Aktuelle Rezensionen
Helmut Schwarz/Marion Faber
Spielräume. Von der Sammlung Bayer zum Spielzeugmuseum Nürnberg
(Schriftenreihe der Museen der Stadt Nürnberg 18), Petersberg 2019, Michael Imhof Verlag, 396 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, meist farbig, ISBN 978-3-7319-0880-7Rezensiert von Nina Gockerell
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 30.06.2020
Modern und aufwändig gestaltet präsentiert sich der 400 Seiten starke, großformatige, reich illustrierte Band zur Geschichte des Nürnberger Spielzeugmuseums, des ersten nichtprivaten Museums zum Thema in Deutschland und des zugleich wohl bekanntesten seiner Art weltweit.
Übersichtlich gegliedert befassen sich Helmut Schwarz und Marion Faber, die zusammengerechnet 50 Jahre an diesem Museum gearbeitet haben, auf den ersten 60 Seiten mit „Spielzeug in Museen und privaten Sammlungen“, breiten dann auf mehr als 100 Seiten die Geschichte der Familien Bauer und Bayer bis in die Kindheit der Protagonisten zurück aus und widmen schließlich etwa 130 Seiten dem Spielzeugmuseum Nürnberg seit seiner Gründung im Jahr 1965. Ein umfangreicher Anhang versammelt Daten zu Ausstellungen und Publikationen, Besucherzahlen und Plakaten sowie Anmerkungs- und Registerseiten.
Schon beim ersten Durchblättern des wegen seines Überformats etwas unhandlichen Bandes wird anhand der zahlreichen privaten historischen Fotos deutlich, dass hier nicht nur die Geschichte einer Institution erzählt wird, sondern, vor allem im äußerst umfangreichen zweiten Kapitel, dem „Familienteil“, die Biografien mehrerer Generationen hoch interessanter Menschen über ein ganzes, an dramatischen Ereignissen und Veränderungen reiches Jahrhundert hinweg – über Wirtschaftskrise, Weltkrieg und Nazizeit, Zerstörung, Not und Neubeginn – ausgebreitet werden. Grundlage dafür war den beiden Autoren das umfangreiche private Archiv von Lydia Bayer jun., das sie nach deren Tod im Jahr 2000 sichten und bearbeiten konnten. Durch die zahlreichen Aufnahmen von Familienereignissen – es gibt nicht nur Bilder der Kinder im Kinderwagen, mit Spielsachen unterm Christbaum, bei der Einschulung oder im Fasching, sondern auch das Totenbild des 17-jährig gefallenen Sohnes und Bruders sowie seine Todesanzeige – und durch die oft großformatig abgedruckten Porträtfotos der langjährigen Museumsleiterin Lydia Bayer jun. in allen Altersstufen, bekommt der Band einen äußerst persönlichen, fast privaten Charakter, der eine eigentümliche Mischung aus Biografischem und Institutionellem entstehen lässt. Wohl aber verdeutlicht gerade diese Personen- und Familienfixiertheit die durchaus einzigartige Geschichte des Nürnberger Spielzeugmuseums, das wie keine zweite Institution dieser Art über Jahrzehnte ein wirkliches Familienunternehmen von Mutter Lydia sen., Vater Paul und Tochter Lydia jun. war.
Doch zurück zum Eingangskapitel, in dem detailliert und kenntnisreich über die Anfänge öffentlicher Spielzeugsammlungen ab etwa 1860 anhand des Germanischen und des Bayerischen Nationalmuseums berichtet wird. Spielzeug wurde damals unter dem Aspekt der Handwerkskunst gesammelt und ausgestellt – es handelte sich weitgehend um Holzspielzeug aus den Herstellungszentren Berchtesgaden, Oberammergau und dem Erzgebirge. Mit einer zunehmenden Professionalisierung des Museumswesens ging zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch die Einbeziehung von Spielzeug in weitere Museen (Berlin, Hamburg, Dresden etc.) einher, erste Fachpublikationen erschienen einerseits unter pädagogischen Aspekten, andererseits unter nationalökonomischen, die sich mit der frühen Spielzeugindustrie in Franken und Thüringen beschäftigten. Für die Spielzeuggeschichte und besonders für Nürnberg von größter Bedeutung ist unter diesem Aspekt das Bayerische Gewerbemuseum Nürnberg, dessen Geschichte ein umfangreiches Kapitel mit vielen Abbildungen gewidmet ist.
Unter dem Titel „Traum und Wirklichkeit“ wird anhand umfangreichen Quellenmaterials im Folgenden der steinige und letztlich gescheiterte Weg der Zwanziger Jahre zu einem Spielzeugmuseum in Nürnberg geschildert. Ausführlich wird die 1926 in der Städtischen Kunsthalle gezeigte Ausstellung „Spielzeug“ gewürdigt, in der historische Beispiele und „moderne“ Spielwaren in ihrer Funktion, ihrer Gestalt und ihrem pädagogischen Wert zur Diskussion gestellt wurden. 1928, anlässlich des 400. Todestages von Albrecht Dürer, gab es am selben Ort eine zweite Spielwaren-Ausstellung, doch auch diese vielbesuchte Unternehmung führte nicht dazu, dass der Traum vom Spielzeugmuseum in Nürnberg wahr geworden wäre. Allzu unterschiedliche Persönlichkeiten mit nicht vereinbaren Vorstellungen verhinderten, auch vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise, letztlich sein Zustandekommen. Gleichzeitig entstand in Sonneberg das „Deutsche Spielzeugmuseum“, das nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten umfangreiche Förderung erhielt und in Nürnberg fehlte nun der politische Wille zur Errichtung eines Spezialmuseums gänzlich. Zur selben Zeit widmeten sich Künstler und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Blickwinkeln dem Sammeln und Erforschen von Spielsachen. Privaten Beständen und künstlerisch gestalteten Spielzeugpublikationen wird in Text und Bild nachgespürt.
