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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Mathias Irlinger

Die Versorgung der „Hauptstadt der Bewegung“. Infrastrukturen und Stadtgesellschaft im nationalsozialistischen München

(München im Nationalsozialismus. Kommunalverwaltung und Stadtgesellschaft 5), Göttingen 2018, Wallstein, 432 Seiten mit 28 Abbildungen, 3 Tabellen, 3 Grafiken, ISBN 978-3-8353-3205-8
Rezensiert von Sönke Friedreich
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 17.07.2020

Das vorliegende Buch, 2017 als geschichtswissenschaftliche Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität eingereicht, widmet sich der Rolle von Kommunen und kommunaler Infrastruktur in der Herrschaftsdurchsetzung im Nationalsozialismus am Beispiel der Stadt München, die als „Hauptstadt der Bewegung“ einen besonderen Stellenwert auf der NS-Landkarte besaß. Dabei geht es Mathias Irlinger nicht um eine reine Beschreibung von Modernisierungstendenzen der 1930er Jahre oder eine Analyse der Kriegswirkungen seit 1939. Die Ausgangsfrage lautet vielmehr, „wie die Münchner Stadtverwaltung im ‚Dritten Reich‘ durch ihre Infrastrukturangebote die Bindekräfte zwischen der nationalsozialistischen Regierung und der Bevölkerung stärkte und wie sie dabei die technischen Systeme als Mittel der Herrschaftsdurchsetzung nutzte“ (10). Die Studie knüpft damit gleich an drei Forschungsthemen und -diskurse an: Die Bedeutung von Infrastrukturen in der modernen Stadtgeschichte, die Frage des Ineinandergreifens von Herrschaft und Gesellschaft im Nationalsozialismus sowie die Rolle von Stadtgesellschaften und kommunaler Eigenmacht im historischen Längsschnitt.

Der Verfasser teilt seine Arbeit in vier Hauptkapitel, in denen er sich dem Thema systematisch nähert. Im ersten Abschnitt werden die Grundlagen des städtischen ‚system managements‘ erläutert (Ziele und Infrastrukturmaßnahmen der Stadtverwaltung und ihr Einfluss auf die technische Umsetzung), das zweite Hauptkapitel seziert beispielhaft die Vorhaben des Nordbades und des Ausbaus des Nahverkehrs sowie den Umgang mit den technischen Risiken der Gasversorgung, im dritten Teil werden die städtische Konsumpolitik, die NS-Profiteur*innen in der Stadt sowie die Exklusion von Jüd*innen und ausländischen Zwangsarbeiter*innen untersucht und das vierte Kapitel widmet sich schließlich der Bereitstellung städtischer Ressourcen für den Krieg sowie den wachsenden Problemen der Versorgung. Wie der Autor überzeugend verdeutlicht, waren die Planung einer modernen Infrastruktur, die technische Instandhaltung und die Angebotserweiterung von städtischen Konsumangeboten mehr als eine durch Sachlogiken bestimmte Dienstleistung für die Öffentlichkeit. Über Infrastrukturen interagierten die städtische Funktionselite und das NS-Stadtregiment mit der Bevölkerung und setzten die Herrschaftsansprüche der Nationalsozialisten auf lokaler Ebene durch. So inszenierten sich die städtischen Planer als zielstrebige ‚Macher‘, verdeckten dabei aber die inneren Widersprüche und die oftmals fehlende Finanzierungs- oder Planungssicherheit bei Infrastrukturmaßnahmen. Den Stadtbewohner*innen war die Rolle dankbarer Konsument*innen zugedacht, die die funktionierenden Verkehrsmittel und Versorgungsanlagen als nationalsozialistische Errungenschaft ansehen sollten. In fast allen Bereichen erhoben die Nationalsozialisten ihre infrastrukturellen Vorhaben und Problemlösungen zu weltanschaulichen Fragen und instrumentalisierten den Dienstleistungsbetrieb für eine strikte Exklusionspolitik gegenüber ‚unerwünschten‘ Bevölkerungsgruppen, insbesondere Jüd*innen und ausländischen Zwangsarbeiter*innen. Auf der anderen Seite bot das Feld der städtischen Infrastruktur einen der wenigen Bereiche, in denen offen Kritik an den herrschenden Zuständen geäußert werden konnte. Wenngleich der Unmut über mangelhafte Straßenbahnverbindungen oder ein fehlendes Schwimmbad sich keineswegs gegen die nationalsozialistische Herrschaft als solche richtete, sahen sich die Verantwortlichen in der Stadtverwaltung doch dazu gezwungen, Meinungsäußerungen aus der Bevölkerung ernst zu nehmen und ihnen in einer Weise zu entsprechen, die nicht immer den ideologischen Prämissen entsprach.

Die spezifische Verflechtung von Herrschaft und (städtischer) Gesellschaft, wie sie das Feld der Infrastrukturen kennzeichnete, war keine Münchner Besonderheit. In ähnlicher Weise lässt sich die Rolle von Versorgungseinrichtungen in zahlreichen anderen Städten des nationalsozialistischen Deutschlands beschreiben, wobei dieser vergleichende Aspekt freilich nur am Rande zur Sprache kommt. Allerdings hebt der Verfasser zu Recht hervor, dass in München, das seit dem August 1935 den offiziellen Ehrentitel „Hauptstadt der Bewegung“ trug, das Bemühen um eine ‚moderne‘ Stadtpolitik und -verwaltung besondere symbolische Bedeutung für den Erfolg der nationalsozialistischen Herrschaftsdurchsetzung hatte. Zudem interferierte Hitler persönlich mit Wünschen für ungeeignete Monumentalprojekte und polemisierte gegen die Straßenbahn, und auch andere NS-Granden suchten in München nach Selbstverwirklichungs- oder Bereicherungsmöglichkeiten, die anderswo nicht ohne weiteres gegeben waren. Die Diktatur erwies sich somit oft als Störfaktor für den Betrieb der angeblich erstklassigen städtischen Infrastruktur.

Die konzise Beantwortung der Fragestellung, die solide Argumentation und der stilistisch einwandfreie Text machen das Buch zu einer bereichernden und spannenden Lektüre – was angesichts des zunächst etwas technisch anmutenden Themas nicht selbstverständlich ist. Mit der Konzentration auf die städtische Infrastruktur bedient sich der Verfasser einer ungewöhnlichen Herangehensweise, um das Funktionieren der nationalsozialistischen Herrschaft zu erklären. Dabei liegt der Fokus naheliegenderweise auf den (ausschließlich männlichen) Akteuren der Stadtverwaltung und der politischen und administrativen Praxis. Doch auch die Perspektive der Alltagserfahrung und -praktiken der Bevölkerung wird berücksichtigt, indem der Verfasser Eingaben an die Stadt ebenso als Quelle heranzieht wie Tagebücher und Schriftwechsel. In dieser Studie zum Beziehungsgeflecht von Technik, Alltag und Herrschaft werden somit auch Europäische Ethnolog*innen und speziell die historisch informierte Stadtforschung interessante Aspekte zur Gesellschaftsgeschichte im Nationalsozialismus finden.