Aktuelle Rezensionen
Maria Grewe
Teilen, Reparieren, Mülltauchen. Kulturelle Strategien im Umgang mit Knappheit und Überfluss
(Kultur und soziale Praxis), Bielefeld 2017, transcript, 321 Seiten, ISBN 978-3-8376-3858-5Rezensiert von Sonja Windmüller
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 03.07.2020
In den letzten Jahren hat sich die öffentliche Diskussion um Nachhaltigkeit, Ressourcenknappheit und Alternativen zur Überflussgesellschaft erkennbar intensiviert; zudem haben sich neue Handlungsformen des Verzichts, des Teilens und Tauschens ausgebildet. Maria Grewes Studie, mit der sie 2016 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel promoviert wurde, bewegt sich also in einem gesellschaftlich höchst relevanten Forschungsfeld, das auch kulturwissenschaftlich eine mittlerweile unübersehbare Aufmerksamkeit erfährt. Für die Volkskunde/Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie zeigt sich dies nicht zuletzt an der Beteiligung am Tübinger SFB „Ressourcen-Kulturen“ oder am Kieler Projektkolleg „Erfahrung und Umgang mit Endlichkeit“, in das auch Grewe mit ihren Forschungen eingebunden war, einem wieder erstarkten Interesse an den „Commons“ (vgl. insbesondere die Arbeiten von Dieter Kramer), am „Selber machen“ (vgl. den gleichnamigen Sammelband von Nikola Langreiter und Klara Löffler aus dem Jahr 2017) sowie an der erkennbaren Präsenz der Frage von Nachhaltigkeit und Ressourcenverteilung in Vorträgen und Panels etwa der letzten dgv-Kongresse 2017 in Marburg zum Thema „Wirtschaften“ und 2019 in Hamburg zu „Welt.Wissen.Gestalten“.
Maria Grewe stellt mit Kleidertauschevents, Reparaturcafés und Mülltauchen (auch: ‚Containern‘/‚Dumpster Diving‘) drei konkrete Phänomene des Umgangs mit Knappheit und Überfluss ins Zentrum ihrer vergleichenden Untersuchung und nähert sich diesen mit einem ethnografischen Zugang an, zu dem neben teilnehmenden Beobachtungen vor Ort (in Hamburg und Berlin) auch Interviews mit Initiator*innen und Organisator*innen, informelle Gespräche sowie die Analyse weiterer publizierter und nicht-publizierter Materialien (darunter Zeitungsartikel, YouTube-Filme, Foren und Newsletter) gehören. Zentral beschäftigt sie die Frage nach der „alltagskulturellen Bearbeitung“ (12), nach der „nicht marktförmig[en]“ Organisiertheit von Konsum (ebd.) und einem damit verbundenen Wertewandel der Dinge. Gegen das wirtschaftswissenschaftliche ‚Knappheitsparadigma‘ entwickelt Grewe mithin eine „dynamische Perspektive“ (48), in der sie die jeweilige Situiertheit und soziale Konstruiertheit von Knappheit und Überfluss akzentuiert. Dabei zeigt sich, dass die Akteur*innen ihr Handeln auch und nicht zuletzt als „performative Kritik an bestehenden Problemlagen“ (94) der gegenwärtigen Konsumgesellschaft verstehen. Die vorgefundenen Praktiken sind – so die Beobachtung Grewes – Ausdrucksformen eines „Überflussmanagements“ (u. a. 79, 148, 190, 247), das – wie eindrucksvoll am Beispiel des Mülltauchens gezeigt wird – selbst wiederum neuen Überfluss schafft, der ebenfalls Bewältigungsstrategien verlangt (die ‚geretteten‘ Lebensmittel, die den eigenen akuten Bedarf für gewöhnlich weit übersteigen, müssen verarbeitet oder verteilt werden). Inwertsetzungen erfolgen in der jeweiligen ‚Community of Practice‘ über den Aufbau von Infrastrukturen, die das Zirkulieren der Dinge ermöglichen und befördern. „Nachhaltigkeit“ wird dabei zum strategischen Begriff (251 ff.), wobei die Studie in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit von Narrativen wie auch die Rolle von (digitalen) Medien bei der Konstituierung des Handelns als Protestform zeigt.
Maria Grewe liefert mit der vorliegenden Publikation einen dichten und anschaulichen Einblick in die beschriebenen Phänomene. Die Übersetzung konsumkritischer Konzepte in spezifische Praktiken wird dabei ebenso deutlich wie das Erreichen eines „Statuswechsels“ (248) der Dinge über Praktiken des Reinigens und Sortierens (beim Mülltauchen) oder die von den Befragten selbst wahrgenommene Wirkmächtigkeit des eigenen Umwelthandelns. Dass viele der gewonnenen Erkenntnisse bereits vertraut erscheinen, liegt sicher auch im gewählten analytischen Zuschnitt der Studie begründet: Perspektiviert werden die „zentralen Akteure“, die „Initiator_innen“ und „Organisator_innen“ (86) – und damit genau jene Protagonist*innen des jeweiligen Feldes, bei denen die interne Deutungsmacht liegt und die zugleich eine wesentliche Stimme im öffentlichen Diskurs bilden. Weitere beteiligte Akteur*innengruppen, und damit auch noch einmal anders gelagerte Auffassungen, Interessen, aber auch Praktiken, werden nur indirekt greifbar, etwa wenn Organisator*innen von Kleidertauschpartys oder Repair Cafés unterschiedliche Motivationen ihrer Besucher*innen reflektieren und bewerten.
Der Umgang der Verfasserin mit dem empirischen Material ist insgesamt vorsichtig und analytisch zurückhaltend, was allerdings immer wieder auch zu Verdoppelungseffekten führt, wenn etwa Interviewpassagen direkt im Anschluss noch einmal – unter Verwendung identischer zentraler Begriffe – ‚nacherzählt‘ werden. Auch (nahezu) wortgleiche Doppelungen ganzer (Ab-)Sätze (etwa 14 und 21 f., 236 und 238) sowie stilistischer Mittel (inflationärer Gebrauch von „erstens … zweitens … drittens …“), ein gehäuftes Vorkommen von Ankündigungen und Zusammenfassungen und schließlich wiederkehrende Flüchtigkeitsfehler und sprachliche Eigenartigkeiten (so wird zum Beispiel im wiedergegebenen Interviewmaterial das Modelabel „Esprit“ zu „Esprite“, „Armani“ zu Armanie“, 113) stören die Lektüre und hätten ein gründlicheres Lektorat wünschenswert gemacht. Dieses hätte die Arbeit schon angesichts des zurecht zu erwartenden Interesses an ihr verdient, denn ohne Frage handelt es sich bei der Studie von Maria Grewe um einen Aufschlag in einem Forschungsfeld, das nicht nur die Volkskunde/Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie, sondern auch andere Wissenschaften wie auch die gesellschaftliche Diskussion weiterhin beschäftigen wird. Hier bietet die vorliegende Publikation gute Anschlussmöglichkeiten auch über den disziplinären Kontext hinaus; für zukünftige Auseinandersetzungen mit dem Thema wird sie sicherlich eine Pflichtlektüre darstellen.