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Sarah Scholl-Schneider/Moritz Kropp (Hg.)

Migration und Generation. Volkskundlich-ethnologische Perspektiven auf das östliche Europa

(Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie/Volkskunde 16), Münster/New York 2018, Waxmann, 274 Seiten mit Abbildungen, Tabellen, ISBN 978-3-8309-3930-6
Rezensiert von Simon Goebel
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 10.07.2020

Der 2018 von Sarah Scholl-Schneider und Moritz Kropp herausgegebene Sammelband „Migration und Generation. Volkskundlich-ethnologische Perspektiven auf das östliche Europa“ geht auf eine gleichnamige Tagung der Fachkommission Volkskunde des Herder-Forschungsrats in Kooperation mit dem Schroubek-Fonds Östliches Europa und der Gesellschaft für Volkskunde in Rheinland-Pfalz im November 2015 zurück. Die Autor*innen der elf Beiträge reflektieren in unterschiedlicher Art, teilweise stärker empirisch und teilweise stärker theoretisch ausgerichtet, den Nexus von Migration und Generation. Damit greifen sie einen bedeutsamen Zusammenhang auf, mit dem sich migrationswissenschaftliche Arbeiten bislang selten oder in unzureichender Weise beschäftigt haben. Häufig werden Vorstellungen einer homologen ersten, zweiten und dritten Generation von Einwanderer*innen als unhinterfragt vorausgesetzt und so generationale Entitäten suggeriert. Gleichsam kritisch wird ein solches Generationenkonzept in der Migrationsforschung rezipiert, insbesondere wenn es dazu verwendet wird, die vermeintliche Integrations- respektive Anpassungsleistung der jeweiligen Generation zu erforschen (249). Umso spannender und wichtiger ist es, dass sich der Sammelband diesem Forschungsdesiderat auf unterschiedliche Weise nähert. Die Beiträge untersuchen, welche Bedeutung Generationen als geteilte Erfahrungsräume in Migrationszusammenhängen haben können.

In den meisten Beiträgen wird Generation im Anschluss an Karl Mannheim („Das Problem der Generationen“ von 1928) konzeptualisiert, der Generation als „historisch-soziale Einheit“ (118) beschreibt, „die sich nicht ausschließlich über den zeitlichen Abstand zu vorherigen und folgenden Geburtsjahrgängen differenzieren lässt, sondern zudem aus tiefen und beschleunigten Transformationsprozessen hervorgegangen ist“ (135). Sollte dies aber lediglich bedeuten, einer räumlichen Perspektive (Migration) eine zeitlich Perspektive (Generation) hinzuzufügen, wie die Herausgeber*innen einleitend schreiben (7), wäre wohl kaum etwas gewonnen, denn selbstverständlich ist die Historisierung von Migrationsprozessen auch ohne den Generationen-Begriff gang und gäbe in der Migrationsforschung. Es ist erfreulich und erkenntnisreich, wie die Autorinnen Elisabeth Kirndörfer, Sabine Zinn-Thomas und Lisa Peppler in ihren Beiträgen das Konzept Generation mit Migration verknüpfen und den Mannheimschen Generationen-Begriff kritisch weiterentwickeln. Dafür greifen sie auf Autor*innen wie Ulrike Jureit zurück, die 2006 mit „Generationenforschung“ einschlägig publiziert hat, und unterscheiden „zwischen Generation als Selbst- bzw. Fremdthematisierungskategorie einerseits und als Analysekategorie andererseits“ (148, 251). In dieser Herangehensweise ist Generation nicht bloß ein Forschungsgegenstand a priori oder eine durch äußere Umstände determinierte Kohorte. Stattdessen wird Generation zu einem changierenden, ambivalenten, intentional-zuschreibenden Begriff, der induktiv aus den zahlreichen qualitativen Interviews, also aus der Empirie, abgeleitet werden kann, und zum anderen lässt sich deduktiv überprüfen, ob Generation als analytisches Konzept brauchbar ist, ob also tatsächlich bestimmte Transformationsprozesse Generationen hervorgebracht haben.

