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Julie Sascia Mewes
Alltagswerkstatt. Alltagsbefähigungspraktiken in der psychiatrischen Ergotherapie
(VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung 25), Bielefeld 2019, transcript, 257 Seiten mit 2 Tabellen, ISBN 978-3-8376-4792-1Rezensiert von Patrick Bieler und Christine Schmid
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 03.07.2020
Die Ergotherapie in psychiatrischen Kliniken ist ein besonderer Raum: Im Gegensatz zu den ansonsten reduziert ausgestatteten sterilen Krankenhauszimmern ist die ‚Alltagswerkstatt‘ mit Objekten wie „Skulpturen aus Speckstein und Ton“ sowie „geflochtene[n] Körbe[n] aus Peddigrohr in unterschiedlichen Fertigungszuständen“ (7) vollgestellt und erscheint chaotisch. Hier findet keine Form der Gesprächstherapie statt, sondern es werden einfache Gegenstände, die aus einer vordigitalen Zeit zu stammen scheinen, produziert; vordergründig und in erster Linie geht es darum, das selbstreflektierende Grübeln für den Moment auszuschalten und sich ausschließlich auf ein verkörpertes Tun zu konzentrieren. Julie Sascia Mewes nutzt ihre erste Verwunderung während einer Teilnehmenden Beobachtung einer Ergotherapie in einer psychiatrischen Klinik, in Anlehnung an das Konzept ‚disconcertment‘ der sozialanthropologischen Wissenschafts- und Technikforscherin Helen Verran (aus deren Buch: Science and an African Logic. Chicago 2001, 1–20), als methodischen und inhaltlichen Ausgangspunkt für ihre Dissertation. Darin fragt sie, „wie in einem kreativen und aufs ‚amateurhafte Basteln und Werken ausgerichteten‘ und dadurch mitunter infantil wirkendem Raum ‚ernsthafte‘ Therapie stattfinden soll und welche Inhalte diese hat“ (9). Aufbauend auf einem historischen Abriss der Entwicklung der Ergotherapie im deutschsprachigen Raum, arbeitet Mewes heraus, dass die (Rück-)Befähigung zum Alltag im Zentrum ergotherapeutischer Praxis steht. Gleichzeitig verweist sie damit auf eine fehlende Konzeptualisierung von Alltag und bietet Vorschläge für eine „ergotherapeutisch-betätigungswissenschaftliche Theorienbildung“ an (16). Daraus ergibt sich die Präzisierung ihrer Forschungsfrage: „Wie also befähigen die ergotherapeutischen Alltagskönnerinnen ihre Nutzerinnen in der Praxis in einem stationären Behandlungsort […] zu Alltag?“ (37 f.)
In ihrer Monografie analysiert Mewes anhand qualitativ-empirischen Materials vor dem Hintergrund praxistheoretischer Perspektiven gleichermaßen kritisch wie generativ die ergotherapeutische Zielstellung, die Alltagsbefähigung von Menschen in einer psychiatrischen Krise (wieder)herzustellen. Zur Beantwortung ihrer Forschungsfragen führte sie insgesamt mehr als zwölf Monate Teilnehmende Beobachtungen in ergotherapeutischen Sitzungen auf einer gesamtpsychiatrischen und einer gerontopsychiatrischen Station zweier Kliniken durch, interviewte Behandelnde wie Nutzer*innen und arbeitete zusätzlich die Geschichte und (normative) Zielstellung der Ergotherapie auf. Dabei stellt ihre Studie keine „Berufsethnografie“ (14) dar, sondern liefert eine detaillierte Analyse der Ergotherapie als Praxis: Zentral fokussiert sie, wie Ergotherapie im praktischen Zusammenwirken von Behandelnden, Behandelten und materiellen Elementen gemacht wird. Durch den Rückgriff auf praxistheoretische Konzepte gelingt es Mewes, drei zentrale Aspekte von Ergotherapie genauer in den Blick zu nehmen: Die Rolle von ‚Routinen‘, die Relevanz von Objekten (‚Materialität‘) sowie die normativen Implikationen (‚Produktivität‘) von Ergotherapie.
