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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Detlef Schmiechen-Ackermann/Marlies Buchholz/Bianca Roitsch/Christiane Schröder (Hg.)

Der Ort der ‚Volksgemeinschaft‘ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte

(Nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft‘ 7), Paderborn 2018, Ferdinand Schöningh, 506 Seiten
Rezensiert von Michael Kißener
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 08.10.2019

Inwiefern die nationalsozialistische Rede von der zu schaffenden „Volksgemeinschaft“ mehr war als nur eine Propagandaformel und gleichsam als neues Forschungsparadigma taugt, das die Gesellschaftsgeschichte der NS-Zeit bereichern kann, ist seit Jahren höchst umstritten. In dem von Detlef Schmiechen-Ackermann maßgeblich initiierten und vorangetriebenen niedersächsischen Forschungskolleg „Nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft‘? Konstruktion, gesellschaftliche Wirkungsmacht und Erinnerung vor Ort“ ist dieser Frage über Jahre hinweg theoretisch wie mit empirisch gesättigten Studien und zwischenbilanzierenden Konferenzen in sehr oft regionalen Kontexten nachgegangen worden. Die Erträge dieser Forschungen wurden 2015 auf einer Abschlusskonferenz in Hannover vorgestellt und kritisch bewertet. Wesentliche Referate und Beiträge dieser Bilanz sind nun in dem hier anzuzeigenden Band veröffentlicht worden.

Dabei handelt es sich um 30 Aufsätze, die sechs Themenkreisen zugeordnet sind: Zunächst geht es um die wissenschaftliche Debatte über „Volksgemeinschaft“ als Forschungsparadigma (I), dann um die Idee der „Volksgemeinschaft in internationaler und vergleichender Perspektive“ (II), um „Akteure zwischen Vergemeinschaftung und Exklusion“ (III), um „Praktiken und Semantiken im Alltag des Nationalsozialismus“ (IV) sowie schließlich um „zeitgenössische Repräsentationen der ‚Volksgemeinschaft‘“ (V) und schließlich um die Folgewirkungen nach 1945 (VI). Diese Aufsatzsammlung beabsichtigt nicht, wie Schmiechen-Ackermann deutlich und überzeugend in seinem einleitenden Aufsatz darlegt, „Volksgemeinschaft“ als einzig valides Forschungsparadigma für die NS-Zeit nahezulegen (S. 23), und sie verschweigt in keiner Weise die Schwachstellen dieser Forschungsrichtung, ja lässt auch die Kritiker ausführlich zu Wort kommen. Wohl aber nimmt Schmiechen-Ackermann – zur Recht – in Anspruch, dass das Forscherkolleg durch eine Vielzahl empirischer Studien (meist Doktorarbeiten) dazu beigetragen hat, die Aussagekraft und Reichweite des „Volksgemeinschaftsparadigmas“ nun kompetenter und fundierter einordnen zu können.

Für die regional- bzw. landeshistorische Perspektive sind vor allem die Aufsätze des ersten Themenblocks in theoretischer wie methodischer Hinsicht von besonderer Bedeutung. Hier sei auf einige Details eingegangen:

Hans-Ulrich Thamer fragt in seinem Beitrag nach den Potenzialen des „Volksgemeinschaftsparadigmas“ und stellt u.a. fest, dass die bisherigen Forschungen dazu anregen, den Begriff mehrdimensional zu denken. „Volksgemeinschaft“ – das meint nicht nur eine gedachte Ordnung, es ist auch soziale Praxis im kulturgeschichtlichen Sinn und beschreibt permanente soziale Aushandlungsprozesse. Die der „Volksgemeinschaft“ zugedachten Funktionen waren vielfältig: Mit Hilfe dieses Konstruktes sollten Zuschreibungen erfolgen, gesellschaftliche Referenzrahmen definiert, politische Handlungen angeleitet oder auch Inszenierungen gestaltet werden. „Volksgemeinschaft“, so lässt sich nach den niedersächsischen Forschungen nun deutlich sagen, hatte eine Erlebnisdimension und evozierte Emotionen. Im Krieg fand sie ihre Zuspitzung als „Kampfgemeinschaft“. Nach Thamers Ansicht hat sich das Konzept, das politische Verheißung wie Mobilisierungsstrategie war, als besonders fruchtbar erwiesen, wenn es darum geht, die soziale Praxis, die affektive Integration und die Mechanismen der Exklusion in der deutschen Gesellschaft der Jahre 1933-1945 zu beschreiben und zu verstehen. Insgesamt sieht er in der Bilanz mehr Vor- als Nachteile des Ansatzes.