Verstanden als Selbst- bzw. Fremdthematisierungskategorie zeigt Sabine Zinn-Thomas den normativen Charakter von Generation auf, in dem der Begriff „eine kollektive Identität“ organisiert und damit analytisch als „spezifisches Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv“ (158) zu verstehen sei. Damit würde die kommunikative Herstellung von Generationen zu einem „Vergemeinschaftungsprozess“ und Generation selbst zum „Gegenstand und Ergebnis kollektiver Verständigung“ (ebd.). Dies belegt Zinn-Thomas empirisch am Beispiel des „Gesundheitsverständnis[ses] und -verhalten[s] russlanddeutscher Aussiedlerinnen und Aussiedler“ (154). Im Sinne des Titels ihres Beitrags „Doing Generation?“ zeigt sie, wie im alltäglichen Austausch von jüngeren und älteren Personen ihres Samples über die Themen Gesundheit und Schönheit generationenspezifische Differenzlinien generiert werden. Die Konstruktion von Generation wird somit als relevante Zuschreibungskategorie evident, die sich dadurch in Selbst- und Fremdbildern sowie in Identitätskonzeptionen manifestiert. Dafür „spielen“ nicht zuletzt „Medien eine wichtige Rolle“ (158), indem sie den kollektiven Verständigungsprozess kommunikativ verbreiten.

Elisabeth Kirndörfer untersucht in ihrem Beitrag „das Nachwirken der Zäsur von 1989 in [den] Biographien“ (114) von Menschen, die – in der DDR geboren – nach 1989 in westdeutsche Bundesländer gezogen, später jedoch wieder an den Ort ihrer Herkunft zurückgekehrt sind. Dabei kann Kirndörfer zeigen, dass die Erklärungen für individuelle Lebensumstände und alltägliche Praxen nicht allein auf zeitlicher und räumlicher Verortung gründen müssen, da weitaus mehr Faktoren relevant sind. Mit Blick auf ihr empirisches Beispiel schreibt sie, dass „[sich die eruptive Kraft des Mauerfalls] je nach familiärem Kontext, nach sozialen Räumen des Aufwachsens, nach subjektiv-biographischer Navigation […] unterschiedlich aus[wirkt]“ (120). Im Sinne postmigrantischer Ansätze zeigt die Autorin, dass die geteilte Erfahrung des Gehens und Zurückkommens zwar Zugehörigkeitsgefühle auslösen kann, gleichwohl keineswegs identische oder homologe Biografien erzeugt. Damit bringt sie Generation in ein relationales Verhältnis zu anderen Kategorien und verhindert die Verwendung von Generation als essentialistische Kategorie.

Daran lässt sich argumentativ der Beitrag von Lisa Peppler anschließen, der aus einer dezidiert kulturanthropologisch-migrationswissenschaftlichen Perspektive äußerst aufschlussreich die Möglichkeit theoretisiert, Generation als Analysekategorie in der Migrationsforschung zu verwenden. Auf Grundlage empirischer Untersuchungen zur Migration von Ärztinnen und Ärzten aus der Türkei nach Deutschland konstatiert Peppler, dass die Fremdbezeichnung als spezifische, insbesondere migrantische Generation als unzulässige Etikettierung aufgefasst werden kann, die „ethnisierende, negative Attribute“ (252) enthält. Um Generation migrationstheoretisch fruchtbar zu machen, relativiert sie die Bedeutung der Zugehörigkeit zu einer Generation. Generation als alleiniger Erklärungsansatz für Verhaltensweisen müsse scheitern. Stattdessen fordert sie eine „intersektionale Perspektive“ (253), die das Konzept Generation „stets zu anderen sozialen Kategorien in Bezug“ (265) setzt: „Erst mit weiteren Einfluss gebenden Aspekten werden Generationeneffekte als solche sichtbar.“ (ebd.) Dies verdeutlicht sie am Beispiel der Kontextualisierung von Migration und Generation mit den sozialen Kategorien „Milieu“, „Berufsgruppe“ und „Familie“ (258 f.).

Interessant ist auch die Aufdeckung unterschiedlicher alltäglicher Verwendungsweisen des Generationen-Begriffs bei Judith Schmidt. Sie untersucht in ihrem Beitrag den Umgang von Landwirt*innen mit ausländischen Arbeitskräften und findet heraus, dass Generation einerseits zur Beschreibung der Generationenabfolge des Landwirtschaftsbetriebs sowie andererseits zur Beschreibung unterschiedlicher Gruppen von Saisonarbeiter*innen Verwendung findet. Damit seien, so Schmidt, „unterschiedliche Zeitstrukturen“ (188) erkennbar, nämlich eine „kontinuierliche, autoritäre Zeitstruktur der Generationenabfolge der Landwirte und […] die kurzlebige, sprunghafte Generationenabfolge der saisonalen Arbeitskräfte“ (ebd.).

Die Beiträge von Laura Wehr, Uta Bretschneider, Sandra Kreisslová und Jana Nosková, