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Aktuelle Rezensionen


Eva Maria Hois (Hg.)

Volksmusik und (Neo)Nationalismus. Tagungsband zum Grazer Symposium zu Volksmusikforschung und -praxis, 8.–10. November 2017

(Grazer Schriften zur Volksmusikforschung und -praxis), Graz 2019, Steirisches Volksliedwerk, 177 Seiten mit Abbildungen, Tabellen,  ISBN 978-3-902516-37-4
Rezensiert von Heidi Christ
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 30.06.2020

Das Auftreten populistischer rechtskonservativer bis rechtsextremistischer politischer Kräfte in der Mitte unserer Gesellschaft ist ein Thema, das in den vergangenen Jahren zunehmend an Präsenz und Brisanz gewonnen hat. Im November 2017 widmete das Steirische Volksliedwerk gemeinsam mit dem Institut für Ethnomusikologie der Kunstuniversität Graz, dem Johann-Joseph-Fux-Konservatorium des Landes Steiermark in Graz und der Volkskultur Steiermark GmbH ein zweitägiges Symposium zur Volksmusikforschung und -praxis dem Thema „Volksmusik und (Neo)Nationalismus“. 2019 erschien nun unter Herausgeberschaft von Eva Maria Hois der zugehörige Tagungsband. Auf 160 Seiten präsentiert die Herausgeberin zehn Vorträge des Symposiums, in dessen Mittelpunkt die Grundfrage stand, „welche Rolle Volksmusik, deren Geschichte seit ihrer ‚Erfindung‘ ja eng mit nationalen und nationalistischen Ideen und Ideologien verbunden ist, die aber auch grenzüberschreitend und verbindend wirken kann, in nationalen respektive (neo)nationalistischen Diskursen überhaupt spielt, spielen will oder kann“ (9 f.). In den zwei Jahren, die zwischen Tagung und Publikation vergangen sind, verschärften sich Diskussionen um nationalstaatliche Politik, längst begegnen gruppenfeindliche Phänomene wie Rassismus und Antisemitismus in nahezu allen Bereichen der Gesellschaft. Die Auseinandersetzung seitens der Volksmusikforschung und -praxis mit dem Themengebiet ist heute wichtiger denn je.

Die Beiträge des Tagungsbandes liefern das Rüstzeug dazu, völkische, nationalistische, rassistische und antisemitische Kontinuitäten zu erkennen und einzuordnen. Dabei werden auch aktuelle Entwicklungen beleuchtet, Modifizierungen und Transformationen ideologisch geprägter Feindbildtheorien aufgedeckt und Akteure (z. B. politische Gruppierungen und Vereine, Musikgruppen und einzelne Musizierende) deutlich benannt. Eva Maria Hois blickt auf Definitionen der Begriffe Nation, Nationalismus, Volk, Volkslied, Nationalmusik, Volksseele und Volksgeist, insbesondere auf deren Entstehung und die damit verbundenen Phänomene. An den Beispielen der Hymnen „God save the King (Queen)“ und der alten österreichischen Kaiserhymne zeigt sie auf, dass „der soziokulturelle Kontext und die Zuschreibungen von außen […] weitaus bedeutender und wirkungsmächtiger [sind] als der sprachliche und vor allem musikalische Text an sich“ (27). Ulrich Morgenstern erläutert, wie wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Volksmusikdiskurse „auf vermeintliche oder tatsächlich greifbare ethnisch-nationale Eigenständigkeit volksmusikalischer Phänomene einerseits und auf interkulturelle Austauschprozesse andererseits Bezug nehmen“ (33), wo sachlich oder ideologisch debattiert wurde bzw. wird. Dabei wird deutlich, dass ethnisch-nationale Distinktion ebenso positiv wie Interethnik negativ belegt sein können und sich Vertreter*innen der europäischen Volksmusik im Spannungsfeld von kultureller Eigenart, vergleichender Perspektive und Interethnik bewegen – die Forschungsschwerpunkte ließen weitgehend erkennen, ob und zu welchem Pol verstorbene Fachvertreter*innen tendierten.

Dementsprechend fasst auch Eva Maria Hois die Erkenntnisse aus der Tagung auf der hinteren Umschlagseite zusammen: „So liegt es immer in der Verantwortung der Handelnden wie auch Forschenden, wachsam und kritisch auf politische und ideologische Indienstnahmen von Volksmusik und Volkskultur hinzuweisen, um diese nicht zum Spielball von Ideologien werden zu lassen und einem Missbrauch vorzubeugen.“

