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Barbara Sieferle

Zu Fuß nach Mariazell. Ethnographie über die Körperlichkeit des Pilgerns

(Innsbrucker Schriften zur Europäischen Ethnologie und Kulturanalyse 4), Münster/New York 2017, Waxmann, 300 Seiten mit 2 Abbildungen, ISBN 978-3-8309-3683-1
Rezensiert von Christine Bischoff
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 30.06.2020

Martin Luther soll das „Geläuff“ zuwider gewesen sein. Er vertrat die Auffassung, dass Äußerlichkeiten wie Pilgern oder Wallfahrten ohne innere Glaubensbeteiligung der Seele nichts nutzen [1]. Trotzdem sind schon lange nicht mehr nur gläubige Katholik*innen, sondern auch Protestant*innen, Atheist*innen, Agnostiker*innen oder Buddhist*innen auf den zahlreichen europäischen Wallfahrts- und Pilgerrouten unterwegs. Genau solchen disparaten Pilgergruppen und ihren unterschiedlichen Motiven widmet sich Barbara Sieferle in ihrer Dissertation „Zu Fuß nach Mariazell. Ethnographie über die Körperlichkeit des Pilgerns“, mit der sie im selben Jahr an der Universität Innsbruck im Fach Europäische Ethnologie promoviert wurde.

Im Zentrum der ethnografschen Studie stehen Menschen, die zu Fuß nach Mariazell, dem bedeutendsten Wallfahrtsort Österreichs, pilgern. Sieferle hat für ihre Feldforschung, für die sie eine Förderung des Sonderforschungsbereichs „Politik, Religion, Kunst“ an der Universität Innsbruck erhalten hat, mehrere Pilgergruppen intensiv begleitet und stellt die körperlichen Dimensionen dieses Tuns und Erlebens in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung. Dazu greift sie vor allem phänomenologische und praxisorientierte Ansätze der kulturanthropologischen Körperforschung auf und analysiert Religiosität, Naturverbundenheit, Sportivität und Kompetitivität, aber auch Vergemeinschaftung, die alle mit dem Pilgern einhergehen können, als zentrale Gesichtspunkte dieser vielschichtigen Praxis. Methodisch legt sie dabei neben Gesprächen ein besonderes Gewicht auf die teilnehmende Beobachtung, da sie davon ausgeht, dass körperliche Praktiken und Erfahrungen oft nur schwer verbal-sprachlich artikuliert werden können und es deshalb eines empathischen Zugangs bedarf, der durch das Teilen und Miterleben sozialer Situationen auch nichtsprachliche Aspekte besser nachvollziehbar macht (60 f.). Entsprechend versteht Sieferle ihre Studie als Beitrag zu einer kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Körperforschung, die für die Rolle des Körpers in der Konstitution sozialer Wirklichkeit sensibilisiert und damit über das einzelne Fallbeispiel des Pilgerns nach Mariazell hinausweist (10 f.).

Mit dem Aufbau der Arbeit folgt Sieferle dem chronologisch-dramaturgischen Ablauf einer Pilgerreise. In den beiden ersten Kapiteln zeichnet sie ausführlich ihre theoretischen Vorannahmen und die Entwicklung der europäisch-ethnologischen Pilgerforschung nach und stellt die ethnologische Feldforschung als das von ihr gewählte methodische Vorgehen vor, wobei sie sich immer wieder dezidiert von bisheriger Forschungsliteratur abzugrenzen versucht. Kapitel 3 beginnt mit den Vorbereitungen und dem Aufbruch des Pilgerns, die Autorin folgt den ersten Schritten der Pilger*innen auf ihrem Weg nach Mariazell und benennt verschiedene Motive der Teilnehmenden. In den Kapiteln 4 und 5 stellt Sieferle das Gehen zu Fuß als zentrale Praxis des Pilgerns heraus und kontrastiert die Erfahrungen von Anstrengung und Leichtigkeit, die die Pilger*innen machen. In Kapitel 6 verbindet sie das Pilgern mit dem durchschrittenen und durchwanderten Raum und legt dar, wie die Pilger*innen durch das Gehen entlang der Wege spezifische Pilgerräume wahrnehmen und überhaupt erst produzieren. Im Folgekapitel 7 wird das Pilgern als vergemeinschaftende und zugleich kompetitive Praxis erläutert, die durchzogen ist von Kollektiverlebnissen (gemeinsamen Mahlzeiten, Übernachten in Schlaflagern etc.), aber auch von Leistungsvergleichen (Ausdauer, Geschwindigkeit etc.). In Kapitel 8 erfasst und erschließt die Autorin mithilfe ihrer Beobachtungen die unterschiedlichen Vollzugsarten des Pilgerns, die sie als „Pilgerstile“ bezeichnet (212 ff.) und nimmt damit auch begriffliche und definitorische Einordnungen und Unterscheidungen zwischen Pilgern und Wallfahren, zwischen Pilgern und Wandern, zwischen „religiös“, „spirituell“ und „sportlich“ vor und zeigt, wie sich diese überlagern können. Sieferle ist dabei wichtig, dass diese „Pilgerstile“ für soziale Akteur*innen nur in Abgrenzung zu anderen Stilen ihre volle Bedeutung entfalten (212). Mit Kapitel 9 nähern sich die Leser*innen dem Ende der Pilgerreise: Die Pilger*innen erreichen Mariazell und die Autorin beschreibt die dort vollzogenen Praktiken (u.a. Teilnahme am Gottesdienst, letzte gemeinsame Mahlzeit, Verabschiedung vom Pilgerort und von der Pilgergemeinschaft) und die damit verbundenen Emotionen. Im abschließenden Kapitel 10 betont sie, dass sie in späteren Gesprächen erfahren hat, dass die Pilgerwanderung auch nach ihrem Ende im Alltag der Pilger*innen präsent ist und der Körper dabei „als zyklische Verbindung der Vergangenheit [mit] Gegenwart und Zukunft“ dient, indem „sich Pilgerinnen im gegenwärtigen Moment des Erinnerns körperlich der vergangenen Pilgerwanderung zuwandten und sich in der Planung einer zukünftigen Pilgerwanderung an ihren (körperlichen) Vorerfahrungen orientierten“ (268).

