Aktuelle Rezensionen
Edoardo Costadura/Klaus Ries/Christiane Wiesenfeldt (Hg.)
Heimat global. Modelle, Praxen und Medien der Heimatkonstruktion
(Edition Kulturwissenschaft 188), Bielefeld 2019, transcript, 454 Seiten mit Abbildungen, E-Book ISBN 978-3-8394-4588-4Rezensiert von Simone Egger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 30.06.2020
Der Literaturwissenschaftler Edoardo Costadura und der Historiker Klaus Ries von der Friedrich-Schiller-Universität Jena haben zusammen mit der Musikwissenschaftlerin Christiane Wiesenfeldt von der Universität Heidelberg (ehemals Jena) mit dem Band „Heimat global“ eine umfassende Publikation zum Thema und seinen Deutungsmöglichkeiten in der Gegenwart vorgelegt. Der Veröffentlichung vorausgegangen war eine Tagung mit dem Titel „Heimat – Ein Problem der globalisierten Welt?“ (20. bis 23. September 2017). „Heimat global“ ist bereits die zweite gemeinsame Publikation von Edoardo Costadura und Klaus Ries, die sich mit der Frage nach Zugehörigkeit auseinandersetzt. Der anhaltende Hype um den Begriff, der seit den 2000er Jahren in vielen Kontexten sichtbar an Bedeutung gewonnen hat, bot einmal mehr Anlass, diesem Konzept von verschiedenen Standpunkten aus nachzuspüren. Mit der vorliegenden Veröffentlichung wollen Edoardo Costadura, Klaus Ries und Christiane Wiesenfeldt „die heutige Debatte über Heimat beleuchten und einige Antworten auf Fragen geben, die sich aus dieser Debatte ergeben“ (13). Zusammen mit der Einführung befassen sich zwanzig Beiträge mit „Modellen, Praxen und Medien der Heimatkonstruktion“. Untergliedert ist die Publikation in vier Teile: erstens geht es um die „Historische und politische Semantik“, zweitens um die „Hermeneutik der Weltbeziehung“, drittens um „Heimat gestalten“ und in einem vierten Punkt um „Mediatisierte und narrativierte Heimat“.
Costadura, Ries und Wiesenfeldt eröffnen mit der Frage, wie im politischen Deutschland mit ‘Heimat’ umgegangen wird. Zitiert werden Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Innen- und Heimatminister Horst Seehofer und Robert Habeck von den Grünen. In sämtlichen politischen Lagern ist gegenwärtig – der Beitrag bezieht sich auf die öffentliche und mediale Debatte des Jahres 2017 – von Heimat im Singular oder Heimaten im Plural die Rede. Einer statischen Vorstellung von Zugehörigkeit, die an Traditionen gekoppelt ist, steht – kurz zusammengefasst – ein dynamischer Begriff gegenüber, der Teilhabe aktiv möglich macht und somit Heimat schaffen lässt. In diesem Sinne ist auch eine verstärkte ästhetische Auseinandersetzung zu verstehen, die nicht von anderen Dimensionen abgekoppelt werden kann. Heimat wird seit den 2000er Jahren auch popkulturell verhandelt, ist Gegenstand von Literatur, Film, Musik. Deutlich gemacht wird dabei von vielen Akteur*innen, dass sie eine Notwendigkeit in der Auseinandersetzung mit dem Topos sehen – sei es, weil es sie selbst betrifft und die Frage in der Postmoderne auch vor dem Hintergrund einer zunehmenden Mobilität zwingend ausgelotet werden muss oder weil die Angst vor Verlust im Raum steht, weil die einen etwas gegen die politische Vereinnahmung von ‚Heimat‘ durch die anderen haben. Die Herausgeber*innen gehen davon aus, dass es sich bei dem Bedürfnis nach Beheimatung um eine anthropologische Grundkonstante handelt und begreifen Heimat als „Modus der Weltbeziehung“ (33). Angesichts der Globalisierung eröffnet sich die Möglichkeit, ‚Heimat‘ plural und offen „jenseits nationalistischer Schranken und Kategorien als dynamischen Begriff neu zu denken und zu konzeptualisieren“ (34). Costadura, Ries und Wiesenfeldt plädieren daher für ein translokales, interaktionelles Verständnis, das performativ aufzufassen ist und mit dem vorliegenden Band „modelliert“ (ebd.) werden soll.
In dem Kapitel „Historische und politische Semantik“ befasst sich zuerst der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht mit den „Historischen Bedingungen und epistemologischen Schichten von ‚Heimat‘“, verstanden als „Darstellung einer Kontinuität von Veränderungen“ (46). Den normativ besetzten Begriff der Nation, schlägt er – angesichts weltweiter Identitäts- und Interessenskonflikte in einer post-historischen wie post-ideologischen Gegenwart – vor, durch „Natalität“, einem Konzept von Hannah Arendt, zu ersetzen. Der Sozialwissenschaftler Benjamin-Immanuel Hoff, Kulturminister des Landes Thüringen, und Konstanze Gerling-Zedler, Referentin in der Thüringer Staatskanzlei, befassen sich mit „Heimat und dem Janusköpfigen des Nationalen“. Am konkreten Beispiel des Bundeslands gehen sie auf Kontroversen um den Begriff angesichts ökonomischer Entwicklungen und gesellschaftlichen Wandels ein, um „Heimat zu entmystifizieren – ihn dadurch dem Zugriff rechtspopulistischer oder offen rechtsextremer Instrumentalisierung zu entziehen“ (62). Heimat als Möglichkeitsraum zu begreifen, meint als politische Forderung auch nach Links adressiert, dass ‚Heimat‘ mit Angeboten gefüllt werden muss. „Heimat-Ambivalenzen“ beschäftigen den Kulturwissenschaftler Friedemann Schmoll; vor dem Hintergrund europäischer Erfahrungen setzt er sich mit den Ambiguitäten des Topos auseinander. Am Exempel von Heimweh hebt er hervor, wie mangelnde Anerkennung und Unsicherheit in Gewalt umschlagen können. „Fehlende Weltläufigkeit“ (88) ist ursächlich für brutale Regression. Das Wissen um solche Wechselwirkungen erscheint bedeutsam, „weil diese Erfahrungen von Migration und Beheimatung in die aktuellen Debatten um Flucht, Vertreibung und Migration offenkundig keinen Eingang finden“ (ebd.). In „Heimatdiskurse und Gewalt“ setzt auch der Germanist Werner Nell bei der „besonderen Gefühlslage der Heimat“ (105) an und verfolgt deren Konjunktur sowie ein daran geknüpftes (un)bewusstes Gefährdungspotential, das in vieler Hinsicht mit Gewalt verbunden sein kann. Der Historiker Justus H. Ulbricht schließt mit seinem Beitrag „Heimat ohne Ausländer! Sächsische Impressionen und nachdenkliche Reflexionen zum Konnex von Lokalpatriotismus, Populismus und Fremdenangst“ an die Diskussion an und kommt zum Schluss, dass sich eine moderne, im weitesten Sinne als solche verstandene „Heimatpflege […] an einem inter- oder transkulturellen Dialog zu beteiligen“ (141) hat.
Den zweiten Teil des Bandes „Hermeneutik der Weltbeziehung“ eröffnet der Soziologe Hartmut Rosa mit einem resonanztheoretischen Versuch zu „Heimat als anverwandeltem Weltausschnitt“. Wie seine Vorredner*innen konstatiert Rosa, dass man Heimat umdeuten kann und muss, um diese allgemeine Bezugnahme auf Welt nicht ausschließlich – d. h. exklusiv rechts – vereinnahmt zu wissen. Die Frage nach Heimat ist eine Frage nach Resonanz in modernen Gesellschaften, die alle angeht. „Das Gegenteil des Exils“ beschäftigt hinsichtlich dieser individuell wie kollektiv zu begreifenden Herausforderung auch den französischen Schriftsteller Jean-Christophe Bailly. Die Psychologin Beate Mitzscherlich macht sich ihrerseits Gedanken um „Heimat als subjektive Konstruktion“ und begreift „Beheimatung als aktiven Prozess“. Generell geht sie davon aus, dass Heimat auch für einzelne stets ein multidimensionales Konzept ist, das auf Erfahrungen basiert, die sich auch im Kollektiven spiegeln. „Das Heimatgefühl bezieht sich dabei (fast) immer auf sozial definierte Umgebungen, in denen sich räumliche und soziale Dimension durchdringen.“ (185) Mit einem vermeintlichen Klischee, „Ortsgebundenheit und Fernweh in der Kleinstadt“, hat sich Frank Eckardt beschäftigt. Der Stadtforscher arbeitet in seinem Beitrag „Heimat ohne Tamtam“ heraus, dass eine Bindung an kleine urbane Räume eher entstehen kann, wenn sie sich zumindest virtuell öffnen und nicht in Vorstellungen von Landschaft à la Schneekugel verschließen. Renate Zöller, deren Band „Was ist eigentlich Heimat?“ 2016 erschienen ist, stellt „Heimat oder das Projekt vom Glück auf Erden“ in ihrem Artikel noch einmal umfassend in Abhängigkeit von politischen und soziokulturellen Entwicklungen vor.
Den dritten Teil „Heimat gestalten“ eröffnen Gregor Reimann, Sophie Seher und Michael Wermke. Die Religionspädagog*innen diskutieren den „Heimatbegriff im Bildungsauftrag des modernen Schulwesens“ und seine Entwicklung vor dem Hintergrund sich verändernder politischer Systeme vom Deutschen Kaiserreich über die DDR und die Bundesrepublik Deutschland bis hin zur Gegenwart. Die Jurist*innen Walter Pauly und Barbara Bushart machen sich über die „Politische Heimat bei Hannah Arendt“ Gedanken und spannen den Bogen von „Individueller Zugehörigkeit und dem Recht auf Rechte“. Heimat ist demnach ein Platz in der Welt, den man sich selbst geschaffen hat und der zugleich Stand und Raum bieten kann. „In diesem Sinne kann vom Recht als einer Heimat gesprochen werden, die Menschen das im aristotelischen Verständnis essentielle Leben als zoon politikon ermöglicht.“ (283) Dieses Recht sich zu exponieren gilt es auch Menschen, die neu ankommen, durch die Verfassung zu garantieren. Anschließend stellt die Juristin Martina Headrich mit Blick auf ‚Flucht‘ empirisch fundierte Überlegungen zu einem „Recht auf neue Heimat“ an. Damit ist nun kein traditionelles Verständnis von Zugehörigkeit gemeint, es geht „um ein Recht auf Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen im allgemeinen Sinne“ (295). „Making Heimat. Neue Heimaten für Einwanderer in Deutschland“ lautet der Titel des Architekten Peter Cachola Schmal. Darin behandelt er unter anderem das Projekt „Germany. Arrival Country“, das 2016 im Rahmen der Architekturbiennale in Venedig im Deutschen Pavillon umgesetzt worden ist. Für Schlagzeilen sorgte vor allem der Durchbruch in der Wand des denkmalgeschützten Gebäudes. „Heimaten der Nachhaltigkeit“ beschäftigen den Geografen Karsten Gäbler. Bemerkenswert ist aus seiner Sicht „die Zunahme einer paradox erscheinenden Gleichzeitigkeit von Offenheit und Schließung in globalisierten Lebenswelten“ sowohl in Heimat- als auch in Nachhaltigkeitsdebatten (333).
