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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Lorenz Peiffer/Arthur Heinrich (Hg.)

Juden im Sport in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Ein historisches Handbuch für Nordrhein-Westfalen

Göttingen 2019, Wallstein, 807 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8353-3397-0
Rezensiert von Markwart Herzog
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 03.07.2020

In deutschen Turn- und Sportvereinen waren bereits während der Kaiserzeit zahlreiche Bürger jüdischer Herkunft als aktive Sportler, als Funktionäre in den Leitungsgremien von Vereinen und Verbänden, als Pioniere im Journalismus oder als Ärzte und Mäzene zu finden. Sie gehörten einerseits zu den Initiatoren der Einführung und Verbreitung unterschiedlicher Sportarten und profitierten andererseits vom Sport als einem sehr wirkungsvollen Medium, durch das sie in die deutsche Gesellschaft integriert wurden. In aller Regel handelte es sich bei ihnen um assimilierte Juden, ihre Religion war für sie von marginaler Bedeutung, viele waren dezidiert deutschnational eingestellt, viele hatten sich im Ersten Weltkrieg freiwillig zu den Waffen gemeldet.

Sie wurden nach dem 30. Januar 1933 in großer Zahl aus den paritätischen Turn- und Sportvereinen verdrängt, sind ausgetreten, wurden ausgeschlossen. Infolgedessen mussten sie sich in exklusiv jüdischen Vereinen organisieren, die wiederum in jüdischen Sportverbänden organisiert waren (Deutscher Makkabikreis und Sportbund Schild des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten). Die Forschung spricht von einer „Scheinblüte“ des jüdischen Sports im „Dritten Reich“. Diese jüdische Sportkultur war ein wichtiger Faktor in der nationalsozialistischen Sportaußenpolitik: Das NS-Regime gaukelte der Weltöffentlichkeit die Illusion vor, Athleten jüdischer Abstammung könnten dem Sport ungehindert nachgehen, sich sogar für die Olympischen Spiele 1936 qualifizieren. Mit dieser Strategie war die Reichssportführung bestrebt, einen Boykott der Spiele, vor allem von Seiten der USA, zu verhindern.

Über die Rolle von deutschen Bürgern jüdischer Herkunft in der Geschichte des Sports während des Deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik und über jüdische Sportvereine lagen bis um das Jahr 2000 kaum wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse vor. Das galt vor allem für den Fußballsport, der, von wenigen Ausnahmen abgesehen, überhaupt kein Thema wissenschaftlicher Forschung war.

Dennoch sind bereits vor der Jahrtausendwende mehrere Veröffentlichungen speziell über den jüdischen Sport in Deutschland erschienen. Diese Pionierarbeiten verdanken wir unter anderem dem Nestor der Zeitgeschichte des Sports in Deutschland Hajo Bernett [1], dessen Schüler Hans Joachim Teichler [2] und dem Kölner Sporthistoriker Manfred Lämmer [3]. Gleichwohl wurde der jüdische Sport im „Dritten Reich“ bisher nicht in der Dichte und Breite erforscht wie von dem Mitherausgeber des hier anzuzeigenden Bandes Lorenz Peiffer, emeritierter Professor für Sportpädagogik der Universität Hannover. Ihm verdanken wir bereits ein regionalhistorisches Handbuch zu dieser Thematik [4] sowie ein Handbuch speziell zum jüdischen Fußballsport [5].

Das von Peiffer gemeinsam mit Arthur Heinrich herausgegebene Handbuch über das Gebiet des heutigen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen schlägt ein weiteres Kapitel dieser Spurensuche auf. Es umfasst über 800 Seiten. Behandelt werden nicht nur die urbanen Ballungsräume, sondern auch der Sport in ländlichen Regionen, der aufgrund der dürftigen Quellensituation in der Sportgeschichte viel zu selten beachtet wird. Auf ein kurzes Vorwort und eine Einleitung folgt eine nach Orten gegliederte Darstellung der Aktivitäten und der Selbstorganisation der Sportler jüdischer Herkunft bis zur Pogromnacht 1938. Ein von Florian Luecke verfasster Exkurs behandelt den heutigen Kreis Lippe. Auf diesen Hauptteil folgen Biografien von acht Sportlern und Funktionären jüdischer Abstammung, unter anderem die des Zahnarztes Dr. Paul Eichengrün, der bis 1933 als stellvertretender Vorsitzender des FC Schalke 04 firmierte (798–801, vgl. 52f., 56, 402). Reproduktionen zahlreicher archivalischer Dokumente und historischer Fotografien bieten eine Fülle bisher nie gezeigter visueller Quellen aus der deutsch-jüdischen Sportgeschichte.

In der von ihm allein verfassten Einleitung weist Peiffer hin auf die marginale Bedeutung des Sports im Alltag jüdischer Gemeinden bis zum Frühjahr 1933, ein Faktum, das den hohen Grad der Integration von Bürgern jüdischer Herkunft in die deutsche Gesellschaft spiegelt. Daran hatte auch der in den paritätischen Vereinen organisierte Sport als Sozialisationsagentur einen nicht zu vernachlässigenden Anteil (15).

