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Aktuelle Rezensionen


Beate Binder/Christine Bischoff/Cordula Endter/Sabine Hess/Sabine Kienitz/Sven Bergmann (Hg.)

Care: Praktiken und Politiken der Fürsorge. Ethnographische und geschlechtertheoretische Perspektiven

Opladen/Berlin/Toronto 2019, Budrich, 342 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8474-2104-7
Rezensiert von Laura Gozzer
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 30.06.2020

Mit dem Sammelband „Care: Praktiken und Politiken der Fürsorge. Ethnographische und geschlechtertheoretische Perspektiven“ liegt eine facettenreiche Zusammenschau verschiedener Forschungen zu „Für_Sorge“ vor. Das Buch bildet damit Dimensionen eines Kernkonzepts ab, das in den letzten Jahren in sozialpolitischen ebenso wie in wissenschaftlichen Debatten eine dynamische Weiterentwicklung erfahren und auch im Fach Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie zu Perspektivwechseln und Akzentverschiebungen beigetragen hat. Ausgangspunkt der Publikation der Herausgeber_innen Beate Binder, Christine Bischoff, Cordula Endter, Sabine Hess, Sabine Kienitz und Sven Bergmann war die 15. Arbeitstagung der Kommission Frauen- und Geschlechterforschung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde (dgv) „Politics of Care. Politiken der Für_Sorge − Für_Sorge als Politik“. Diese fand im Februar 2016 in Kooperation mit dem Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie der Universität Hamburg sowie dem Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft der Universität Bremen in Hamburg statt. Der Band präsentiert in sechs Teilen 19 Beiträge und ein abschließendes Interview. Am Beginn stehen drei konzeptuelle Annäherungen, die Care aus geschlechtertheoretischer, machtkritischer Perspektive auch für Einsteiger_innen zugänglich machen.

Einleitend führen Beate Binder und Sabine Hess verschiedene Ansätze zu Care im Fach Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie an, darunter intersektionale Analysen zu Reproduktionsarbeit sowie die Erweiterung des Care-Begriffs in Forschungen zu „NaturenKulturen“ oder im Rahmen der kritischen Humanitarismusforschung. Zudem haben kritische Arbeiten zu Humanitarismus darauf hingewiesen, wie „im Namen von Care und Sorge gerade entlang von ‚race‘ und ‚gender‘ neue Ausschlüsse und Hierarchien“ (28) produziert werden. Binder und Hess formulieren eines der zentralen Spannungsfelder im analytischen Umgang mit dem Konzept: Wird Care einerseits mit dem Versprechen einer (besseren) feministischen Gesellschaftsorganisation verbunden (s. das Bündnis „Care Revolution“), steht sie andererseits auch für die Stabilisierung bzw. Produktion von Asymmetrie, Herrschaft und Ausschlüssen „gerade entlang von ‚race‘ und ‚gender‘“ (28). Die Autorinnen schlagen den Begriff der Für_Sorge vor, um gerade diese Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten zu betonen, und bringen ethnographisches Forschen in Stellung, um der skizzierten Komplexität Rechnung zu tragen. Im anschließenden Beitrag widmet sich Sarah Speck Care als „Kernthema feministischer Politiken“ (35) und führt die Leser_innen in historischen Schlaglichtern von der bürgerlich-gemäßigten Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Anhand Specks Rückblick wird deutlich, wie eng wissenschaftliche und aktivistische Themen- und Konzeptpolitik verwoben waren und sind. Mit dem Verweis auf gegenwärtige nationalistische Politisierungen von Care zeigt Speck: „Die Frage, wer für wen und unter welchen Bedingungen sorgt, hat politische Sprengkraft, stehen dahinter doch oftmals grundsätzliche Vorstellungen von Gemeinschaftlichkeit und Fragen eines guten Lebens.“ (48) Sabrina Schmitt, Gerd Mutz und Birgit Erbe schlagen vor, ökonomische Ansätze zu Care in sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen miteinzubeziehen. So könne beispielsweise eine Kritik am ‚homo oeconomicus‘ zur Dekonstruktion androzentristischer Ordnungen beitragen oder regulationstheoretische Ansätze den Blick auf neoliberale Symbolpolitiken rund um Für_Sorge schärfen. Die Perspektivverschiebung, Wirtschaft selbst als bedürfnisorientiertes Sorgen zu konzeptualisieren, ermögliche eine anders gelagerte Analyse von „dissidenten Praxen und Utopieprojekte[n]“ (64).