In einem vierten Teil wird die „Mediatisierte und narrativierte Heimat“ ausgelotet; den Anfang macht die Musikwissenschaftlerin Yvonne Wasserloos mit „Heimat bewahren. Inszenierung und Verklanglichung des rechtsextremen Heimatbegriffs durch Monumentalästhetik“. Kompositionsästhetisch analysiert sie unter anderem den Track „Heimat“ von Chris Ares, einer Ikone des rechten Rap. Der Musikwissenschaftler Thorsten Hindrichs stellt „Überlegungen zu ‚Utopie‘ und ‚Heimat‘ bei Helene Fischer und Frei.Wild“ an und macht daran das Motiv „Auf ewig keine Heimat“ fest. Während sich der Schlager und seine derzeit prominenteste Vertreterin mit „Atemlos durch die Nacht“ von allzu statischen Heimatbildern verabschiedet haben und stattdessen auf den Sehnsuchtsort Großstadtnacht setzen, markiert die erfolgreiche Deutschrockband Frei.Wild aus Südtirol eine Vorstellung von ‚Heimat‘, die – vordergründig – authentisch mit Ideologie spielt. Die Kulturwissenschaftlerin Sylka Scholz folgt mit ihrem Artikel zu „Pluralen Heimatentwürfen im ‚German Heimat Film‘“ in der Reihe der Beiträge. Zur Diskussion gestellt werden „Identitätsangebote in ‚Sushi in Suhl‘, ‚Sommer in Orange‘ und ‚Soul Kitchen‘“. Aus dem Heimatfilm der 1950er Jahre hat sich heute ein Genre entwickelt, das man als Neuen Heimatfilm bezeichnen kann. Es geht um Wissensregime und diskursive Deutungsangebote zwischen Öffnung und Schließung (406). Beendet wird der vierte Teil von „Heimat global“ und damit der Band mit Eduardo Costaduros Artikel „‚Even if You return, Ulysses‘, oder die Geschichte von der Heimkehr“. Im Beitrag unterscheidet der Literaturwissenschaftler zwischen regressiven und progressiven Heimaterzählungen.
Resümierend lässt sich festhalten, dass Christiane Wiesenfeldt, Edoardo Costadura und Klaus Ries mit „Heimat global“ einen überaus fundierten Beitrag zur wissenschaftlichen und öffentlich/politisch/medialen Debatte geliefert haben. Der Band zeichnet sich durch die hohe Qualität seiner sehr diversen Beiträge aus, die das derzeit viel diskutierte Schlüsselthema Heimat um eben das bereichern, was Universität leisten kann: einen Gegenstand, ein Feld in den Blick zu nehmen und in nachvollziehbaren Schritten die Dimensionen auszuloten, die sich aus der jeweiligen Fragestellung ergeben. Es geht darum, komplexes Wissen begreifbar zu machen und zur Vielstimmigkeit einer Gesellschaft beizutragen. Die Verortung vieler Beiträge in der politischen Situation Thüringens bereichert den Band in besonderer Weise. Diese Bezugnahme auf das alltägliche Geschehen im Land scheint dabei nicht nur bewusst, sondern durchaus leitend zu sein. An alle politischen Lager wird angesichts gegenwärtiger Entwicklungen, von der Ankunft von Geflüchteten über die zunehmende Verunsicherung der gesellschaftlichen Mitte bis hin zu der spezifisch historischen Genealogie Ostdeutschlands, die Aufforderung gerichtet, sich inhaltlich zu verhalten und argumentativ Möglichkeitsräume aufzumachen. Der Titel „Heimat global“ ist dabei weitblickend gemeint und doch ein wenig irreführend, es geht nicht um die ‚glokal‘ zu verortende Untersuchung eines Phänomens, Heimat wird aus einer mehrheitlich deutschen Perspektive in Zeiten der Globalisierung gedacht. Wie bereits in der ersten Publikation macht ein disziplinärer Pluralismus eine Stärke des Zugriffs aus, zugleich ließe sich ein methodischer Nationalismus durchaus weiter diversifizieren. Ein weiterer Band könnte sich mit der Zukunft von Heimat oder ihren Bedeutungen außerhalb vertrauter Terrains befassen, auch wenn – oder gerade weil – Territorialität eine entscheidende Dimension für die Zugehörigkeit von Menschen ausmacht.