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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Winfried Müller

Die Deutsche Künstlersteinzeichnung 1896–1918. Farbige Originallithografien und die Heimat- und Kunsterziehungsbewegung um 1900

(Spurensuche. Geschichte und Kultur Sachsens, Sonderband 1), Dresden 2020, Sandstein, 440 Seiten mit 224 Abbildungen, meist farbig, ISBN 978-3-95498-520-3
Rezensiert von Wolfgang Brückner
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 17.07.2020

Wer diesen schweren Prachtband einer wissenschaftlichen Dokumentation in gelungener buchtechnischer Herstellung vor sich auf dem Tisch liegen hat, der hört so bald nicht auf, die ansprechende Bilderflut des Folianten zu genießen und die ästhetisierte Welt von gestern zu bestaunen: Das Cover zeigt einen Ausschnitt aus „Morgen im Hochgebirge“ (1901), das Frontispiz „Pappeln im Sturm“ (1902), dann folgen zwei große Ausschnitte aus einem Blick vom Umgang der Stadtmauer auf die Dächer Rothenburgs ob der Tauber und schließlich ein hochverschneites Bauernhaus im Schwarzwald. Sie verweisen zusammen auf Landschaftsstillleben jener Künstler, die in Konkurrenz zur Fotografie und den Abstraktionen der progressiven Moderne der Verkitschung des Geschmacks in sogenannter Gebrauchskunst entgegenwirken wollten. Das gilt schon bald auch den topografischen Sujets und den Bauerndarstellungen (lange vor NS-Blut und Boden).

Es tauchen dabei einige alte Bekannte auf wie Carl Bantzers „Abendmahl in einer hessischen Dorfkirche“ und „Die Eiserne Wehr“ mit Reitern und Speeren, die meine Großeltern in Dresden besaßen, und für Franken natürlich Matthäus Schiestls „Dürers Schifffahrt in die Niederlande vor Sulzfeld am Main“. Wer schenkt uns dieses Erlebnis? Gewiss nicht ein akademischer Kunsthistoriker, sondern eher ein engagierter Sammler, doch wohl nicht fern der Wissenschaften. Alle reproduzierten Bilder stammen aus der ca. 1 500 Blatt (und 100 gerahmte Objekte) umfassenden Privatsammlung des professoralen Mit-Direktors des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden, der an der dortigen Technischen Universität bis vor kurzem den Lehrstuhl für sächsische Landesgeschichte wahrnahm und als Oberbayer aus der Münchner Historikerschule stammt. Er verabschiedet sich mit diesem Mammutwerk aus dem aktiven Dienst.

Die Situation erinnert mich an den kunsthistorischen Kollegen Tilmann Buddensieg, der von seiner Berliner Professur nach Bonn wechselte und bei dieser Gelegenheit seine Privatsammlung „Keramik in der Weimarer Republik 1919‑1933“ dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg verkaufte. Hierzu erschien 1985 ein wunderbarer Katalog der Abteilung Kunst und kunstgewerbliche Sammlung des 19. bis 21. Jahrhunderts, der einer Entdeckung gleichkam, die man einem akademischen Kunsthistoriker kaum zugetraut hätte, handelte es sich doch auch hier um sogenannte Gebrauchskunst, um Massenproduktion, zugleich aber mit dem zeitgenössischen Anspruch auf ästhetische Moderne für jedermann.

In der Volkskunde ist man seit dem vorigen Jahrhunderts daran gewöhnt, „Bilderfabriken“ als zivilisatorische Phänomene ernst zu nehmen, aber eben nur die Produkte für den wirklich „kleinen Mann“, die seitdem museumswürdig geworden sind. Winfried Müller bietet nun, natürlich auf der gediegenen Grundlage seiner systematischen Sammlung, die Geschichte erhabenerer Bildermanufakturen, die den Anspruch auf künstlerische Handwerksoriginalität stellten. Es ist bezeichnend, dass es dafür in der akademischen Fachliteratur nicht einmal den Quellenbegriff der „Künstlersteinzeichnung“ gibt, sondern höchstens den kurzen Hinweis auf die angebliche „Episode“ der lithografischen Vervielfältigung vor dem Siegeszug der fotomechanischen Drucktechniken. Auch die Kunsterziehungsbewegungen interessierte bislang allein die Pädagogik und sie wurden innerhalb der Sozialhistorie meist nur mit Ideologieverdacht behandelt. Hier aber wird den Verlagsgeschichten auf den Grund gegangen mit Hilfe der Verkaufskataloge und Werbeschriften. Und natürlich durch eine Aufarbeitung der Künstler-Biogramme und deren greifbar werdendem Oeuvre. Allein diese Teilaspekte bedurften fleißiger Kärrnerarbeit und füllen die dreispaltigen Seiten (200‑351) und 26 Verlage samt deren Angebote (352‑391; inkl. Mappenwerke, Kalender etc.).

Diese reichen von großen Schulschautafeln über den einen Meter breiten Wandschmuck bis zu Künstlerpostkarten, womit im heutigen Feuilleton allein die Unikate unter Künstlerkollegen gemeint sind, die hier jedoch z.T. als eigens gestaltete Serien auftauchen. Die Hauptorte der Verlage bilden neben dem Ursprungs-Künstlerbund in Karlsruhe die Städte Leipzig, Dresden, Berlin, voran aber Leipzig mit den beiden Wegbereitern und Marktführern Teubner und Voigtländer. Der Autor handelt die anstehenden Problemfelder der Reihe nach auf den ersten 200 Seiten ab: Drucktechnik, Verlagsentwicklungen, Bildkategorien, Sozialformationen, Diskurse, Motive und Stile sowie das nationalistische Ende im Ersten Weltkrieg.

Neben den schriftlichen Quellen gibt es eine Gruppe vorzüglicher Fotografien zur Erkundung vom „Sitz im Leben“, wie die Theologen sagen würden. Es sind Aufnahmen aus der Zeit um 1920 von Schulkassen in deren Unterrichtsräumen, an deren Wänden Exemplare jener Künstlersteinzeichnungen hängen und deren bisweilen undeutliche Wiedergabe der Autor natürlich zu entschlüsseln weiß (126‑132, 181).

Die drucktechnische Ausstattung des Werkes ist so eindrucksvoll perfekt ‑  zu einer (unserer) Zeit, in der selbst Bibliotheken sich vor Büchern zu fürchten scheinen – und dass dies für eine ganz und gar wissenschaftliche Dokumentation geschieht, dazu darf dem Autor besonders gratuliert werden. Institutionen wie das Dresdener ISGV sind doppelt wichtig, damit auch ein solches veritabeles gutes Buch entstehen kann. Förderung für die historisch arbeitenden Geistes- und Kulturwissenschaften bleibt darum überall auf der Welt zumindest eine Hoffnung. Diese lebt heute noch in großen kulturhistorischen Museen wie dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg oder dem Deutschen Historischen Museum in Berlin. Eines von ihnen sollte sich des Schatzes vergewissern und dafür mit einer Ausstellung beginnen, zumal die Fleißarbeit dafür schon geleistet ist. Die mit den konkreten Dingen tagtäglich umgehenden Museen wissen noch, dass gerade unser Wissen von den Dingen höchst lückenhaft ist. Winfried Müller hat als Einzelkämpfer eine der vielen Lücken geschlossen.