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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Julia Mattern

Dörfer nach der Gebietsreform. Die Auswirkungen der kommunalen Neuordnung auf kleine Gemeinden in Bayern (1978 bis 2008)

Regensburg 2020, Friedrich Pustet, 328 Seiten
Rezensiert von Gerhard Henkel
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 18.06.2020

Bei der Untersuchung handelt es sich um eine 2017 im Fach Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität zu München abgeschlossene Dissertation. Gleich mit ihren ersten Sätzen beschreibt Julia Mattern die säkularen Eingriffe der kommunalen Gebietsreformen auf das Dorf und die lokale Demokratie: Dorf und Gemeinde waren – in Bayern wie in ganz Deutschland – seit dem Hohen Mittelalter eine unangefochtene Einheit. 2012 feierte man in Bayern 1000 Jahre kommunale Selbstverwaltung! In weitgehender Eigenverantwortung sorgte jedes Dorf als eigenständige Gemeinde für den Ort, die Gemarkung und seine oft nur wenige hundert Einwohner. Das Dorf und die Gemeinde boten Partizipationschancen für hunderttausende engagierte Bürger, sie waren konkrete Lernorte für staatlich-kommunale Zusammenhänge und das Einüben aktiver Demokratie. Trotz vielfach knapper Spielräume dieser kleinen Gemeinden engagierten sich die Entscheidungsträger, Bürgermeister und Gemeinderäte, meist sehr für den eigenen, überschaubaren kleinen Raum, von der Unterbringung der Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum enormen Infrastrukturaufbau der folgenden Jahrzehnte. Die von 1969 bis 1978 in Bayern durchgeführte kommunale Gebietsreform löste weitgehend diese seit dem Mittelalter aufgebaute und bewährte Einheit von Dorf und Gemeinde per Landesgesetz auf, und zwar in insgesamt 5021 Landgemeinden, die aufgelöst und in Groß- bzw. Einheitsgemeinden zusammengefügt wurden. Durch kommunale Gebietsreformen seit den 1960er Jahren haben deutschlandweit über 20 000 Dörfer ihre kommunale Selbstverantwortung verloren. Insgesamt wurden mit den Gebietsreformen über 300 000 ehrenamtliche, demokratisch gewählte Gemeinderäte und Bürgermeister wegrationalisiert, dies sind unschätzbare Verluste für das Dorf und den Staat. Die individuelle und eigenverantwortliche Dorfentwicklung ist damit in der Mehrheit der deutschen Dörfer heute Geschichte.   

Die Arbeit von Julia Mattern erstreckt sich über drei Zeitphasen. Zunächst erfolgt ein Blick auf die ökonomische, infrastrukturelle und kommunale Entwicklung der ausgewählten Dorfgemeinden und Landkreise vom frühen 19. Jahrhundert bis in die 1960er Jahre. Dann wird ausführlich die Phase der eigentlichen „Durchführung“ der Gebietsreform in Bayern zwischen 1969 und 1978 in den untersuchten Dörfern und Landkreisen beschrieben. Im zentralen und ausführlichsten Teil der Dissertation werden schließlich die untersuchten Auswirkungen der kommunalen Neuordnung zum einen auf die eingemeindeten, zum anderen auf die selbständig gebliebenen Gemeinden im Zeitraum von 1978 bis 2008 dargestellt und miteinander verglichen.

Zum methodischen Vorgehen: Im Mittelpunkt der Untersuchungen stehen unterschiedliche Gemeinden im Kontext der Entwicklungen ihrer Landkreise und des Landes Bayern. Insgesamt wurden in drei Landkreisen gelegene sechs Gemeinden bzw. Orte intensiver untersucht. Die Auswahl der sechs Dörfer erfolgte nach zwei Kriterien: Sie sollte gleich groß sein und jeweils um die 1000 Einwohner haben, außerdem sollte jeweils eine eingemeindete und eine selbständig gebliebene Gemeinde in ein und demselben Landkreis liegen.