Der folgende Abschnitt „Ambivalente Institutionalisierungen“ fokussiert Beziehungen zwischen Staat und Sorge(arbeit) auf politisch-rechtlicher Ebene. Sowohl Andrea Kretschmanns Einschätzung zur Regulierung der sogenannten „24-Stunden-Pflege“ in Österreich als auch Urmila Goels Studie zur Situation indischer Krankenpflegerinnen und ihren Familien in der BRD der 1970er Jahre zeigen, wie Maßnahmen der arbeitsrechtlichen Regulierung und arbeitsmarktabhängigen Zuwanderungssteuerung die Ausbeutung der Care-Arbeiter_innen mitunter begünstig(t)en. Čarna Brković analysiert die postsozialistische Umformung sozialer Fürsorge in Bosnien-Herzegowina anhand des Kampfes von Müttern um eine Sozialbetreuung für Kinder mit Behinderung. Statt einer staatlich organisierten Versorgung sind die Frauen im neoliberalen System der „community care“ auf private und/oder politische Unterstützer_innen angewiesen. Brković zeigt überzeugend, wie eine häufig idealisierte Für_Sorge durch die lokale Gemeinschaft schlussendlich den Abschied vom Recht auf (Sozial-)Für_Sorge bedeuten kann.

Unter „Verhandlungen in der Praxis: Politiken der Für_Sorge“ und „Performanzen und Materialitäten von Care-Work“ werden ethnografische Forschungen zu verschiedenen Praxisfeldern vorgestellt. Die Autor_innen berichten aus den Alltagen professionalisierter Sorge-Arbeit: von Normen „guter Fürsorge“ in einer Tagesstätte für Menschen mit Behinderung (Susanne Lohmann), von Entscheidungsprozessen über geschlechtsangleichende Operationen seitens medizinischen Personals und den dabei wirksamen Zeitnormen (Todd Sekuler), von Concierges in Luxushotels und ihren Aushandlungen von Maskulinität angesichts der „care-ization“ ihrer Arbeitsaufgaben (Thibaut Menoux) sowie vom Einsatz von Pflegedingen (Isabel Atzl und Lucia Artner). Care wird am Beispiel von Trauerpraktiken als ethnografische Forschungspraxis entworfen (Francis Seeck) sowie als Gegenstück zu Produktivitätslogiken in aktivistischen Bewegungen gedacht (Deborah Sielert). Durch die Zusammenschau kontrastierender Forschungsfelder, wie die Sorge um Roboter und die Hygienearbeit in Krankenhäusern (Käthe von Bose und Pat Treusch), wird Care weiter ausdifferenziert.

Im Abschnitt „NaturenKulturen des Für_Sorgens“ liegt der Fokus auf Sorgepraktiken in Mensch-Umwelt-Beziehungen. Franziska Klaas betrachtet die Moralisierung von individuellem Recyceln kritisch und hinterfragt den staatlichen Umgang mit informellen Müllsammler_innen in Istanbul. Sven Bergmann zeigt am Beispiel von Plastik im Meer, wie Sorge im Sinne von Reinigen und Trennen den ‚entanglements‘ von „Lebendigem und Synthetischem“ (259) nicht gerecht wird. In interdisziplinärer Zusammenarbeit diskutieren Sabine Hofmeister, Tanja Mölders und Corinna Onnen am Beispiel des Naturschutzes sowie der Palliativpflege, wie Sorgen auch die Absenz von Sorgepraktiken, also das „Loslassen“, bedeuten kann und Grundlage für eine „enthierarchisierende Praxis“ des Vorsorgens bietet (267).

