.

In sozialgeschichtlicher Hinsicht beschäftigt sich die Autorin nur mit der Ausdifferenzierung und Platzierung von Kirchenstühlen öffentlicher Funktionsträger. Die bedeutende Frage, wie die Gemeinde im Kirchenraum mit der Errichtung von Kirchenstühlen durch die weltliche oder kirchliche Herrschaft geordnet wird oder sich selbst ordnet, stellt sie sich nicht.

Den Hauptteil der Arbeit bildet die kunstgeschichtliche Analyse. Breiten Raum nimmt dabei die Suche nach den Vorlagen für die Schreiner in Stichwerken in Anspruch. Daneben wird die Ikonographie der Docken in ausgewählten Beispielen vorgestellt. Dabei macht die Autorin plausibel, wie sehr die Gestühle integraler Bestandteil des Gesamtkunstwerks Kirche sind, indem nicht nur ihre ikonographische Gestaltung, sondern auch die Materialauswahl und -behandlung auf die übrige Kirchenausstattung abgestimmt ist.

In einem detaillierten Katalog werden die 100 Kirchenstühle in chronologischer Reihenfolge vorgestellt. Jeder Eintrag umfasst Angaben zu Datierung, Anordnung, Anzahl, nachbauzeitlichen Veränderungen, Material, Maßen, Gestaltung, archivalischen Quellen und Literatur. Die Abbildungen der Docken wurden von der Autorin selbst gemacht. Sie sind von sehr guter Qualität, wenn auch nicht auf architekturfotografischem Niveau. Ein bebilderter Katalog der ausgewerteten bauzeitlichen Kirchengrundrisse zeigt die Anordnung der Kirchenstühle. Es folgt ein ebenfalls bebilderter Katalog der ausgewerteten Entwurfszeichnungen für Docken und Brüstungen. Ein Katalog der deutschen Ornamentstichvorlagen, welcher nach Auskunft der Autorin den größten Teil der deutschsprachigen Schreinervorlagen umfasst, schließt diesen Teil. Ein Quellenanhang umfasst Kirchenstuhlordnungen, Kirchenstuhlstreitigkeiten und Kostenvoranschläge. In einem Glossar werden die verschiedenen Bestandteile der Kirchenstühle erläutert. Ein Personen- und Ortsregister erleichtert die Erschließung der Studie ungemein.

Wenn das Werk auch Defizite in sozialgeschichtlicher Hinsicht aufweist und der wesentliche Wert in der kunstgeschichtlichen Analyse liegt, ist damit eine Pionierstudie zu katholischen Kirchenstühlen entstanden, die dazu angetan ist, dieses Möbel aus dem protestantischen Schatten heraustreten zu lassen.