Aktuelle Rezensionen
Miriam Gutekunst
Grenzüberschreitungen. Migration, Heirat und staatliche Regulierung im europäischen Grenzregime. Eine Ethnographie
(Kultur und soziale Praxis), Bielefeld 2018, transcript, 324 Seiten, ISBN 978-3-8376-4249-0Rezensiert von Johanna Stadlbauer
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 03.07.2020
Miriam Gutekunst analysiert in diesem Buch, basierend auf ihrer Dissertation von 2016, „sowohl die Praxis der Migration durch Heirat als auch das Regieren der Migration durch Heirat“ (275). Um beides sichtbar zu machen, begleitete Gutekunst Personen, während diese das mit dem Ehegattennachzug von Marokko nach Deutschland verbundene Verfahren durchliefen. Zugleich nahm sie die Institutionen, die sich mit diesem Verfahren befassen, deren Mitarbeiter_innen und Handlungsweisen in den Blick. In der entstandenen Ethnografie dekonstruiert Gutekunst außerdem ausführlich auf das Feld bezogene (und zum Beispiel in Politiken eingelagerte) Diskurse und Figuren.
Der Schwerpunkt von Gutekunsts Forschung ist lokal vor Europas territorialen Grenzen angesiedelt, sie forschte insgesamt sieben Monate in Marokko. Sie geht von einer „Vorverlagerung und Externalisierung des Grenzregimes“ (61) aus. Wie das funktioniert, zeigt sie unter anderem anhand der Rolle der Außenstellen des deutschen Goethe-Instituts in Marokko. 2007 wurde eine Sprachnachweispflicht für aus sogenannten Drittstaaten nachziehende Ehegatten eingeführt. Die Kulturinstitute der Bundesrepublik Deutschland bekamen eine neue Gruppe von Klient_innen und kamen in die Lage, Vorintegrationskurse anzubieten und, so Gutekunst, Aufgaben der Migrationskontrolle zu übernehmen. Auf der Basis von Gesprächen mit Mitarbeiter_innen des Goethe-Instituts arbeitet die Autorin heraus, wie insbesondere das Paradigma der Integration und das Prinzip „Fördern und Fordern“ verhandelt werden, wenn es um die Zielgruppe der Personen geht, die zu Partner_innen in Deutschland ziehen möchten. Mithilfe von Interviews, Beobachtungen in Sprachschulen und Begleitung von Personen zu Sprachkursen und Prüfungen zeigt Gutekunst, welche Auswirkungen das Instrument der Sprachnachweispflicht auf deren Selbstkonzepte und Zukunftsvorstellungen für das Leben in Deutschland hat sowie welche Strategien sie im Umgang damit entwickeln.
Um die Chance auf ein Visum für die Einreise nach Deutschland zu erhalten, müssen neben den Gebühren für die Kurse und den Prüfungen häufig weite Anfahrten zu den Kursen finanziert werden, und eine reguläre Erwerbstätigkeit ist während der intensiven Lernphase nicht möglich. Für Personen, die noch nicht alphabetisiert sind, andere Lernbedürfnisse haben, wenig organisatorische und finanzielle Ressourcen haben oder andere Herausforderungen neben dem Deutschlernen bewältigen müssen, kann sich die Zeit bis zur erfolgreich bestandenen Prüfung jahrelang hinziehen oder als unüberwindbare Hürde herausstellen.
