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Julia Burkhardt

Von Bienen lernen. Das Bonum universale de apibus des Thomas von Cantimpré als Gemeinschaftsentwurf. Analyse, Edition, Übersetzung, Kommentar

(Klöster als Innovationslabore 7), Regensburg 2020, Schnell & Steiner, 1616 Seiten mit Abbildungen, meist farbig, ISBN 978-3-7954-3505-9
Rezensiert von Wolfgang Brückner
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 03.07.2020

Dieses gleichsam zentnerschwere Bücherpaket aus unseren Tagen, in denen selbst Bibliotheken kein „Papier“ mehr aufnehmen wollen und Verleger damit an finanzielle Grenzen gelangen, hatte offensichtlich keine dauerhaften Entstehungsbeschwernisse. Das liegt wahrscheinlich am offiziellen Projektcharakter des Unternehmens aus den Heidelberger und Leipziger Akademien der Wissenschaften. Philologische und kulturwissenschaftliche Erzählforscher staunen über ein bekanntes Sujet, das bislang nicht von „reinen“ Historikern angegangen worden ist. Es handelt sich bei den Inauguratoren und Herausgebern um drei bekannte Mediävisten der universitären Disziplin Geschichte: Gert Melville, Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter, und bei den Erforschern und Editoren um zahlreiche wissenschaftliche Mitarbeiter sowie deren Projektleiterin und Hauptverfasserin Julia Burkhardt, die sich damit 2018 an der Universität Heidelberg habilitieren durfte.

Sie hat eine vorbildhafte zweisprachige Edition vorgelegt, lesefreundlich in seitenweiser Gegenüberstellung gedruckt. Die lateinische Version links besitzt als Fußnoten die Variantennachweise der Handschriften, die deutsche Version rechts einen „Kommentar“, der aus der Auflösung von Namen und Orten besteht, zu denen einschlägige Literatur zitiert wird.

Dass sie das mit Hilfe von Handschriften-Stemmata und dergleichen aus den Vorarbeiten des Projekts untermauert, verweist auf die Herkunft aus einem Unternehmen zur hilfswissenschaftlichen Editionstechnik. Dem widmen sich die Großkapitel III und IV „Rezeptionsgeschichte“ (der Handschriften und Drucke) sowie „Edition, Konzept und Richtlinien“ samt der umfangreichen „Anhänge“. Burkhardts Kommentar zur eigenen Übersetzung empfiehlt sich vor allem für studentische Benutzer, die auch gezwungen werden sollen, den lateinischen Text genauer anzusehen. Soweit sehr lobenswert und in toto ein kodifikatorisches Anliegen.

Dass derart mediävistisch arbeitende Historiker allein der „Narrative Funktionskontext exemplarischen Erzählens im 13. Jahrhundert“ (39) interessiert und die Inhalte der Narrative nur im Blick auf den „Gemeinschaftsentwurf“ des Werkes, ist dem überwölbenden Forschungsprogramm geschuldet: „Klöster im Hochmittelalter. Innovationslabore europäischer Lebensentwürfe und Ordnungsmodelle.“ Darum verwundert es nicht, statt eines Erzählmotiveregisters nur eine Art Regesten als „Anhang 10: Inhalt der Kapitel und Unterkapitel des Bienenbuchs“ (358 ff.) geboten zu bekommen. Desgleichen benennen die Kommentare der Edition nur die allerinternsten Titel der internationalen Fachgenossenschaft, gehören also zu einem exklusiven Zitierkartell. Dafür gibt es ein seitenlanges Bibelstellenverzeichnis (Anhang 8, 333 ff.) und dergleichen mehr aus Tätigkeiten im Projektverlauf und dem Umgang mit den Handschriften und den Quellenabhängigkeiten.