Im Mittelpunkt der Dissertation stand also die Forschungsfrage, wie sich eingemeindete und im Vergleich dazu selbständig gebliebene kleine Orte nach der Gebietsreform weiterentwickelten. Erreichte die Gebietsreform ihre Ziele, nämlich Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen in Stadt und Land, mehr Effektivität der Verwaltung, mehr Bürgernähe und mehr Selbstverwaltung? Konnten derartige Verbesserungen für Dörfer, die ihre Eigenständigkeit verloren, überhaupt wirksam werden, da sie ja keine eigene Verwaltung und keine eigene Gemeindepolitik mehr hatten? Versorgten die aufnehmenden Gemeinden die eingemeindeten Ortschaften und ihre Bewohner nun schneller und effektiver, als sie es zuvor für sich selbst geleistet hatten? Ergaben sich Vorteile durch mehr finanzielle Mittel zum Beispiel für Infrastrukturmaßnahmen? Oder wurden die Dörfer vom Zentralort marginalisiert, wenig beachtet und gefördert? (S. 56) Wie entwickelte sich die Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungsprozessen? Wie war die Infrastruktur-, die Immobilienwert- und Einwohnerzahlentwicklung?  

Die Quellenlage: Zur Untersuchung der Vorbereitung und Durchführung sowie der Auswirkungen der Gebietsreform wurden zunächst das veröffentlichte Schriftgut staatlicher Stellen, vor allem des federführenden Bayerischen Staatsministeriums des Inneren, genutzt. Die überwiegende Quellenbasis dieser Arbeit lag jedoch in den diversen Archiven der untersuchten Gemeinden und Landkreise. Wichtig waren auch die Protokolle der Bürgerversammlungen, die die konkrete Situation in den Gemeinden wiedergaben. Dazu kamen Presseberichte, Zeitzeugenberichte und vielfältige andere nicht-amtliche Berichte.

Die Autorin beschreibt ausführlich die damaligen staatlichen Begründungen im Vorfeld der Gebietsreform, die teilweise mehrere Jahrzehnte zurückreichten. Sie beschreibt die Vorstellungen der Verwaltungsvereinfachung aus den 1920er Jahren, die in den 1950er Jahren wieder aufgegriffen werden. Sie zitiert den Geographen Walter Christaller, der im Dritten Reich das „Zentrale-Orte-Konzept“ in die Raumordnung eingeführt und zur Grundlage von kommunalen Gebietsreformen gemacht hatte, die dann auch Anfang der 1940er Jahre östlich der Oder erstmals durchgeführt wurden und von ihm in Aufsätzen mit dem „Führerprinzip“, mit „führenden und folgenden Siedlungseinheiten“, begründet wurden. Das in den 1930er Jahren entwickelte Zentrale-Orte-Konzept, das zentrale Orte „festlegte“ und die große Masse der ländlichen Orte und Gemeinden als nicht-zentrale Orte abqualifizierte, wurde nach dem 2. Weltkrieg in Westdeutschland zu einem wesentlichen Steuerungsinstrument der staatlichen Raumordnung und fand in den 1960er Jahren in staatlichen Plänen für ganz Bayern seinen Niederschlag.

Die Durchführung der Gebietsreform wird mit großen Leitbildern und zahlreichen Versprechen vorbereitet und begründet. Insgesamt basierte die Gebietsreform in Bayern nicht auf den Vorstellungen einer wissenschaftlichen Kommission, „sondern auf mehreren Gutachten und Meinungen verschiedener Gruppen aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft, die auf Grundlagen wie der Verwaltungsvereinfachung und eines zentralörtlichen Systems zu der Überzeugung gelangt waren, dass in Bayern eine Gebietsreform durchgeführt werden sollte. Dies war im Wesentlichen die Argumentationskette der Reformer und Planer der Ministerialverwaltung, nicht der Bewohner dieser Gemeinden und Kreise. Von den Kommunen war der Anstoß zur Gebietsreform nicht ausgegangen.“ (S. 21f.) Es herrschte die Meinung vor, man habe ein „Modernitätsdefizit“ und diesem könne man nur mit umfassenden staatlichen Planungen beikommen. Als große Ziele der Reform wurde im zuständigen Ministerium die „Effektivität und Wirtschaftlichkeit der kommunalen Verwaltung“ herausgestellt, außerdem müssten die Lebensverhältnisse im ländlichen Raum verbessert werden, denn die Bürger hätten ein Recht darauf, überall auf dem Land gleichwertige Lebensbedingungen wie in der Stadt vorzufinden.

Kaum 20 Jahre nach dem 2. Weltkrieg lagen kommunale Gebietsreformen im Mainstream der Eliten in Politik und Wissenschaft. Zu mächtig erschien das – inzwischen längst entzauberte − Raumordnungsinstrument der zentralen Orte, das wie ein „wissenschaftliches“ Heiligtum betrachtetet wurde. Man hielt die vielen kleinen Landgemeinden schlicht für rückständig und zu teuer.

