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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Matthias Kaltenbrunner

Das global vernetzte Dorf. Eine Migrationsgeschichte

Frankfurt am Main/New York 2017, Campus, 601 Seiten mit 41 Abbildungen, 16 Grafiken, 3 Karten, ISBN 978-3-593-50779-8
Rezensiert von Gunther Hirschfelder
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 03.07.2020

Das Thema Migration beschäftigt die Vergleichende Kulturwissenschaft spätestens seit den grundlegenden Arbeiten Peter Assions in den 1980er Jahren; im frühen 21. Jahrhundert ist „Migration“ beinahe zu einer Leitperspektive unseres Faches geworden. Dabei richtet sich das Interesse zunehmend auf die Migrationsphänomene der Gegenwart, die jedoch eher selten in ihren historischen Bezügen gesehen werden. Die an dieser Stelle zu besprechende geschichtswissenschaftliche Studie von Matthias Kaltenbrunner, die im Herbst 2015 am Doktoratskolleg Galizien der Universität Wien angenommen wurde, zeigt, wie zielführend eine Analyse der Gegenwart vor dem Hintergrund ihrer Genese sein kann. Allerdings ist der Titel viel zu allgemein gehalten und erlaubt keine hinreichenden Rückschlüsse auf den Inhalt.

Im Zentrum der Arbeit steht mit Ostgalizien eine Region, die wie kaum eine andere Paradigma für die Dynamik und das Drama europäischer und besonders osteuropäischer Geschichte ist. Die Region war im späten 19. Jahrhundert Teil des „Königreichs Galizien und Lodomerien“, das zur österreichischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie gehörte, wurde nach erbitterten Kämpfen in der Zwischenkriegszeit der „Zweiten Republik Polen“ zugeschlagen, 1939 der „Ukrainischen Sowjetrepublik“ einverleibt, geriet 1941 unter die Besatzungsherrschaft Hitler-Deutschlands und wurde 1944 sowjetisch. Makaber, doch zutreffend hat der amerikanische Historiker Timothy Snyder diesen Teil Europas in seinem gleichnamigen Meisterwerk 2011 „Bloodlands“ genannt.

Matthias Kaltenbrunner wählt für seine Studie einen ebenso innovativen wie zielführenden Ansatz. Er greift das Konzept des „transnational village“ auf, das die amerikanische Soziologin Peggy Levitt Ende der 1990er Jahre entwickelt hatte, und passt es an seinen Untersuchungsgegenstand an. Aus dem transnationalen macht er auf diese Weise ein globales Dorf, das in seinen Vernetzungen analysiert wird. Im Grunde handelt es sich um eine dörfliche Region, die als Ausgangs- und Bezugspunkt für verschiedenste Raum- und Sozialbezüge dient. Der konkrete Untersuchungsort ist das zwischen den westukrainischen Städten Ivano-Frankivsk und Chernivtsi (Czernovitz) gelegene Dorf Rusiv, für das eher zufällig eine recht gute Quellenlage existiert. Kaltenbrunner hat bemerkenswerter Weise neben russisch- und englischsprachigen Quellen vor allem eine Vielzahl von ukrainischen Dokumenten und Transkripten in seine Analyse einbezogen und ‑ auch und vor allem aufgrund seiner guten Ukrainischkenntnisse ‑ ein reichhaltiges empirisches Material erhoben. Hier zeigt sich einmal mehr wie wichtig Sprachkenntnisse für derartige Projekte sind, sei es um Quellen lesen und verstehen zu können oder um überhaupt Zugang zu einem schwierigen Feld zu bekommen.

Die umfangreiche und materialsatte Monografie beginnt mit einer fulminanten Einleitung, die Matthias Kaltenbrunner als profunden Kenner der galizisch-ukrainischen wie auch der habsburgischen und der sowjetischen Geschichte ausweisen. Nach den methodischen und disziplinären Hinführungen sind dann besonders die Schilderungen der galizischen Dörfer des ausgehenden 19. und des frühen 20. Jahrhunderts spannend zu lesen, geht es hier doch vor allem um den dörflichen Alltag, der insbesondere in seinen sozioökonomischen Strukturen plastisch herausgearbeitet wird. Vor allem die extreme Armut erweist sich als treibender Push-Faktor für die Migrationsbewegungen, die, getrieben durch mediale Agenten, in den 1890er Jahren Fahrt aufnahmen. Netzwerkbedingt war das Ziel der Migrierenden das ländliche Kanada, in das allein zwischen 1898 und 1902 Dutzende Familien aus der Region Ostgalizien einwanderten. Die widrigen Bedingungen, die Details von Überfahrt und Ansiedlung und vor allem auch die Hoffnungen und Ängste werden vom Autor vielschichtig und transparent geschildert.

Für die weiteren Zeitabschnitte zeigt sich dann, wie sehr die Migrationsbewegungen von den organisatorischen Freiräumen, den narrativen Verhandlungen und auch von den historischen und politischen Rahmenbedingungen abhängig waren. So bestanden zwar zu Kanada rasch Beziehungen, die erstaunlich eng geknüpft blieben und die seit den 1950er Jahren auch zu gegenseitigen Besuchen führten. Doch erschien seit den 1920er Jahren vielen auch die Auswanderung in die junge Sowjetunion attraktiv. Die Zeit des stalinistischen Terrors und der grauenvollen NS-Herrschaft trafen die Region hart; die multiethnische Gemeinschaft Rusivs wurde regelrecht zerrieben, fiel teils der Shoa, teils den Kriegshandlungen zum Opfer oder sie war von Zwangsdeportationen in die östlichen und nördlichen Teile der Sowjetunion betroffen. Insgesamt zeigt sich, dass migrantische Netzwerke sowohl Stabilität als auch kritische Masse benötigen. So nimmt es nicht wunder, dass die Netzwerke bisweilen schwach und wenig tragfähig waren, während vor allem zu Kanada enge familiäre Bande bestanden. Erstaunlich ist, dass auch im Kalten Krieg von einer hermetisch abgeschlossenen Sowjetunion keine Rede sein kann, denn die Paketpost funktionierte seit den 1950er Jahren tadellos, so dass Konsum- und Prestigegüter von Kanada nach Galizien gelangten, und bald kamen auch Reisende auf Besuch in die ‚alte Heimat‘. Erst im späten 20. Jahrhundert rissen die Verbindungen nach Kanada allmählich ab, wohingegen sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend sowjetische und dann auch postsowjetische Netzwerke – durch Telefonate, Briefe und Besuche, auch oder gerade ohne Internet – spannen.

Was bleibt als Fazit? Matthias Kaltenbrunner hat eine beeindruckende Studie vorgelegt, akribisch, materialreich, kundig, besonders auch der Fokus auf die Herkunftsregion der Migrierenden ist mit Gewinn zu lesen. Allerdings hätte sich der Rezensent eine stärkere Rezeption der kulturwissenschaftlichen und historischen Migrations- und auch der Postsozialismusforschung gewünscht. Zudem hätte der enorme Faktenreichtum hie und da noch stärker gebündelt werden können.