Alle, die literarisch und kulturwissenschaftlich an Narrationsforschungen interessiert sind, dürfen dankbar für die opulente Edition eines zentralen Werkes der massenhaften Überlieferung von alten und neuen Geschichten aus dem Hochmittelalter sein, auch wenn hier das einst beliebte „Bienenbuch“ nicht als unterhaltsame Exempelkompilation vorgestellt wird, sondern als Lesetext für das Studium einer intellektuellen Mentalitätsprägung.

Die Neuphilologen und internationalen Folkloristen erfahren im Regestenteil die Zusammenhänge für Motive, Erzähltypen und literarischen Stoffe, die bei uns im Fach seit dem späten 19. Jahrhundert unter Titeln wie „Märchen des Mittelalters“ (1925) für Kurzprosaerzählungen oder „Mönchslatein“ (1909) (beide Albert Wesselski) erarbeitet worden sind. Die Editorin bemüht allein die französischen Spezialisten der „Anecdotes historiques“ seit der Erforschung des Etienne de Bourbon. Unsere Studien müssen sich weiterhin an die eigenen akademischen Wissenstraditionen halten, als da sind: Voran die „Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung“ (EM) der Göttinger Akademie der Wissenschaften in 15 Bänden, erschienen von 1977 bis 2015, mit den Artikeln „Biene“ und „Thomas Cantipratanus“ (samt Auflistung der gängigsten „Geschichten“ durch Hans-Jörg Uther) oder dem in Finnland erschienenen „Index Exemplorum. A Handbook of Medieval Religious Tales“ (1969) des Deutsch-Amerikaners Frederic C. Tubach, der in der vorliegenden Edition nur mit einem theoretischen Aufsatz zitiert ist. In der EM wird zusammengefasst, was seit dem späten 19. Jahrhundert sowohl noch im Umlauf war als auch spätestens durch die niederländische Dissertation von Wouter Antonie van der Vet (Het Biënboec van Thomas van Cantimpré en zijn exempelen, 1902) aus dem Original belegt werden konnte. Die neuzeitliche Wirkungsgeschichte erarbeiteten Aufsätze in der Zeitschrift für Volkskunde  1960 und 1961. Die Erkenntnisabsicht lautete „Sage und Wirklichkeit“ am Beispiel der als „Bienenlegende“ bekannten Eucharistie-Geschichte der Hostie im Bienenstock und vom Bau eines Kirchleins aus Wachs. Eine Frühvariante dieses Exemplums findet sich bei Thomas Cantipratanus (Kapitel II, 40) unter der Abhandlung über das „Singen“ der Bienen, weil deren außerordentliches Summen den Fund einer konsekrierten Hostie im Bienenstock angezeigt hatte. Dahinter steckt eine tatsächliche Beobachtung der Imker, nämlich das Einschließen von Fremdkörpern. Hier allerdings lehren die Bienen den Mönchen im Kloster den aufmerksamen Gesang im Chorgebet. Dass sich der Autor dann assoziativ in weiteren Eucharistie-Mirakeln ergeht, gehört zu seinem Stil und der Absicht, ein unterhaltsames Vorlesebuch zu schreiben.

Julia Burkhardt sieht mehr darin. Sie geht natürlich aus vom Autor in ihrem ersten Großkapitel. Dann folgt „Das Werk“ im Rahmen des zeitgenössischen Bienen-Wissens und der Fürstenspiegel, um im Unterkapitel II, 3 über „Die ideale Gemeinschaft“ zu handeln, das heißt von „sozialen Ordnungsmodellen“, und schließlich folgt II, 4 „Eine Region erzählt“ mit geografischen Auswertungen der genannten Personen, Orte und Räume. Das alles versteht sie unter „Analyse, Edition, Übersetzung, Kommentar“ und breitet es im ersten Band auf über 500 Seiten aus. Die Mittellateiner haben vor vielen Jahren angekündigt, so etwas für den einst noch bekannteren „Dialogus miraculorum“ des Caesarius von Heisterbach vorzulegen, der ja auch eine klösterliche Lehrschrift gewesen ist für die Novizen. Sie liegt in fünf Teilbänden vor (Turnhout 2009).