Natürlich hat es auch in Bayern starke Einwände und Proteste gegen die Gebietsreform und allzu starre Planungen von oben nach unten gegeben. Auch führende Politiker wie Franz Josef Strauß distanzierten sich von der Gebietsreform und ihren rigiden Eingriffen in die kommunale Selbstbestimmung. Überregional bekannt geworden sind die sog. „Rebellendörfer“ wie zum Beispiel Ermershausen, das schließlich nach einer spektakulären nächtlichen Polizeiaktion mit mehreren hundert Landesbeamten zur Beschlagnahmung der Gemeindeakten - was die ministeriellen Entscheider in München zur Besinnung brachte - seine kommunale Freiheit retten konnte.

Julia Mattern beschreibt die sehr unterschiedliche Durchführung von Gebietsreformen in Deutschland, wo zum Beispiel in Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz die kleinen Gemeinden weitestgehend bis heute Bestand haben und ihre Verwaltung in Amts- bzw. Verbandsgemeinden koordinieren. In anderen Bundesländern wie auch in Bayern wurden unterschiedliche Formen von Gemeindeverbänden eingeführt. Der Blick in europäische Nachbarländer zeigt, dass zum Beispiel die Schweiz und Frankreich auf eine Veränderung der kleinteiligen kommunalen Ebene verzichtet haben.

Ein wesentlicher Teil der Arbeit betrifft den konkreten Ablauf der Gebietsreform in den untersuchten Gemeinden. Hier werden die verschiedenartigsten Beratungen der alten Gemeinderäte, die Verhandlungen mit benachbarten Gemeinden, die strikten ministeriellen Vorgaben oder auch die diversen finanziellen „Lock- und Druckangebote“ aus München für eingemeindungswillige Gemeinden und nicht zuletzt die Einwendungen und Proteste der Gemeinderäte und Bürger gegen die drohende Eingemeindung ausführlich und zitatenreich dargestellt. Die kritischen Stimmen, Alternativvorschläge und Proteste an der Basis, in den Gemeinderäten und bei den Bürgern, wurden von den Verfechtern der Reform kalt abgewiesen und mit negativ gefärbten Vokabeln wie Lokalpatriotismus und Kirchturmdenken abgetan.

In den von einer Eingemeindung betroffenen Gemeinden herrschte in der Regel Unverständnis, Wut und schließlich Resignation. Auch wenn die untersuchten Dörfer nicht zu den überregional bekannten „Protestdörfern“ in Bayern zählen, ist anhand der Quellen deutlich der Unmut über die Gebietsreformmaßnahmen, über die Missachtung des dörflichen Willens zur Selbständigkeit und über das Streben benachbarter Gemeinden nach Vergrößerung des Einflussbereiches klar zu erkennen. Der Bürgermeister von Konstein spricht für viele, wenn er sagt: „Wenn wir nun in ein anderes Dorf aufgehen, dann geschieht das nicht, weil wir unfähig sind, uns selbst zu verwalten, sondern weil das Gesetz einfach den Galgenstrick gelegt hat.“ (S. 124) Die Autorin resümiert knapp: Der Plan der Reformer wurde, wie für andere Gemeinden, ob sie wollten oder nicht, auch in Konstein durchgezogen. Die Ausweglosigkeit der Situation veranlasste aber auch einzelne Gemeinden zur schnellen Zustimmung für die geplante Eingemeindung. Man wollte sich die versprochenen Finanzmittel für ihr Dorf sichern und hatte wohl auch die Einschätzung – angesichts der Stimmungsmache in Politik und Medien −, dass es vor der Eingemeindung kein Entrinnen gebe und man sich zumindest die in Aussicht gestellten Finanzmittel sichern sollte. Angesichts der seitens des Landes aufgebauten Drucksituation herrschte in den meisten Dörfern und Landgemeinden ein wechselndes Auf und Ab von Aktivitäten und oft wechselnden Taktiken, um für das eigene Dorf das Beste herauszuholen, und von Resignation gegenüber der staatlichen Übermacht.