Kapitel II „Die Sammlung Bayer“ beginnt mit der Lebensgeschichte von Lydia Bayer, geb. Bauer (1897–1961), der Begründerin der familiären Spielzeugsammlung. Sie war Lehrerstochter mit guter Schul- und musikalischer Ausbildung und begann in den frühen 1920er Jahren volkskundliche und kunstgewerbliche Objekte sowie Spielsachen zu sammeln. Parallel dazu wird die Kindheits- und Jugendgeschichte von Paul Bayer, ihrem späteren Ehemann, dem „Ingenieur in kommunalen Diensten“, erzählt. Beide Kapitel sind mit zahlreichen Fotos ausgestattet; das gilt auch für das umfangreiche Kapitel über die Sammeltätigkeit von Lydia Bayer – hier tauchen die ersten Farbdias aus den Jahren 1939/40 auf. Das Unterkapitel „Spiel und Ernst“ macht mit der Kindheit und Jugend der 1929 geborenen Lydia Bayer jun. und ihres Bruders Paul (geb. 1926), wiederum reich illustriert, vertraut. Die nächsten Abbildungen zeigen Zerstörung und Verlust: Während der Luftangriffe auf Nürnberg im Zweiten Weltkrieg wurde ein Teil der Sammlung getroffen, nach dem Krieg Paul Bayer sen. als oberster technischer Beamter des nationalsozialistischen Stadtregimes von Nürnberg verhaftet, verurteilt und erst nach langwierigem Prozess als Mitläufer eingestuft. Die Fünfziger Jahre mit ihrem allmählichen wirtschaftlichen Aufstieg waren von systematischem Sammeln bestimmt, der Plan zu einem privaten Museum reifte. Tochter Lydia begann zu dieser Zeit ein Kunstgeschichtsstudium in Würzburg, wohin die Familie gezogen war.
Mutter und Tochter Lydia Bayer planten und gestalteten in den Folgejahren Gastausstellungen in anderen Städten (Stuttgart, Dortmund) und knüpften internationale Kontakte zu Sammlern und Museumsleuten. Unter Aufbietung aller finanziellen Möglichkeiten wie auch der eigenen Kräfte konnten Vater und Tochter (Lydia Bayer sen. war 1961 verstorben) ihr privates Spielzeugmuseum, das „Museum Lydia Bayer“, das sie im Dezember 1962 eröffnet hatten, nur kurze Zeit betreiben, da die Stadt Würzburg jegliche Unterstützung ablehnte. Doch dann trat die Stadt Nürnberg in Gestalt des damals neu ernannten Kulturreferenten Dr. Hermann Glaser (1928–2018) auf den Plan, der die Sammlung Bayer in seine Stadt holen wollte und dies auch tatkräftig durchzusetzen wusste. Im November 1965 erging der Stadtratsbeschluss zur Gründung eines Spielzeugmuseums an der Karlstraße, zum 1. Januar 1966 trat Lydia Bayer jun. als Gründungsdirektorin des aufzubauenden Museums in den Dienst der Stadt Nürnberg, fünf Jahre später, im Februar 1971, konnte das Haus eröffnet werden. Auf fast 50 üppig illustrierten Seiten werden im Folgenden ebenso leidenschaftlich wie akribisch und detailreich die gelungenen wie auch die immer wieder behindernden Ereignisse von der Gründung bis zur Eröffnung geschildert. Ab 1966 zeigte Lydia Bayer in den Räumen der Fränkischen Galerie eine Sonderausstellung unter dem Titel „Kind und Spiel“, die sehr erfolgreich die Neugier und die Vorfreude auf das künftige Museum förderten. Dass die restlose Übergabe der Sammlung an die Stadt und die Bezahlung letztlich fast 30 Jahre dauerten, erfährt der Leser im einschlägigen Kapitel. Im Anschluss werden der Museumsbau an der Karlstraße, dessen Geschichte bis ins Mittelalter zurückreicht, und seine Einrichtung als Museum geschildert. Umfangreiche Seitenblicke werden auf die Gründungen anderer Spielzeugmuseen (Sonneberg, Riehen, Salzburg) geworfen, um schließlich wieder zu den „Entwicklungslinien“ der Geschichte des Nürnberger Museums zurückzukehren. Hier werden die Grundaufgaben eines Museums – sammeln, bewahren, forschen und dokumentieren, ausstellen und vermitteln – anhand des Nürnberger Hauses bis in die Gegenwart, wiederum reich illustriert, geschildert, um schließlich noch einmal auf „Dr. Lydia Bayer – ein Leben für das Spielzeugmuseum“ zurück zu kommen.
Es ist ein Glücksfall, dass sich Helmut Schwarz und Marion Faber nach Abschluss ihrer Tätigkeit für das Haus der großen Mühe unterzogen haben, dessen Geschichte derart detailliert zu recherchieren und gut lesbar darzustellen. Dass sie sich darüber hinaus so intensiv und erkennbar empathisch um die Geschichte der Gründerfamilie bemühen, verdeutlicht die äußerst zugewandte Ausstrahlung von Vater und Tochter Bayer, die auch die Rezensentin erleben durfte.