Der praxistheoretische Zugriff ermöglicht das Funktionieren der Ergotherapie zu beschreiben und dadurch deren Annahmen kritisch zu hinterfragen und rückt zugleich zwei – vor allem im ergotherapeutischen Diskurs wenig konzeptualisierte – Begriffe ins Zentrum: Alltag und Materialität. (Wie) Können Routinen eingeübt werden und welche Rolle spielen sie im Hinblick auf gelingende Alltagsgestaltung? Wie kann eine Alltagsinszenierung innerhalb eines therapeutischen Settings Lerneffekte für den privaten Alltag der Nutzer*innen generieren? Wie kann Therapie über dyadische Beziehungen ‑ zwischen Behandelnden-Behandelten, Behandelten-Behandelten und Behandelten-Objekten ‑ hinausgehend triadisch gedacht werden und inwiefern lässt diese Konzipierung ‚Alltag‘ als hochgradig soziomateriell voraussetzungsvoll sichtbar werden? Warum ist eine Fokussierung auf die vermeintliche Autonomie der Nutzer*innen wenig zielführend und welche Formen relevanter (inner- wie außerklinischer) Fürsorge-Arbeit geraten dadurch aus dem Blick? Welche normativen Vorstellungen von Alltag werden durch die Fokussierung auf das Produzieren welcher Objekte durch die Ergotherapie realisiert?
Durch diese Problematisierungen gelingt es Mewes schlussendlich, das in der Europäischen Ethnologie sowie in der internationalen Sozial- und Kulturanthropologie zentrale Konzept des ‚Alltags‘ als Brückenkonzept zwischen empirisch-theoretisch ausgerichteter sozialwissenschaftlicher Analyse und der auf gesundheitliche Verbesserungen abzielenden ergotherapeutischen Betätigungswissenschaft einzuführen. Dadurch soll ein Dialog mit wechselseitigen Lerneffekten für beide Disziplinen entstehen. „Die vorliegende Arbeit versteht sich […] als Anstoß und Beitrag für eine weitere ergotherapeutisch-betätigungswissenschaftliche Theorienbildung, zu den nach wie vor nur selten in den Blick genommenen ‚Alltagsbefähigungspraktiken‘ der Ergotherapie in Deutschland. […] wie also Betätigung ‚in den Alltag kommt‘ und sich in ihm verorten lässt, ist bisher ‚kaum expliziert‘ und ‚nach wie vor untertheoretisiert‘. [… Ebenso] kann die Europäische Ethnologie von den gelebten wie konzipierten Alltagen und ‚Alltagsbefähigungspraktiken‘ der (psychiatrischen) Ergotherapie lernen, verweisen sie doch auf die soziomateriellen Voraussetzungen von ‚Alltag‘ als Praxis und erweitern so den Blick auf ‚Alltag‘, der allzu oft schlicht als gegebener und voraussetzungsloser Handlungsraum menschlichen Daseins konstruiert wird.“ (16)
Formal übersetzt sie diesen Lerneffekt in zwei verschieden disziplinär adressierte Ergebnisteile. Überzeugen kann Mewes vor allem, indem sie anhand ihrer ethnografischen Forschung produktive weitergehende Fragestellungen für die Ergotherapie entwickelt und gemäß ihres kollaborativen Anspruchs und Vorgehens gleichsam darauf verzichtet, ‚von außen‘ endgültige Antworten zu formulieren. Während ‚Alltag‘ aus ergotherapeutischer Sicht als ‚außerklinisch‘ verstanden wird, zeigt Mewes eindrücklich, dass die ergotherapeutischen Praktiken allerdings sehr wohl Alltag herstellen – wenn auch einen zumeist ‚ungewöhnlichen‘. Die Klinik sollte insofern gerade nicht als „Nicht-Alltag“ oder „Gegenentwurf zum Alltag“ (209 f., 226 f.) verstanden werden. Die unmittelbaren „Logiken der Praxis“ (214 ff.) fokussierend betont Mewes, dass dieser Alltag als soziomateriell