Die Auswirkungen der Gebietsreform nach ihrem Abschluss im Jahr 1978 in den drei Jahrzehnten bis zum Jahr 2008 nehmen den größten und wohl auch wichtigsten Teil der Arbeit ein (S. 146-287) Die Autorin vergleicht die Entwicklung zwischen den eingemeindeten und selbständig gebliebenen Dörfern anhand der fünf Kategorien kommunalpolitisches Engagement/Repräsentationsgrad, effizienter Wirtschaften/kommunale Finanzen, Baupolitik und Bevölkerungsentwicklung, Infrastrukturentwicklung sowie kommunale Identität.  Die Ergebnisse zeigen deutliche Verschlechterungen der Verhältnisse in den eingemeindeten Dörfern gegenüber den selbständig gebliebenen. Das kommunalpolitische Engagement erhielt in den eingemeindeten Orten durch den nun fehlenden eigenen Gemeinderat und Bürgermeister und die gewachsene Distanz zwischen Kommunalpolitikern und Bürgern einen Dämpfer und erholte sich auch nicht mehr. In den selbständig gebliebenen Dörfern änderte sich deutlich weniger. Der Repräsentationsgrad – ein lokaler Gemeinderat je Bürger – lag vor der Gebietsreform bei einem Verhältnis von etwa einem Kommunalpolitiker zu 100 Bürgern, er verschlechterte sich in den eingemeindeten Dörfern auf 1:825 oder 1:944, also auf das fast 10-fache. Die nun fehlende lokale Selbstverantwortung führte dazu, dass sich hier immer weniger Bürger für ein kommunalpolitisches Amt zur Verfügung stellten.

Vor der Gebietsreform hatten die meisten Dorfgemeinden Finanzhoheit. Mit der Gebietsreform wurde ihnen die Fähigkeit abgesprochen, effizient wirtschaften zu können. Das Argument der Gebietsreformer lautete: große Einheiten können effizienter wirtschaften als kleine. Sowohl für ihre Untersuchungsgemeinden als auch im Blick auf ganz Bayern stellt die Autorin dagegen ein sparsameres Wirtschaften der kleineren Gemeinden fest: Die kleineren Gemeinden haben eine geringere Pro-Kopf-Verschuldung als die größeren. Auch bei den Personalkosten haben kleine Gemeinden pro Kopf weniger Geld ausgegeben als große.

Die für Dörfer lebenswichtige Bau- und Gewerbeentwicklung stagnierte nach der Gebietsreform in den eingemeindeten Orten. Die selbständig gebliebenen Orte hatte es leichter, Baugebiete auszuweisen. Experten sprechen von einem „Baustopp“ für eingemeindete Orte. Dies hatte Konsequenzen für die Einwohnerentwicklung. Eingemeindete Orte hatten größere Bevölkerungsverluste zu verzeichnen als die selbständig gebliebenen Orte. Die Autorin beklagt, dass für die eingemeindeten Dörfer keine Daten mehr erhoben werden. Sie verschwinden aus der statistischen Wahrnehmung. Will der „Staat“ auch damit das Nachdenken über die kleinen Orte verhindern? In manchen Bundesländern besteht auch keine staatliche Verpflichtung mehr, Gemeindechroniken zu erstellen. Der Staat hat offenbar auch kein Interesse mehr daran, dass das lokale Geschichtsbewusstsein in den Dörfern gepflegt wird.

Die Bodenrichtwerte, die die Durchschnittspreise der verkauften Grundstücke angeben, sind ein wichtiger Gradmesser der Beliebtheit eines Ortes. Nach der Gebietsreform blieb der Wert von Grund und Boden in den eingemeindeten Dörfern zurück. Die Gebietsreform setzte also einen Prozess zur Umlenkung von Vermögen in Gang, der selbständige Gemeinden begünstigte und eingemeindete benachteiligte. Durch weniger intensiv betriebene Baulandpolitik, niedrigere Einwohnerzahlen und niedrigere Bodenrichtwerte ergibt sich so ein Bild einer deutlich schlechteren Entwicklung für eingemeindete Dörfer nach der Gebietsreform.

Die Untersuchung wichtiger öffentlicher Bauten wie Begegnungsstätten, Mehrzweckhallen, Schulen, Rathäuser, Freibäder, Sportplätze und Spielplätze erbrachte eine deutliche Bevorzugung der selbständig gebliebenen Dörfer gegenüber den eingemeindeten. „Die Orte, die ihre Selbständigkeit verloren hatten, verharrten auf dem Stand vor der Reform.“ Nur durch ein großes Engagement der Bürger konnten hier alte Schulen und Rathäuser „gerettet“ und mit neuem Leben erfüllt werden.