Barbara Sieferle gelingt mit dieser sprachlich schön gestalteten ethnografischen Studie, was sie sich vorgenommen hat: Anschaulich beschreibt sie die Erfahrungswelten der Akteur*innen während des Pilgerns und wie der Körper dabei zentraler Ausgangspunkt der Konstituierung und Erfahrung sozialer Wirklichkeit ist. Sie schafft es, das Phänomen Fußpilgern als Verkettung verschiedener Praktiken, die sowohl aus sichtbaren als auch unsichtbaren Bewegungen und Tätigkeiten des Körpers bestehen, darzustellen und zu analysieren. Die Schwierigkeit, gerade diese Praktiken des „Know-Hows“ zu verbalisieren, macht das Plädoyer Sieferles für die teilnehmende Beobachtung beim „Miterleben der alltäglichen Lebenswelt sozialer Akteure“ (277) im Zusammenhang mit dem Pilgern nachvollziehbar. Allerdings offenbaren sich gerade bei der Konzentration auf die teilnehmende Beobachtung – wie bei allen Methoden – auch deren Grenzen: Die Leser*innen erfahren viel über die sich im Laufe des Untersuchungsprozesses verdichtenden Beziehungsnetze der Forscherin und ihre autoethnografischen Erfahrungen im Feld, aber, trotz der geführten Gespräche, nur wenig über die Pilger*innen und deren jeweiligen sozialen und kulturellen Hintergrund. So bleiben Fragen danach, warum das Pilgern für einen Teilnehmer in erster Linie eine Form des sportlichen Wanderns darstellt, während es für eine andere Teilnehmerin ein spirituelles Ganzheitserlebnis ist, und inwiefern dies mit deren grundsätzlichen Einstellungen und Werten gegenüber Glaube, Religiosität, Spiritualität etc. zu tun hat, relativ unbeleuchtet. Der Autorin ist sicher recht zu geben, „dass Emotionen im Tun und damit in der Praxis des Pilgerns hergestellt“ (256) werden. Allerdings sind die biografisch begründeten Erfahrungen und Bewertungen dieser Emotionen der Akteur*innen immer auch diskursiv eingebettet und entziehen sich damit, zumindest ein Stück weit, der unmittelbaren Beobachtung. Auf jeden Fall bereichert Sieferles Studie die bisherige volkskundlich-kulturwissenschaftliche Pilgerforschung mit ihrem analytischen Blick auf die Körperlichkeit von Kultur und Gesellschaft. Sie bietet zukünftigen Untersuchungen wichtige Anhaltspunkte für die Ausgestaltung von Forschungsprozessen, die nicht in erster Linie die diskursive, sondern die die praktische Konstitution sozialer Wirklichkeit in den Mittelpunkt stellen.

Anmerkung

[1] Christoph Kühn: Von der Wittenberger Reformation zu den ökumenischen Pilgerwegen. Evangelische Erfahrungen und Kritik des Pilgerns im Horizont von Konfessionalisierung und Ökumene. In: Klaus Herbers u. Enno Bünz (Hg.): Der Jakobuskult in Sachsen. Tübingen 2007, S. 291–324, hier S. 294.