Der Tagungsband legt nahe, dass auf eine gewünschte Verantwortung der Handelnden (moralischer Imperativ) nicht immer gesetzt werden kann. Die von Ulrich Morgenstern aufgeführten Beispiele scheinbar ambivalenten Verhaltens Heinrich Himmlers und einiger österreichischer Volksmusikpfleger, die nicht nach der von ihnen vertretenen Ideologie handeln, lassen eher darauf schließen, dass viele Menschen pragmatisch handeln: Der Musiktitel gefällt oder gefällt nicht, wird entsprechend ins Repertoire aufgenommen oder nicht. Der Brauch und die Brauchhandlungen interessieren, die (angebliche) Tradition einer Tanzform scheint ins eigene Weltbild zu passen, schon sind theoretisch vorhandene Grenzen vergessen, aufgehoben (49 ff.). Auch Dieter Ringli stellt die Abwesenheit kausaler Zusammenhänge zwischen Ideologie und Musikausübung fest: „Das gestiegene Interesse an Volkskultur und Volksmusik ist also keineswegs ein Ausdruck von Neo-Nationalismus, genauso wenig wie der Kulturaustausch automatisch eine weltoffene Haltung nach sich zieht“ (65) sowie „Volksmusik […] letztlich einfach das Abbild von Zeitgeist und Befindlichkeit der Bevölkerung [ist] – mit all seinen Schattenseiten und Widersprüchen, und das ist gut so. Die Alternative wäre die museale Konservierung der Volksmusik.“ (66)

Nicht jeder, der seinen Aufforderungssatz mit zwei oder mehr Ausrufezeichen versieht oder den Begriff des „Kulturschaffenden“ verwendet [1], ist ein (Neo)Nazi, aber auch nicht jeder, der nach Text und Noten des „Engelland-Liedes“ fragt oder um Aufführung des „Badonviller-Marsches“ bittet, ist ein unbedachter Liebhaber traditioneller Musik. Nicht alles, was in der NS-Zeit missbraucht, instrumentalisiert, mit falscher Absicht intoniert wurde, muss für immer tabu sein. Aufgabe der Volksmusikforschung ist aber, Finger in Wunden zu legen und Aufklärung anzubieten. Oder wie im letzten Beispiel auf Missbrauch und Rechtsbruch hinzuweisen.

Es ist wichtig, diesbezüglich aktuelle Strömungen, Gruppierungen, Parteien sowie deren Ideologien, Organisationsstrukturen und Programme zu kennen. Häufig taucht in Medien der Begriff „Neue Rechte“ auf, eine wichtige Rolle spielen die „Identitären“. Die Bundeszentrale für politische Bildung in Deutschland definiert die „Neue Rechte“ als losen Zusammenschluss „eine[r] Intellektuellengruppe, die sich hauptsächlich auf das Gedankengut der Konservativen Revolution der Weimarer Republik stützt, eher ein Netzwerk ohne feste Organisationsstrukturen darstellt und mit einer ‚Kulturrevolution von rechts‘ einen grundlegenden politischen Wandel vorantreiben will.“ [2] Bei seinen Untersuchungen zum Thema „‚Neue Rechte‘ als Wiedergänger. Rechtsextreme Kontinuitäten in Österreich“ stellt Andreas Peham entsprechend fest: „Tatsächlich sieht die ‚Neue Rechte‘ sehr alt aus, wenn man ihre Positionen einer genaueren Analyse unterzieht. Gerade in Österreich handelt es sich bei dieser Selbstbezeichnung um einen Begriff, der mehr für neue Strategien und Formen als für neue Inhalte steht.“ (102)

Die Musik der „Neuen Rechten“ nimmt Florian Wimmer in den Blick: „‚Neo-Folk‘ als Soundtrack der ‚Neuen Rechten‘? Eine musikalisch-politische Spurensuche anhand ausgewählter Beispiele“ ist sein Beitrag betitelt, der sich konkret der Fragestellung widmet, „Inwieweit weist ‚Neofolk‘ politische Bezüge auf bzw. inwieweit kann das Genre als Begleitmusik ‚neurechter‘ Gruppierungen bezeichnet werden?“ (115) Für Außenstehende erkennbar seien bei diesem Musikgenre „deutliche Anklänge an die angloamerikanische ‚Folk-Music‘ der 1960er- und 70er-Jahre“ (123). Im „Neofolk“ existiere generell „ein gewisser Nimbus des ‚unpolitischen‘“ (122), doch offenbare er sich als Transformation des „Folk“: „Gab man sich im ‚folk‘ bewusst anti-elitär, so tritt im ‚Neofolk‘ eher ein elitär-intellektueller Habitus zutage“ (126 f.). Die Akteure des „Neofolk“ präsentieren sich jedoch bezüglich ihres Volksmusikbegriffes mit vergleichbar bizarren Vorstellungen wie manche Akteure der konservativen Volksmusikpflege. Welche „Vorstellungen Pegida-Anhänger und -sympathisanten vom ‚Volkslied‘ bzw. ‚Weihnachtslied‘ haben und wie diese in ihre rechtspopulistischen Vorstellungen eingebaut werden“ (173), beschäftigt Michael Fischer in seinem Beitrag „‚Und bitte DEUTSCHE Weihnachtslieder singen!‘ Die rechtsnationale Empörungsbewegung PEGIDA und das ‚Weihnachtsliedersingen‘ 2014 in Dresden“. Erschreckend tritt dabei die Instrumentalisierung des im christlichen Jahreslauf verankerten Brauchkomplexes (v. a. am Beispiel des Turmblasens, 164) und der Pseudoexpertise des „Vorsängers“ hinsichtlich der Liedforschung (168) vor Augen.

