Aktuelle Rezensionen
Sigrid Hirbodian/Robert Kretschmar/Anton Schindling (Hg.)
„Armer Konrad“ und Tübinger Vertrag im interregionalen Vergleich. Fürst, Funktionseliten und „Gemeiner Mann“ am Beginn der Neuzeit
(Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B Forschungen 206), Stuttgart 2016, Kohlhammer, VI+382 Seiten, zahlreiche AbbildungenRezensiert von Dietmar Schiersner
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 04.06.2020
Das Vergleichen ist eine speziell für die Landesgeschichte immer wieder erhobene Forderung. Arbeiten zu vormodernen Agrarunruhen nehmen schon lange diese interregionale Perspektive ein, so auch systematisch und konsequent der vorliegende Band, der eine im Juli 2014 in Tübingen veranstaltete Tagung dokumentiert. Anlass des Symposiums war der 500. Jahrestag des am 8. Juli 1514 verkündeten Tübinger Vertrages, in dem sich die württembergische Landschaft gegenüber Herzog Ulrich zur Hilfe gegen die aufständischen Bauern verpflichtete. Im Gegenzug beschränkte der Vertrag die Macht des Herzogs und räumte den Landständen bedeutende Mitspracherechte bei der Regierung ein. Das „wichtigste Staatsgrundgesetz Altwürttembergs“ (Wilfried Beutter) trägt damit im historischen Rückblick ambivalenten Charakter, denn die verstärkte Partizipation der einen bedeutete die Ausschaltung der anderen - des Gemeinen Mannes, der sich im ganzen Land, ausgehend vom Remstal im Frühjahr 1514, im sog. ‚Armen Konrad‘ gegen die Steuererhöhungen des Herzogs zusammengeschlossen hatte. Andreas Schmauder kennzeichnet deswegen in seinem Festvortrag die Genese des Vertrages bzw. kaiserlichen Schiedsspruches als „Ergebnis einer partiellen Interessenkongruenz zwischen dem Landesherrn und der Führungsschicht der württembergischen Amtsstädte“ (S. 246) und würdigt gleichwohl dessen langfristige Bedeutung im Kontext der Entwicklung von Bürger- und Freiheitsrechten.
Dem ‚Armen Konrad‘ selbst und generell vorreformatorischen Agrarunruhen sind im Tagungsband sieben Beiträge einer ersten Sektion gewidmet: Peter Blickle (†) schlägt, ausgehend von der überragenden Bedeutung des Eides bzw. der ‚Coniuratio‘ im späten Mittelalter als moralischer und organisatorischer Grundlage, eine terminologische Schärfung und Klassifikation der Widerständigkeit von der ‚Unruhe‘ über die ‚Revolte‘ bis zur ‚Revolution‘ vor. An den von ihm angeführten Revolten von Sizilien bis England und Ungarn, vom ausgehenden 13. bis zum beginnenden 16. Jahrhundert, vertieft Blickle seine ‚kommunalistische‘ These: Die Aufstände seien, von Ausnahmen abgesehen, nicht als spezifisch bäuerliche, sondern als gemeindliche, in Stadt und Land gleichermaßen gründende Revolten zu deuten. Ausführlich auf Selbstverständnis, Artikulation (Motive, Zielsetzungen und Programm) sowie Kommunikation im ‚Armen Konrad‘ von 1514 gehen Robert Kretschmar und Peter Rückert ein, die ihren gemeinsamen Beitrag mit einem vorzüglichen Überblick bzw. einer klaren Bewertung (S. 62) abschließen. Daran anschließend legt Robert Kretschmar erstmals die - ausführlich eingeleitete - Edition einer wichtigen Quelle mit „hohe[r] Aussagekraft“ (S. 70) für den Aufstand vor (der Text selbst auf S. 82-96): die drei zwischen Juni und Oktober 1514 entstandenen Berichte des Markgröninger Vogts an den Herzog über Pfarrer Dr. Reinhard Gaißlin, der von ihm nicht nur wegen seiner Predigten als der „geistige Vater des Widerstands in der Amtsstadt“ (S. 70) geschildert wird. Dass Gaißlin indes nicht zu räumlich weiterreichender Bedeutung gelangte, wird als symptomatisch für die defizitären Kommunikationsstrukturen des Aufstandes insgesamt interpretiert.