Dem widerspricht mit gewichtigen Gründen wenige Seiten später Wolf Gruner, der mit Peter Longerich plakativ festhält: „Wir wissen zwar viel mehr, sind aber so schlau wie zuvor“ (S. 78). Mehr noch fragt er, „was das Konzept der ‚Volksgemeinschaft‘ eigentlich erklären kann, was wir ohne es nicht verstehen würden“ (S. 78). Vor allem verstellt nach Gruners Ansicht das „Volksgemeinschaftskonzept“ den Blick auf die biographischen Erfahrungen und die „Vielfältigkeit und Komplexität persönlicher Motive und Interessen“ (S. 79). Folglich favorisiert er eine Verbindung von Makro- und Mikrogeschichte in einer „Geschichte sozialer Beziehungen und individueller Handlungen, die Attraktion und Partizipation ebenso einschließt wie Verfolgung und Widerstand“ (S. 90).

Schon dies deutet an, dass sowohl für die Befürworter wie für die Kritiker des „Volksgemeinschaftskonzepts“ regional- und landesgeschichtliche Perspektiven von ausschlaggebender Bedeutung sind. Genau diesen Umstand betont Martina Steber auch in ihrem Aufsatz über die „Eigenkraft des Regionalen. Die unerschöpften Potenziale einer Geschichte des Nationalsozialismus im kleinen Raum“. Diese Potenziale sieht sie zum einen in der Untersuchung von Kommunikationsstrukturen im Rahmen der im Nationalsozialismus ablaufenden Regionalisierungsprozesse, bei der sich die Provinz als retardierendes Moment der vom Nationalsozialismus beförderten Modernisierung erwiesen habe. Zum anderen schlägt sie eine Art Wiederaufnahme der Milieuforschung z.B. zum Katholizismus im regionalen Raum vor, bei der etwa Differenzierungen zwischen Diözesen hervortreten sollen: „Die Diözesen und Dekanate blieben soziale Räume. Welche Bedeutung sie für die Entwicklung des Milieus hatten, für die Organisation von Dissens und Opposition bzw. für die Legitimierung von Konsens, liegt im Dunkel“ (S. 68). Man darf sicherlich fragen, ob diese Feststellung wirklich richtig ist, ob nicht die zahlreichen Milieustudien der 1990er Jahre, die in diesem Aufsatz allenfalls ansatzweise genannt werden, nicht schon ganz wesentliche Ergebnisse geliefert haben, die einfach neu zu lesen und zu interpretieren wären. Und dass bei alledem, wie Steber betont, „die Eigenkraft des Regionalen ernst zu nehmen“ ist, stellt ebenfalls keine neue, sondern eine vielfach schon von den wenigen regionalen Zeithistorikern propagierte Erkenntnis dar, die aber freilich richtig bleibt.

Schon diese wenigen Hinweise mögen für den Nachweis genügen, dass die in diesem Band vereinten vielfältigen und zur Diskussion einladenden Studien einen bemerkenswerten Zugewinn für die sicher noch längst nicht beendete Debatte darstellen. Der Band „Der Ort der ‚Volksgemeinschaft‘ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte“ wird daher in Zukunft einen wichtigen Referenzpunkt für alle weitergehenden Forschungen zur nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ darstellen.