Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Lisa Riedner

Arbeit! Wohnen! Urbane Auseinandersetzungen um EU-Migration. Eine Untersuchung zwischen Wissenschaft und Aktivismus

Münster 2018, editon assemblage, 358 Seiten, ISBN 978-3-96042-039-2
Rezensiert von Jens Adam
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 30.06.2020

Bereits 1999 äußerte Saskia Sassen in ihrem Buch „Guests and Aliens“ ihre Verwunderung über die fehlende Anerkennung der wachsenden Unvereinbarkeit zwischen internationalen Handelsabkommen, die auf eine Neutralisierung von Grenzen ausgerichtet sind, und Migrationspolitiken, die zeitgleich den Ausbau und eine immer umfassendere Kontrolle von Grenzen intendieren. Innerhalb dieser globalen Dynamik stellt die Europäische Union einen besonderen Fall dar. Denn hier wurde die migrationspolitische Abschottung an den Außengrenzen mit einem Abbau innerer Grenzen nicht nur für Waren, Dienstleistungen und Kapitalien, sondern auch für Personen kombiniert. Zumindest für den Laienverstand gehört die „Freizügigkeit“ entsprechend zum Kernbestand der Rechte, über die jede_r EU-Bürger_in verfügt. Aber gilt dieses Recht tatsächlich für alle Bevölkerungsgruppen im gleichen Maße? Wird es in seiner konkreten Ausübung nicht vielleicht doch durch gegenläufige nationalstaatliche oder auch kommunale Setzungen eingeschränkt? Mit welchen Widerständen haben etwa ärmere Migrant_innen, die aus den deindustrialisierten Peripherien in die wohlhabenden ökonomischen Zentren des zeitgenössischen Europa wandern, zu kämpfen?

Solche Fragen bilden den Hintergrund von Lisa Riedners Studie, die auf ihre an der Universität Göttingen entstandene Dissertation zurückgeht. Im Kern zeichnet sie nach, wie die Freizügigkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen – Arbeiter_innen aus Südosteuropa – urbanen Öffentlichkeiten, kommunalen Behörden und Entscheidungsträger_innen in München zum „Problem“ wird. Hierbei geht es Riedner nicht um die Analyse einer objektiv gegebenen Problemlage und die sich daran anschließenden mehr oder weniger erfolgreichen Lösungsversuche durch städtische Autoritäten. Im Einklang mit Perspektiven einer zeitgenössischen kritischen Migrations- und Grenzregimeforschung untersucht sie stattdessen zum einen die Bedingungen und den Verlauf einer „Problematisierung“, also des medialen und politischen Prozesses, in dem ein zunächst einmal neutraler Sachverhalt aus dem urbanen Alltag herausgehoben und als anormal, intolerabel, bedrohlich und somit problematisch markiert wird. Zum anderen analysiert Riedner die politischen Rationalitäten, Regierungstechniken und Regulierungsversuche, die sich im Zuge der Bearbeitung dieser neuen Problemlage durch Behörden und kommunalpolitische Akteur_innen sukzessive herausbilden und neu verschränken.