Die Sprachnachweispflicht wird in einem von drei empirischen Kapiteln behandelt, die deutlich machen, wie Personen „zu ‚nachziehenden Ehegatt_innen‘ gemacht werden“ (29). Ausführungen im Kapitel „Die Heiratsurkunde“ zeigen individuelle Beweggründe von Personen, ihre Migrationsprojekte umzusetzen. Diese Projekte werden von Gutekunst in den Kontext der neoliberalen Globalisierung eines postkolonialen Staates gesetzt. Zugleich arbeitet die Autorin heraus, wie der marokkanische Nationalstaat über den bürokratischen Prozess des Heiratens an seiner Transnationalisierung arbeitet. Im Kapitel „Das Visum“ stehen das Konsulat, seine Mitarbeiter_innen und die antragstellenden Paare im Mittelpunkt. Hier beschreibt die Forscherin, wie „Paarbeziehungen problematisiert und entweder als ‚Scheinehe‘ oder als ‚schützenswerte Ehe‘ kategorisiert werden“ (31). Kontroll- und Überwachungspraktiken der Institution, die Spielräume und Selbstverständnisse der einzelnen Mitarbeiter_innen und die Effekte dieses Verfahrens auf die Paare, die getrennt voneinander aber in engem Austausch in Deutschland und Marokko ihr Paarsein performen, werden detailliert herausgearbeitet.
Gutekunst verortet ihre Forschung in der kritischen Migrations- und Grenzregimeanalyse und geht damit von einer Autonomie der Migration aus. Sie geht auch davon aus, dass Geschlechterverhältnisse ein zentrales Machtverhältnis im Migrationskontext darstellen und erläutert daher sorgfältig, welche Konstruktionen von Männlichkeiten und Weiblichkeiten in die dargestellten Regierungsweisen eingelassen sind und wie die Personen im Feld sich zu diesen verhalten.
Gutekunst reflektiert im Sinne der kritischen Migrationsforschung auch ihre eigene Position innerhalb des Grenzregimes – mit dem Ziel, die sich an ihrer Erfahrung artikulierenden Ungleichheitsstrukturen erkennbar zu machen. Ihre Privilegien und ihre brisante Position im Feld werden deutlich, wenn sie berichtet, wie sie für ihre Forschung informell Einblicke in Dokumente und Entscheidungsfindungsprozesse erhält, wie sie Fälle mit den an ihrer Meinung interessierten Beamt_innen bespricht und zugleich mit denjenigen in Austausch steht, die das Verfahren durchlaufen und von ihnen um Unterstützung gebeten wird. Gegenüber dem Feld muss das Forschungsvorhaben legitimiert werden, und das tut Gutekunst auch in ihrem Buch mehrmals. Sie versteht sich als Kulturanthropologin mit gesellschaftlicher Verantwortung und steht den aktuellen europäischen Migrationspolitiken kritisch gegenüber. Es geht ihr, so schreibt sie, nicht darum, Wahrheiten niederzuschreiben, sondern Stereotype und Gewissheiten zu zerstören (79), sowie Machtverhältnisse kritisierbar zu machen und zu destabilisieren (76).
Es ist gewinnbringend für das Verständnis der gesellschaftlichen Verfasstheit von Migration, dass es Studien gibt, die zugleich Politiken, Diskurse, Institutionen und Akteur_innen in den Blick nehmen – anstatt beispielsweise „lediglich“ eine Interviewstudie mit Migrant_innen durchzuführen. Ersteres leistet Gutekunst, deren Dissertation merkbar auf sorgfältiger, lang andauernder Erhebung und Analyse basiert. Auch macht sie ihre Position, ihre theoretische und ihre politische Verortung als Forscherin, deutlich und somit kritisierbar. Da es ihr Anspruch ist, mithilfe der Wissenschaft auch Gesellschaft zu verändern, sei noch kritisch angemerkt, dass sich das Werk von Gutekunst in gut lesbare und dichte ethnografische Beschreibungen und in teils hinter kulturanthropologischem Jargon verschwindende analytische Erläuterungen teilt. Dies macht die Dissertation vielleicht etwas weniger zugänglich für politische Entscheidungsträger_innen oder Praktiker_innen, die im Bildungs- und Beratungsbereich mit Migrant_innen arbeiten, und andere an den Studienergebnissen interessierte Personen – denen sie jedoch allen empfohlen sei.