Eine Besonderheit war jedoch der Verband jüdisch-neutraler Turn- und Sportvereine Westdeutschlands (Vintus), der bereits 1925 gegründet wurde. Die Initiative dazu ging von dem seit 1923 bestehenden Turn- und Sportclub Hakoah Essen aus, dem der Westdeutsche Spielverband (WSV), einer der damaligen Landesverbände des Deutschen Fußball-Bundes, die Aufnahme verweigert hatte. Die Vor- und Gründungsgeschichte und die Entwicklung des in seiner Art einzigartigen Vintus bis zu seiner Auflösung im Jahr 1933 „ist bislang nur in Ansätzen erforscht und liegt noch weitgehend im Dunkeln“ (24); die wenigen bekannten Fakten fasst die Einleitung des Handbuchs zusammen (24–35). Die sich daran anschließenden Abschnitte resümieren die fortschreitende Selbstorganisation der Sporttreibenden jüdischer Herkunft nach dem 30. Januar 1933, ihre Schwierigkeiten beim Zugang zu kommunalen Sportplätzen und Turnhallen, ihr Ausschluss aus den öffentlichen Badeanstalten und andere Schikanen und schließlich das Ende dieser jüdischen Sportkultur im nationalsozialistischen Deutschland. Nach dem Ende der Olympischen Sommerspiele in Berlin hatten die jüdischen Sportvereine die ihnen zugedachte außenpolitische Rolle gespielt, spätestens im zeitlichen Umfeld der Novemberpogrome 1938 wurden sie liquidiert (61–67). Ihre Bedeutung im Alltagsleben der Jahre 1933 bis 1938 fasst Peiffer wie folgt zusammen: „Neben der Synagoge als Zentrum des religiösen Lebens wurde der Sportplatz, die Turnhalle, der Tischtennisraum zu einem zweiten Zentrum in den jüdischen Gemeinden.“ (68)

Die einzelnen, den Kommunen gewidmeten Aufsätze, in denen insgesamt 136 jüdische Vereine dargestellt werden, haben Peiffer und Heinrich untereinander aufgeteilt. Sie gliedern sich anhand einer klaren Struktur: Auf allgemeine Informationen über die jeweilige Stadt oder Gemeinde folgen Abschnitte über die Rolle deutsch-jüdischer Athleten im Sportleben vor 1933, ihren Ausschluss aus den paritätischen Turn- und Sportvereinen und die weiteren Entwicklungen des jüdischen Sports in den jeweiligen Kommunen zwischen 1933 und 1938, ergänzt mit ausführlichen Listen der jeweiligen Vereinsmitglieder.

Das Handbuch bietet eine Gesamtdarstellung des jüdischen Sports im heutigen Nordrhein-Westfalen und der nach den Olympischen Sommerspielen 1936 sich radikalisierenden Entrechtung jüdischer Sportler, die schließlich in die Vernichtung des europäischen Judentums mündete. So umfassend das Handbuch recherchiert ist, öffnet es dennoch Räume für weitere Forschungen: Für nur sieben Kommunen konnten die Herausgeber in der Rubrik „Ausschluss jüdischer Mitglieder aus den Turn- und Sportvereinen ab 1933“ einige, wenn auch spärliche Hinweise liefern. Sie führen sogar Beispiele von Vereinen an, die an ihren jüdischen Mitgliedern festzuhalten bestrebt waren. Angesichts dieser mageren Datenbasis erscheint die pauschale Behauptung, die örtlichen Turn- und Sportvereine hätten ihre jüdischen Mitglieder ohne Weisungen von oben, „sondern im vorauseilenden Gehorsam – freiwillig!“ (67) ausgeschlossen, schwach begründet. In zahlreichen Fällen mag das stimmen, vor allem bei jenen Vereinen, die in Verbänden organisiert waren, die einen Ausschluss jüdischer Sportler beschlossen hatten (z. B. Turnen, Boxen, Rudern). Darüber hinaus weisen die Herausgeber am Beispiel Kölns und Krefelds (44–46, 485–487, 563) zwar auf kommunale Initiativen zur Verdrängung jüdischer Sporttreibender hin. Dennoch schenken sie der Frage nach dem Einfluss der kommunalen Behörden und lokalen Parteiorganisationen, der Stadtämter für Leibesübungen und der 1933/34 im gesamten Deutschen Reich agierenden „Sonderkommissare“ zu wenig Aufmerksamkeit. Diese und andere Instanzen hatten tatsächlich klare Weisungen erlassen, denen sich die Vereine schwer entziehen konnten. Entsprechende Eingriffe in die Autonomie des Sports, die nach dem 30. Januar 1933 zunehmend ausgehöhlt wurde, hat die Forschung in kommunalen Archivüberlieferungen zur Genüge belegt. Auf „flächendeckende Recherche in den Stadtarchiven“ haben Peiffer und Heinrich bewusst verzichtet (14). Von einer derartigen gründlichen Recherche sind jedoch Antworten zu erwarten, die auch für Nordrhein-Westfalen weniger monokausal ausfallen könnten, als es die Herausgeber dieses Handbuchs insinuieren.

Ohne großzügige finanzielle Förderung wären die jahrelangen, aufwändigen Recherchen und die Aufbereitung der dabei gewonnenen Daten für dieses sehr informative Handbuch nicht möglich gewesen. Die von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, Essen, dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Münster, dem LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, Bonn, und der Stiftung Irene Bollag-Herzheimer, Basel, aufgebrachten Mittel sind zweifelsohne gut angelegt.

Anmerkungen

[1] Hajo Bernett: Der jüdische Sport im nationalsozialistischen Deutschland, 1933 1938. Schorndorf 1978.

[2] Hans Joachim Teichler: Internationale Sportpolitik im Dritten Reich. Schorndorf 1991, S. 79–104.

[3] Manfred Lämmer (Hg.): Die jüdische Turn- und Sportbewegung in Deutschland 1898–1938. Sankt Augustin 1989.

[4] Lorenz Peiffer u. Henry Wahlig: Juden im Sport während des Nationalsozialismus. Ein historisches Handbuch für Niedersachsen und Bremen. Göttingen 2012.

[5] Lorenz Peiffer u. Henry Wahlig: Jüdische Fußballvereine im nationalsozialistischen Deutschland. Eine Spurensuche. Göttingen 2015.