Den ethnografischen Ausgangspunkt der Studie bildet eine Straßenkreuzung im Münchner Bahnhofsviertel. Hier trafen sich im Zeitraum von Riedners empirischer Forschung (2010‑2013) regelmäßig Arbeiter_innen aus Südosteuropa, um Kontakte zu knüpfen, sich auszutauschen und insbesondere, um ihre Arbeitskraft potenziellen Arbeitgeber_innen, etwa aus dem Bau- oder Reinigungsgewerbe, anzubieten. Dieser Straßenzug steht auf dreierlei Weise im Zentrum von Riedners Untersuchung: Zunächst handelt es sich ganz praktisch um den Ort, an dem sie sowohl als Ethnografin als auch als Aktivistin einer zivilgesellschaftlichen Initiative, die sich für die Rechte migrantischer Arbeiter_innen einsetzt, Personen mit ihren individuellen Migrationsprojekten und ihren häufig prekären Arbeits- und Lebensbedingungen kennenlernte. Zweitens untersucht Riedner das Auftauchen und die wachsende Vehemenz eines medialen Diskurses, der diesen urbanen Ort zunächst entdeckt, als „Tagelöhnermarkt“ oder „Arbeiterstrich“ markiert und im Zuge einer zunehmenden Mobilisierung unterschiedlicher rassistischer Motive sukzessive als „Fremdkörper und Störfaktor“ (7) aus der Stadtgesellschaft herausschreibt (Kapitel 3). Und drittens konzipiert sie diesen Treffpunkt – den sie in Abgrenzung zu den erwähnten, allmählich hegemonial werdenden Figuren als „selbstorganisierten Arbeitsmarkt“ bezeichnet – als Teil einer translokal verzweigten „sozialen Formation“ (39), deren Untersuchung Einblicke in grundlegende Antagonismen, in Ein- und Ausschlüsse des zeitgenössischen Kapitalismus ermöglicht. Denn entlang der zumeist prekären Position der migrantischen Arbeiter_innen lassen sich laut Riedner zum einen Ausbeutungszusammenhänge (21 ff., 90 ff.) herausarbeiten, die in den häufig kurzfristigen und informellen, schlecht abgesicherten Arbeitsverhältnissen des Niedriglohnsektors besonders deutlich zutage treten – einem Sektor, der trotz der verbreiteten Geringschätzung, die den Arbeiter_innen entgegenschlägt für das Funktionieren zeitgenössischer urbaner Ökonomien von großer Relevanz ist (206). Zum anderen verweigert sich Riedner einer vielleicht naheliegenden Reduzierung der Migrant_innen auf den Status von Opfern der widrigen Verhältnisse. Stattdessen fokussiert sie ihr widerständiges Verhalten, ihre Kämpfe am Arbeitsplatz, mit städtischen Bürokratien oder vor Gericht und somit ihre eigensinnigen „(Alltags-)Praktiken des Entziehens und Entfliehens“ (53) als mitunter unsichtbare politische Handlungsformen (80 ff.) und gestalterische Dynamiken des urbanen Zusammenlebens. Diese doppelte Perspektive auf „die komplexen Auseinandersetzungen in München, in denen die EU-migrantischen Arbeiter*innen zu Objekten der Verwertung und des Regierens gemacht werden, aber gleichzeitig für ein besseres Leben kämpfen“ (32) bildet eine durchgängige Klammer der gesamten Studie.

Dem Begriff des „Kampfes“ kommt dabei eine zugleich konzeptionelle wie auch methodologische Rolle zu. Grundlegend ist hierfür, dass Riedner ihre Arbeit als eine „ethnografische Regimeanalyse“ (55 f.) versteht. Den analytischen Rahmen bilden hier also „Regime“, in Riedners Verständnis „Aushandlungsfelder“, die „sowohl die Versuche des Regierens wie auch Auseinandersetzungen um sie und Widerstandsbewegungen gegen sie“ umfassen (52). Aus dieser Perspektive erscheinen die Herausbildungen sowohl von politischen Subjekten als auch von wirkmächtigen Kategorien wie etwa „Migration“ oder von diskursiven Figuren wie „Tagelöhnermarkt“ immer als umstrittene Produkte dieser translokal verflochtenen, vielschichtigen Regime (54). Hier situierte Kämpfe gegen rassistische Zuschreibungen und Ausgrenzungen, um Arbeitnehmer_innenrechte, um Wohnraum oder Zugänge zu sozialen Sicherungssystemen versteht Riedner vor diesem Hintergrund nicht als bloße empirische Untersuchungseinheiten, sondern sie verweisen auf ihr methodisches Grundprinzip: Ihr Anspruch besteht darin, sich sowohl forschungspraktisch als auch politisch „mit den Kämpfen und Praktiken der migrantischen Arbeitnehmer*innen (zu positionieren)“ (58), an diesen auch selbst aktiv teilzunehmen und in der Konsequenz beispielsweise ihren Interviewpartner_innen nicht „neutral“ gegenüberzutreten, sondern sie dezidiert zu konfrontieren (62). Diese mit „Konflikt als Methode“ überschriebene Herangehensweise ermöglicht es, die hegemonialen Blickregime, in denen die Praktiken, Forderungen oder bereits die reine Anwesenheit von Migrant_innen zum Problem werden, umzudrehen. Stattdessen schaut sie „aus der Perspektive der Kämpfe“ auf eben jene Prozesse der Problematisierung sowie auf die hiermit verbundenen Versuche eines politischen Regierens von Migrant_innen (56 ff.).