Anders als der ‚Arme Konrad‘ wurden die Verschwörungen im Zeichen des bäuerlichen Bundschuhs im Elsass und am Oberrhein allesamt aufgedeckt, ehe es zu Aktionen kam. Nach einer Darstellung der Vorgänge in Schlettstadt (1493), Untergrobmach (1502) und Lehen (1513) sowie am Oberrhein (1517) konzentriert sich Klaus H. Lauterbach auf die Reaktionen der Obrigkeiten in Schlettstadt und Untergrombach. Von einer - letztlich doch nicht eingelösten - Absichtserklärung abgesehen, nahmen die Obrigkeiten dabei in keinem Fall die Ursachen wahr, vielmehr verfestigte sich die kriminalisierende Perspektive auf die Empörung.
Die „Bauernaufstände“ in den innerösterreichischen Herzogtümern Steiermark, Kärnten und Krain in den Jahren 1478 und 1515 erklärt France M. Dolinar aus den vielfältigen Belastungen, die das Land aufgrund überregional wirksamer politischer Konflikte, insbesondere der wiederholten Einfälle der Türken, erfuhr. Die bäuerliche Bevölkerung litt direkt unter Plünderungen, Verschleppungen und Zerstörungen, indirekt unter einer hohen und steigenden Steuerlast, während sie bei der Abwehr der Osmanen vielfach auf sich allein gestellt blieb. Die durchgehend gegen die lokalen Herrschaften gerichteten, ja, sich auf den Kaiser berufenden, altrechtlich begründeten Aufstände wurden vom Adel mit besonderer Brutalität niedergeschlagen, ein Umstand, der sie als Erinnerungsort der slowenischen Geschichte - thematisiert in Dichtung, Kunst und Musik am Ende des 19. und vor allem im 20. Jahrhundert - in besonderer Weise prägte. Auch der ungarische Bauernaufstand von 1514 - nach seinem nachmaligen Führer auch als Dózsa-Aufstand bezeichnet - ist vor dem Hintergrund der osmanischen Bedrohung zu verstehen. Márta Fata leistet mit ihrem Aufsatz einen wichtigen Beitrag zur Rezeption des in Deutschland kaum wahrgenommenen Forschungsstandes und begründet ihre These von der „Einmaligkeit des ungarischen Bauernaufstandes“ (S. 152), der aus einer Kreuzzugsunternehmung - „der letzte der europäischen mittelalterlichen Kreuzzüge“ (S. 183) - erwuchs, die der Adel nicht mittrug. Als sich das schlecht versorgte, mittlerweile längst in Bewegung gesetzte Heer von schätzungsweise 40 000 bis 50 000 Mann auf Befehl des Primas von Ungarn, Tamás Bakócz, wieder auflösen sollte, eskalierte die Lage und der Kreuzzug wurde unter dem Einfluss von Franziskanerobservanten und niederem Klerus zum „Aufstand des ‚Gemeinen Mannes‘“ (S. 161) mit sozialrevolutionären Aktionen, aber ohne klare Zielsetzung und keineswegs in ganz Ungarn. Das Aufstandsgebiet - die Tiefebene und die an sie angrenzenden Weinbaugebiete - war durch agrarwirtschaftlichen Aufschwung, z.B. bei Rinderzucht und -handel für Mittel- und Westeuropa, gekennzeichnet, von dem vor allem die Bauern in den Marktflecken profitiert hatten, während der Adel mit unterschiedlichen Mitteln (Natural- statt Geldabgaben, Frondienste und Schollenbindung) danach strebte, die Konjunktur für sich (allein) zu nutzen und die Bauern vom Handel auszuschließen. Mit dem Scheitern des Aufstandes kam der Adel diesem Ziel näher.
Auch im Königreich Schweden kam es zwischen 1434 und 1543 zu Aufständen des Gemeinen Mannes. Ursache war hier, vergleichbar mit Württemberg, aber auch Innerösterreich, die zunehmende steuerliche Belastung der Untertanen. Im Königreich Schweden allerdings richtete sich die Erhebung gegen den König selbst, suchte mit Erfolg Verbindungen z.B. zur Kirche oder zur Bürgerschaft Stockholms, und: der Gemeine Mann - im Kern Bauern und Bergleute der Region Dalarna - agierte hier mit militärischer Stärke von einer auch verfassungsmäßig (weitgehende Freiheitsrechte, Teilnahme an der Königswahl) sehr viel besser etablierten Position aus. Letzteres verstärkte sich im Ergebnis, als 1527 der Bauernstand Kurie des schwedischen Reichstages wurde und es bis 1866 blieb. Werner Buchholz untersucht vor allem die frühen Ereignisse im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts als der entscheidenden Phase des politischen Durchbruchs für den Gemeinen Mann.
