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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Hans Medick

Der Dreißigjährige Krieg. Zeugnisse vom Leben mit Gewalt

Göttingen 2018, Wallstein, 448 Seiten
Rezensiert von Dorothée Goetze
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 19.05.2020

Es ist eine ungewöhnliche Gesamtdarstellung des Dreißigjährigen Krieges, die Hans Medick 2018 vorgelegt hat. Er strebt einen historiographischen Perspektivwechsel an, weg von der Makroebene der Kriegsparteien und ihrer politischen und militärischen Entscheidungsträger, hin zu einer Mikrogeschichte des Krieges. Der Krieg und die mit ihm einhergehende Gewalt prägten laut Medick den Alltag auch und gerade jenseits der Schlachtfelder. Diese These vom »Krieg »im Hause«« (S. 12) entwickelt der Autor in einer »episodischen dokumentarischen Mikrogeschichte« (S. 14) vom Kriegsbeginn 1618 bis zum Nürnberger Exekutionstag 1649/1650.

Bereits die Wahl des Endpunktes der Darstellung ist bemerkenswert, enden doch die meisten Übersichtsdarstellungen zum Dreißigjährigen Krieg mit der Unterzeichnung der Friedensverträge in Münster am 24. Oktober 1648. Die Phase nach Abschlusses des Friedens, dessen Durchsetzung sowie der Prozess des Übergangs vom Krieg zum Frieden, wird in der Regel nicht mehr thematisiert. Wie der Abschlussband der Kaiserlichen Korrespondenzen im Editionsprojekt Acta Pacis Westphalicae, der den Zeitraum vom September 1648 bis zur Ratifikation der Friedensverträge im Februar 1649 umfasst, oder die im November 2018 in Osnabrück abgehaltene Tagung Wendepunkte, die am Beispiel des Dreißigjährigen Krieges, des Ersten Weltkrieges und der Balkankriege der 1990er Jahre in diachroner Perspektive nach Übergängen von Frieden zu Krieg und Konflikten zu Frieden fragte, unterstreicht auch Medicks Studie, wie zögerlich die Nachricht vom Frieden 1648 aufgenommen wurde und wie sehr »Angst [vor Gewalt, D.G.] und Unsicherheit« den Alltag in den folgenden Jahren weiterhin prägten (S. 344). Dem in der Forschung wenig beachteten Nürnberger Exekutionstag, der die Abdankung der Armeen und damit letztlich den Abbau von Gewalt(potentialen) regelte, kam laut Medick in seiner Funktion als »Konfliktverarbeitung« zentrale Bedeutung bei der Implementierung des Friedens zu (S. 394).

Ins Zentrum seiner Studie stellt Medick die Frage nach alltäglicher Gewalterfahrung und -wahrnehmung. Dabei reduziert er Gewalt nicht nur auf physisch-militärische Konflikte, sondern bezieht auch Formen sozialer Gewalt ein. Als Analysekategorien wählt der Autor gängige Forschungszugänge wie die Frage nach der religiös-konfessionellen Dimension des Krieges oder die Bedeutung der Medien für die Verbreitung von Wahrnehmungsmustern von Gewalt, ebenso wie klassische militärhistorische Aspekte wie etwa Einquartierungen und Belagerung. Auf diese Weise gelingt es ihm einerseits zu zeigen, wie vielfältig und umfassend Gewalt erfahren und wahrgenommen wurde. Andererseits erweitert der Autor die Forschung zum Dreißigjährigen Krieg um eine konsequent kulturhistorische Perspektive, die aus seiner umfassenden und jahrzehntelangen Beschäftigung mit Selbstzeugnissen resultiert.

Mag dieser Zugriff für die Frage nach Gewalt funktionieren, so stößt Medicks Ansatz in den letzten beiden Kapiteln, die sich mit der Suche und Durchsetzung des Friedens befassen, klar an seine Grenzen, weil hier der Zugang über Selbstzeugnisse jenseits der an den Verhandlungen Beteiligten fehlt.

Für die Ergebnispräsentation wählt Medick eine Doppelstruktur: Jedes Kapitel besteht aus analytischer Darstellung und Quellenlesebuch. Die beiden Ebenen, Analyse und Quellenauszüge, funktionieren auch weitgehend unabhängig voneinander, was eine besondere Stärke des Buches ausmacht.

Alles in allem ist Hans Medick eine in zeitlichem Zuschnitt, Darstellungsform und Perspektive ebenso ungewöhnliche wie überzeugende Gesamtdarstellung des Dreißigjährigen Krieges gelungen.