Unter „Konfliktzonen von Care“ werden Forschungen zum Umgang mit geflüchteten Menschen vorgestellt. Georgia Samaras zeigt, dass Behandeln und Begutachten als zwei Fürsorgepraktiken durch Psycholog_innen im Kontext des Aufenthaltsrechts im Widerspruch zueinander stehen können. Katherine Braun analysiert anhand eines Konflikts zwischen freiwilligen Helfer_innen über das angemessene Angebot für geflüchtete Frauen, wie sich Vorannahmen über deren Unterdrückung sowie koloniale Überlegenheitsideen im freiwilligen Engagement einschreiben. Gleichzeitig ermöglichen konflikthafte Care-Aushandlungen aber auch „transversale Politiken“ (307). Johanna Elle und Marie Fröhlich analysieren, wie der Vulnerabilitätsdiskurs um schwangere, geflüchtete Frauen zwar in der politischen und humanitären Rhetorik Deutschlands dominant ist, aber in der Umsetzung einzig ein „fragiles Patchwork aus Provisorien“ (320) zum Schutz der Frauen existiert, wodurch diese auf Zufälle und ein soziales Netz angewiesen sind. Hier schlägt sich eine Brücke zu Brkovićs Beitrag: Dem Recht auf Schutz weicht ein Verständnis von Schutz als Gefallen seitens mächtiger Akteur_innen, ein Argument, das u. a. auf die Thesen Miriam Ticktins zurückgeht. Ihre Arbeiten sind es, die neben denen von Maria Puig de la Bellacasa und Annemarie Mol die zentralen theoretischen Bezüge für die versammelten Beiträge darstellen. Miriam Ticktin nimmt im gelungenen Abschluss des Buchs im Gespräch mit Sabine Hess selbst Stellung zur Diskussion zwischen den Thesen der kritischen Humanitarismusforschung – Care als Unterdrückung – und der feministischen ‚Ethics of Care‘ – Care als erstrebenswerte Alternative zur (kapitalistischen) Gesellschaft und zum Ideal des unabhängigen Subjekts. Ticktin formuliert es dabei als Aufgabe feministischen Arbeitens, errungene Konzepte und Standpunkte ständig zu hinterfragen und weiterzuentwickeln.

Beim Lesen des Buches kristallisieren sich folgende Dimensionen von Für_Sorge heraus: Für_Sorge ist geschlechtlich kodierte Praxis, Reproduktionsarbeit und Lohnarbeit und ist durch gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse geprägt. Sie ist abhängig von Materialitäten und stellt eindeutige Trennungen von Natur und Kultur infrage. Ethnografische Forschungspraxis selbst kann als Für_Sorge neu interpretiert werden. Für_Sorge eröffnet eine umfassende Kritik an Verwertungslogiken und begründet alternative Gesellschaftsentwürfe, kann in praktischen Zusammenhängen aber auch als Disziplinierungsinstrument fungieren und die Selbstbestimmtheit der zu Umsorgenden schwächen, wenn nicht gar verunmöglichen. Blass bleibt bis auf Ausnahmen die Historizität von Für_Sorge-Idealen. Auch die Verwobenheit von Für_Sorge-Praktiken mit klassen-, berufs- und biografiespezifischen Normen wird in den Beiträgen zwar implizit deutlich, doch selten explizit ausbuchstabiert.

Der Band stellt eine Bereicherung dar, nicht nur für die universitäre Lehre, sondern ebenso für die fachinterne wie -übergreifende Diskussion um Für_Sorge. Dass dabei eine Vielzahl von Nachwuchswissenschaftler_innen in detaillierten, materialbasierten Analysen zu Wort kommen, ist eine große Qualität des Bandes. Die Autor_innen haben sich einem genauen Blick auf spezifische Akteurskonstellationen, ‚entanglements‘ und Praktiken verschrieben und scheuen sich nicht davor, ethisch-politische Haltungen einzunehmen. Dies hängt, wie der Band zeigt, auch mit der eingangs formulierten aktivistisch-wissenschaftlichen Genealogie des Begriffs zusammen und macht gerade das analytische sowie politische Potenzial der Forschung zu Für_Sorge aus. Offen bleibt, wie dieses ethnographische Wissen in praktische Zusammenhänge und politische Entscheidungen eingebracht werden kann. Diese Frage stellt sich gegenwärtig besonders drängend: angesichts des Umgangs mit einer Pandemie, die nicht zuletzt aufdeckt, welche zentralen Rollen Für_Sorgende, politische Rahmungen der Für_Sorge sowie Politiken im Namen der Für_Sorge gesellschaftlich spielen.