Ausführlich beleuchtet die Autorin die kommunale Infrastruktur wie Wasser- und Abwasserversorgung, Straßen- und Wegenetz, Bahn- und Busverbindungen sowie Poststellen in den drei Jahrzehnten vor der Gebietsreform und im Vergleich dazu in den 30 Jahren danach von 1978 bis 2008. Es wird deutlich, dass die grundlegende Infrastruktur in den Dörfern wie Straßen- und Wegebau, Wasser- und Abwasserversorgung, Schulen, Rathäuser, Gemeindehäuser und Baugebiete bereits vor der Gebietsreform geschaffen wurden. Eine funktionierende Trinkwasserversorgung war in allen Untersuchungsgemeinden bereits vor der Gebietsreform vorhanden. Viel Sachverstand, Arbeit und Geld waren also bereits von den ehemaligen Dorfgemeinden investiert worden. Das wird oft vergessen. Häufig geschahen diese größeren Versorgungsleistungen mit Hilfe von übergemeindlichen Zweckverbänden, was aus heutiger Sicht eine durchaus „moderne“ interkommunale Interessengemeinschaft mit guten Synergieeffekten darstellt. Die damaligen Gebietsreformer plädierten für eine Abschaffung dieser Zweckverbände und versprachen viel Geld für noch nicht ganz zu Ende geführte Maßnahmen der Abwasserentsorgung und des Wegebaus.

Nicht zuletzt befasst sich Julia Mattern mit der kommunalen bzw. dörflichen Kulturpolitik. Sehr stark litten die Dörfer darunter, dass ihre Dorfnamen auf Schildern, in Urkunden und der postalischen Adresse wegfielen. Durch Proteste bei der Deutschen Post erreichte man schließlich, dass der Dorfnamen ein Teil der Adresse bleiben kann. Viel Unmut entstand auch durch das Beseitigen alter historischer Straßenbezeichnungen wie Ringstraße oder Alte Trift, da diese in den neuen Großgemeinden mehrfach vorkamen und nun nur noch in einem Ort bestehen bleiben durften. Vor der Gebietsreform hatte jede Gemeinde Kulturförderung betrieben. Nach der Gebietsreform fehlte in den eingemeindeten Dörfern nicht nur die politische Zentrale, es drohte auch das Gefühl einer Gemeinschaft verloren zu gehen, die zuvor durch ein eigenständiges Gemeinwesen repräsentiert worden war. Vielerorts entstanden daher bald neue Bürgervereine, die sich für die Belange der Dorfgemeinschaft verantwortlich fühlten.

In einem knappen Fazit fasst die Autorin ihre Untersuchungen der Gebietsreform in Bayern zusammen und bewertet diese (S. 288-294). Das Hauptziel der kommunalen Gebietsreform, auf dem Land gleichwertige Lebensbedingungen wie in der Stadt zu schaffen, wurde nur für die selbständig gebliebenen Dörfer erreicht. Für die große Masse der bayerischen Dörfer, insgesamt 5021, die ihren Gemeindestatus per Eingemeindung verloren, traf eine gegenläufige Entwicklung ein. Sie sind die großen Verlierer der Gebietsreform. Mit ihren Kernanalysen konnte die Autorin belegen, dass sich die selbständig gebliebenen Dörfer nach der Gebietsreform in Bezug auf ihre Baulandausweisungen und Bevölkerungszahlen sowie ihre Infrastruktur und Immobilienwerte besser entwickelten als die eingemeindeten Dörfer. Die „Vernichtung lokaler Autonomien“ führte zu einer Verdrängung zehntausender Kommunalpolitiker aus ihren Ämtern, bundesweit über 300 000, und damit zur Verringerung bis zum vollständigen Fehlen der Vertretung kleinerer Orte in den neuen Großgemeinden und damit zu einem deutlichen Demokratieverlust an der Basis des Staates. Durch den Wegfall der lokalen Selbstverantwortung ließ das Engagement der Bürger in vielen eingemeindeten Dörfern nach. Andererseits ist in manchen eingemeindeten Dörfern inzwischen die Erkenntnis gewachsen, dass der Einsatz der Bürger (z.B. in neuen „Bürgervereinen“ als Ersatz für die alten Gemeinderäte), umso wichtiger geworden ist, weil sich die Rahmenbedingungen für ihr Dorf durch die Gebietsreform so massiv verschlechtert haben.