Diese Perspektive führt Riedner zu einer bemerkenswerten Vielfalt an ethnografischen Konstellationen: zu Razzien der Polizei oder des Zolls im Bahnhofsviertel (142 ff.), zu Runden Tischen zur wachsenden urbanen Wohnungsnot (201 ff., 229 ff.), zu den kleinteiligen Auseinandersetzungen von Migrant_innen mit Sachbearbeiter_innen in städtischen Behörden (177 ff., 286 ff.), zu den wechselvollen Verhandlungen zur Frage der mit der EU-Bürgerschaft verbundenen sozialen Rechte vor dem Europäischen Gerichtshof (240 ff.) sowie zu der Petition einer lokalen Bürgerinitiative (114 ff.) oder einem Positionspapier des Deutschen Städtetages (278 ff.), die jeweils die Figur der „Armutszuwanderung“ mobilisierten, um vor einer mutmaßlichen „Gefährdung des sozialen Friedens“ in städtischen Räumen zu warnen. Ausgehend von diesen Konflikten und Aushandlungszonen fragt Riedner nach den Verschränkungen und Verschiebungen zwischen verschiedenen politischen Feldern und Problemlagen und zeichnet hierdurch die Entstehung eines „umkämpften Patchworks an Versuchen des Regierens“ (235) der EU-Binnenmigration in München nach.

So gelingt es der Autorin etwa, die sukzessive Konfigurierung des informellen Arbeiter_innentreffpunktes als Gegenstand urbaner Sicherheitspolitiken herauszuarbeiten (Kapitel 3 u. 4). In einem anderen Strang zeichnet sie die transversalen Verschränkungen von „Bürgerschaft“ nach, die sich gerade entlang der Auseinandersetzungen um Migration herauskristallisieren. Einen Ausgangspunkt bilden hierbei intellektuelle Hoffnungen, aus einem „urban citizenship“ könne sukzessive eine postnationale kosmopolitische Demokratie erwachsen (174). Riedners ethnografische Befunde hierzu sind ernüchternd. Anhand vieler Beobachtungen verdeutlicht sie, in welch starkem Maße die Gewährung von „Zugehörigkeit“ auch in einer zeitgenössischen Stadt von nationalstaatlichen und europäischen Regelungen durchzogen bleibt. Die Relevanz von Städten als migrationspolitischen Akteuren wächst dabei gerade in der kreativen Bearbeitung der Widersprüche zwischen der deklarierten EU-Freizügigkeit und einem nun schon seit einigen Jahren deutlich wiedererstarkenden Nationalprotektionismus (306). Vor diesem Hintergrund verfolgt die Studie etwa die lokalen Effekte des bundespolitisch beschlossenen Ausschlusses von arbeitssuchenden EU-Bürger_innen von der Hartz IV-Grundsicherung (194, 282 ff.). Solche sozialpolitischen Einschränkungen führen demnach weniger zu der politisch intendierten „Abschreckung“ einer „Armutszuwanderung“, sondern vielmehr zur weiteren Prekarisierung eines städtischen Subproletariats und der Schaffung von urbanen Zonen der extremen Armut, Entrechtung und des „differenzierten Ausschlusses“ (285), in denen sich Ausbeutungsverhältnisse multiplizieren. Die Studie dokumentiert, dass die Kommunalpolitik hinter der Etablierung und Ausgestaltung eines offenen Konzepts von Stadtbürgerschaft, das alle anwesenden Personen als Münchner_innen einbezieht, zurückbleibt und stattdessen eine Vervielfältigung und Ausdehnung kleinteiliger urbaner Grenzregime herbeiführt. Eine Stärke der Studie liegt in der akribischen Analyse der vielschichtigen Ausschlüsse von der Stadtgesellschaft, die in medialen Debatten, Runden Tischen, in der administrativen Bearbeitung – und häufigen Ablehnung – von Anträgen auf Sozialleistungen und selbst in einem eigentlich progressiv gedachten städtischen Integrationskonzept produziert werden. Riedner zeichnet hier das Auftauchen und die Etablierung neuer, post- oder neoliberaler Rassismen (15 ff., 123) nach, die zwar Diversität als ein Grundprinzip zeitgenössischer Stadtgesellschaften akzeptieren, aber zwischen einer „wünschenswerten“ und einer „bedrohlichen“ Vielfalt, zwischen „produktiven“ und daher willkommenen und „unproduktiven“ und daher abzuwehrenden Migrant_innen scharfe Trennlinien verlegen. Die ethnografisch dichten und analytisch scharfsichtigen Beobachtungen zu den Verschränkungen solcher neuen gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien mit altbekannten Figuren des Rassismus einerseits und den Anforderungen eines aktivierenden zeitgenössischen Arbeitsregimes andererseits im Zuge des Regierens von Migration bieten einen bleibenden Gewinn der Lektüre dieser herausragenden Studie.