Wir kennen das aus anderen Bereichen der Volksmusikforschung: Geschichte und Informationen zu einzelnen Musikstücken interessieren einen Großteil der Akteure nicht, weil es bequemer ist, sich nicht mit unbequemen Gedanken befassen zu müssen, weil es vordergründig nur ums „Singen“, ums „Tanzen“, um „Brauchtumspflege“ (!), um „Tradition“ gehe, weil man endlich aufhören solle, in der Vergangenheit zu wühlen, weil die Beschäftigung mit der NS-Zeit überflüssig sei … die Gründe sind vielfältig und manche davon auch nachvollziehbar. Dennoch ist es Aufgabe der Volksmusikforschung, über die akademische Diskussion hinaus der breiten Öffentlichkeit Informationen zur Verfügung zu stellen, damit alle, die sich interessieren, auch die Möglichkeit haben, valide Fakten und aktuelle Forschungsstände abzurufen. Volksmusikforschung, Musikethnologie und verwandte Disziplinen müssen in der öffentlichen Diskussion präsenter werden und sich dafür einsetzen, dass ihre Erkenntnisse deutlich mehr und besser wahrgenommen, gefunden und genutzt werden, als diejenigen von selbst ernannten Experten. Dazu kann und muss das Netzwerk mit den vielen haupt- und ehrenamtlichen Volksmusik- und Heimatpflegern genauso wie mit an seriöser Forschung interessierten Laien auf- und ausgebaut werden.

Die Unkenntnis der Genese des und der Diskussionen zum musikalischen Werk verdeutlicht der Beitrag „Eine symbolische Kluft zwischen Laizismus und religiösem Fundamentalismus: 10. Yıl Marṣi (Hymne für das 10. Jahr der türkischen Republik)“ von Hande Sağlam. Entstand die Hymne 1933 zur Feier des Kemalismus (90) und avancierte zur bekanntesten türkischen Hymne, steht sie nach mehreren Transformationen heute v. a. als Hymne jener, die „ihrer kritische[n] Haltung gegenüber dem Fundamentalismus bzw. der AKP-Regierung Ausdruck geben, ohne deren nationalistisch geprägte Bedeutung zu bedenken“ (100). Aber auch vorher schon seien die „feine[n] kritischen Botschaften des Komponisten, die schon 1932 diskutiert wurden, […] den Anti-LaizistInnen entgangen“ (98). Fehlt einerseits die Kenntnisnahme des wissenschaftlichen Diskurses, fehlt an anderen Stellen trotz besseren Zugangs zu solchem Wissen scheinbar die Sensibilität dafür: „Die Art und Weise, wie die Werke […] ohne ihren historischen Kontext und völlig unkritisch präsentiert werden, ist nicht nur wissenschaftlich unseriös, sondern auch ethisch höchst unverantwortlich“ (139), zitiert Thomas Nußbaumer in seinem Beitrag „‚Dem Land Tirol die Treue‘. Die nationalistische Ideologisierung der ‚Südtirolfrage‘ in Produkten der Popularmusik“ eine kritische Stellungnahme mehrerer Fachleute gegenüber einem Musikwissenschaftler, bei welchem Nußbaumer selbst „jegliches Reflexionsniveau“ und mangelnde Diskussionsbereitschaft in dieser Angelegenheit vermisst.

Der Tagungsband enthält neben Autor*innen-Portraits dankenswerter Weise zu jedem Beitrag Abstracts in Deutsch und Englisch. Über kleine layouttechnische Versehen wie verschobene Fußnoten oder nicht konsequent eingerückte lange Zitate liest man leicht hinweg. Für den beigegebenen Jodler fehlt allerdings jedwede Einordnung in den Seminarzusammenhang. Den Veranstaltern des Symposiums ist dafür zu danken, dass sie dem Vorschlag des Ethnomusikologen Helmut Brenner gefolgt sind, dieses Symposium dem wiedererstarkenden „Gespenst“ „des chauvinistischen (Neo)Nationalismus und [der] Demaskierung von politischen Ideologien im ‚Schafspelz‘“ (8) zu widmen. Mehr denn je muss dem Aufruf der Herausgeberin in Volksmusikforschung und -praxis gleichermaßen Folge geleistet werden: „Es gilt, achtsam zu sein, Augen – und Ohren – offen zu halten und gegebenenfalls auch, in durchaus mehrdeutigem Sinne, die Stimme zu erheben.“ (13)

Anmerkungen

[1] Matthias Heine: Verbrannte Wörter. Wo wir noch reden wie die Nazis – und wo nicht. Berlin 2019.

[2] Armin Pfahl-Traughber: Was die „Neue Rechte“ ist – und was nicht. Definition und Erscheinungsformen einer rechtsextremistischen Intellektuellengruppe. In: Bundeszentrale für politische Bildung, 21.1.2019, https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/284268/was-die-neue-rechte-ist-und-was-nicht [5.5.2020].