Die ersten kritischen Reflexionen zu den Gebietsreformen kamen in Politik und Wissenschaft bereits kurz nach deren Abschlüssen Ende der 1970er Jahre. Sie begannen mit der Entzauberung des Zentrale-Orte-Modells als eines Raumordnungs-Konstrukts der späten 1930er und frühen 1940er Jahre, das niemals wissenschaftlich begründet war, das vom Geist einer Diktatur geprägt ist und dem leichten Durchsteuern des Staates bis ins letzte Dorf dient und nicht dem Subsidiaritätsprinzip entspricht, das heute unsere Demokratie prägen soll. Der Rezensent veranstaltete 1986 und 1990 als Leiter des interdisziplinären Arbeitskreises Dorfentwicklung zwei vielbeachtete Dorfsymposien, wobei vor allem die Rolle der Wissenschaft und die Belange der Bürger in den Fokus gestellt wurden.

Es ist erfreulich, dass die negativen Folgen der kommunalen Gebietsreformen in jüngerer Zeit immer mehr in den Fokus neuer wissenschaftlichen Untersuchungen gelangen. So konnte bereits Felix Rösel vom ifo- Institut in Dresden seit 2016 in mehreren Studien nachweisen, dass Gebietsreformen keine finanziellen Einsparungen erbracht haben, was in der Regel zu den wichtigsten Argumenten vorher gezählt hatte.

Die ausgewogene und tiefschürfende Untersuchung von Julia Mattern belegt nun weitere gravierende Verluste durch die Gebietsreform. Die eingemeindeten Dörfer haben nachhaltige Schwächungen in ihrer Bauland-, Infrastruktur-, Einwohnerzahl- und Immobilienwertentwicklung erfahren, außerdem ist das demokratische Mitwirken der Bürger massiv zurückgedrängt worden. Das Buch zeigt uns die generellen Vorteile des kleinen selbständigen Dorfes, das sich besser entwickelt als das gleich große eingemeindete Dorf. Ein Nachdenken über eine Reform der dorffeindlichen kommunalen Gebietsreformen wird nun immer dringender.

Die hier vorgelegte Arbeit ist ein wichtiger Meilenstein in der kritischen Auseinandersetzung mit der einst als Jahrhundertreform angedachten kommunalen Neuordnung. Sie zeigt, dass diese überwiegend nach Steuerungskriterien des Staates, d.h. des Bundes und der Länder, mit Dekreten von oben nach unten durchgeführt wurde. Nicht beachtet wurden die elementaren Funktionen der dörflichen Gemeinde als unmittelbares Lebensumfeld und Handlungsspielraum der Bürger, als Bezugsort räumlicher Identität und als Lern- und Aufgabenfeld demokratischen und solidarischen Handelns. Gebietsreformen haben der großen Masse der Dörfer in Bayern wie in ganz Deutschland erheblichen Schaden zugefügt und damit auch die demokratische Basis des Staates geschwächt. Das Buch sollte in allen Ministerien des Bundes und der Länder zur Pflichtlektüre gemacht werden, damit den Dörfern und Landgemeinden wieder mehr Respekt, Unterstützung und Gestaltungsfreiheit eingeräumt wird, um der offenkundigen Demokratie- und Politikverdrossenheit auf dem Lande entgegenzuwirken.

Zeitgleich mit den Gebietsreformen hat der gestaltungsversessene Staat in den 1960er und 1970er Jahren mit großem Aufwand und externen Experten Dorfbäche begradigt und verrohrt sowie Dorfstraßen für den Fernverkehr „autogerecht“ umgestaltet. 20 bis 30 Jahre später sah sich hat der Staat dagegen gezwungen, umfangreiche und wiederum aufwendige Revisionsprogramme aufzulegen und Dorfbäche wieder zu „befreien“ sowie Dorfstraßen wieder zurückzubauen und auf die Bedürfnisse der Dorfbewohner abzustimmen. Die eindeutigen Verlustbilanzen, die Julia Mattern für die eingemeindeten Dörfer aufzeigt, sind ein Signal an den Staat, in gleicher Weise die dorffeindlichen Gebietsreformen ins Visier zu nehmen und „zurückzubauen“. Der Staat würde damit dreierlei erreichen: Er würde dem Dorf seine Kompetenz, seine Kraft und seine Gestaltungsfreiheit und zugleich sich selbst seine demokratische Basis zurückgeben. Die 1000fach „befreiten“ und nun wieder selbstverantwortlichen Dörfer würden auf dem Lande in Bayern und ganz Deutschland das Subsidiaritätsprinzip wiederaufleben lassen und einen großen kulturellen, ökonomischen und demokratischen Entwicklungsimpuls auslösen.