situierte Praxis weder eine einfache Kontinuität noch einen eindeutigen Bruch mit dem außerklinischen Alltag aufweist. Alltag findet also in der Klinik statt und wird durch die Ergotherapie hergestellt. Daraus ergeben sich zwei für die Ergotherapie relevante Problemstellungen, die weiterer empirischer wie theoretischer Aufarbeitung sowie aktiv getroffener normativer Entscheidungen bedürfen. Erstens kann inner-klinischer Alltag aufgrund seiner Situiertheit nicht als ‚Simulation‘ des außerklinischen Alltags verstanden werden und eine entsprechende Übertragung aus der Klinik ‚nach Hause‘ ist nicht möglich (126). (Wie) Muss also die Verbindung zwischen innerhalb und außerhalb der Klinik konzipiert und auch praktisch-therapeutisch gestaltet werden? Zweitens rückt aber genau diese ‚Lücke‘ zugleich die implizit normativen Ausrichtungen des in der Ergotherapie eingeübten Alltagsverständnisses in den Blick (228): Alltag ist hier eindeutig orientiert an einem vor-digitalen Umgang mit Objekten und funktioniert insbesondere nach kapitalistischen Produktionsprinzipien. Diese normativen Implikationen wiederum leiten über zu einer dritten Frage: Wenn Alltag eine verkörperte sozio-materielle Praxis ist, die sich durch wiederholte Einübung auszeichnet, kann Mensch ihn dann im strikten Sinne nicht können? (226) Oder sind es ganz besondere normative gesellschaftliche Anforderungen, die für Menschen in einer psychiatrischen Krise zur Herausforderung werden? Eine vorschnelle, einseitige Verortung von Fähigkeiten im Individuum läuft insofern Gefahr, die Verantwortung für das ‚Scheitern‘ von Alltag auf die erkrankte Person zu übertragen.
Mewes Problematisierung des Alltagsbegriffs stellt ebenso eine für die Europäische Ethnologie sowie die internationale Sozial- und Kulturanthropologie relevante Ressource für weitere Konzeptarbeit dar. Sie vermag es, die Vorzüge einer praxistheoretischen Analyse von ‚Alltag‘ herauszuarbeiten, indem sie insbesondere die Zentralstellung von Objekten und die Betonung verkörperter Tätigkeiten als ‚Alltagskönnen‘ (206, 226) hervorhebt. Damit wird Alltag einerseits als praktische Errungenschaft seiner soziomateriellen Möglichkeitsbedingungen greifbar, während gleichzeitig das ‚learning by doing‘ individueller Akteur*innen thematisiert werden kann. Dieses Potenzial hätte Mewes durch feingliedrigere Bezugnahmen zu ethnografischen Arbeiten innerhalb der Disziplin sowie auch in den enger gefassten subdisziplinären Bereichen der Medizinanthropologie und ‚Krankenhausethnografie‘ noch stärker im Hinblick auf Generalisierbarkeit und Spezifik des Feldes psychiatrischer Ergotherapie herausarbeiten können.
Festzuhalten bleibt: Julie Sascia Mewes gelingt mit ihrer ersten Monografie die detaillierte Beschreibung des ungewöhnlichen, wenn auch nicht außeralltäglichen Geschehens in psychiatrischen Kliniken. Mit respektvollem Feingefühl porträtiert sie die Spezifik der therapeutischen ‚Alltagswerkstatt‘ Ergotherapie und mit sprachlicher Gewandtheit erzeugt sie obendrein eine angenehme Lektüre. Ihre Diskussion des Alltagsbegriffs generiert relevante Fragestellungen für die ergotherapeutische Betätigungswissenschaft und legt die Grundlage für weitere Zusammenarbeiten mit den ethnografisch arbeitenden Sozialwissenschaften, für die eine solche Kooperation ebenso gewinnbringend erscheint.