Im zweiten Kapitel des Tagungsbandes richten fünf Autorinnen und Autoren ihren Blick speziell auf die „Funktionseliten zwischen ‚Gemeinem Mann‘ und Fürst“. Christian Hesse zeigt auf, wie stark diese sich in den Territorien des Reiches unterschieden - vor dem Hintergrund der württembergischen ‚Vogtsfamilien‘ geschilderte Beispiele sind Hessen, Sachsen und Bayern-Landshut - und führt aus, weshalb auch aus diesem Grund ein zeitgleich zum ‚Armen Konrad‘ in der Landgrafschaft Hessen verlaufender Aufstand dort keine vergleichbaren Folgen zeitigte. Den Vergleich zwischen Württemberg und der Eidgenossenschaft unternimmt André Holenstein, ausgehend von der Untersuchung des sog. Burgunder- oder Dijonerzuges vom Spätsommer 1513 - einer gemeinsamen Militäraktion von eidgenössischen Orten und Herzog Ulrich in Vertretung des Kaisers gegen den französischen König -, um an diesem Beispiel „die Makropolitik für die Erklärung der Unterschiede von mikrohistorischen Konfliktdynamiken“ ins Spiel zu bringen (S. 278). Nina Kühnle weist in ihrem Beitrag noch einmal die ältere Vorstellung von der württembergischen Funktionselite als ‚Ehrbarkeit‘ zurück und konzentriert sich auf die Entwicklung der nicht-adligen Vogts- bzw. Richterfamilien von der urbanen zur „territorialen Elite“ seit dem späten 14. Jahrhundert (S. 296). Deren endgültige Etablierung als Führungsschicht zu Beginn des 16. Jahrhunderts - dabei ihre widersprüchliche Rolle als Landschaftsvertreter und häufig zugleich herzogliche Räte - macht sie als eine tiefere strukturelle Ursache des Aufstandes sichtbar, weil der Gemeine Mann seine Anliegen von dieser Schicht immer weniger vertreten sah. Aus einer theoretisch grundlegenden Perspektive - der Frage nach der Akzeptanz von Herrschaft - beurteilt Georg Moritz Wendt den Armen Konrad (sowie den ‚Kirchheimer Tuchstreit‘ von 1567) im Kontext der württembergischen Herrschaftsverdichtung, und zwar als Ausdruck eines „Fehler[s] im System“, der mangelnden „Interaktion zwischen den Akteuren in einem politischen System im Wandel“ (S. 340). Der Beitrag von Hermann Kamp zur Rolle der Funktionseliten in den burgundischen Aufständen nach dem Tod Karls des Kühnen (5. Januar 1477) schließt die Sektion ab. Die Amtsträger wurden zur „Zielscheibe für den Unmut, ja auch den Hass“ (S. 361), der sich in den Städten gegen die (Steuer-) Politik Karls angestaut hatte, und sie waren nach 1477 geschmeidig genug, sich mit den neuen Herren (Ludwig XI. von Frankreich bzw. dem Habsburger Maximilian I.) zu verbinden, auf deren Seite sie sich stellten - nicht zwischen Fürst und Gemeinen Mann.
Ein Resümee von Niklas Konzen und Barbara Trosse beschließt den in mehrfacher Hinsicht gehaltvollen Tagungsband, der den komparatistischen Anspruch überzeugend einlöst. Gerade jene Beiträge der ersten Sektion, die auch entferntere Regionen thematisieren, haben Raum für eine breite und vertiefte Darstellung und Auseinandersetzung erhalten, um den neuesten, in der deutschsprachigen Forschung nicht immer rezipierten Forschungsstand zu vermitteln. Hervorzuheben ist auch, dass der - im Übrigen sorgfältig redigierte - Band neue Quellen erschließt bzw. in zusätzlichen Editionen und / oder Übersetzungen zugänglich macht.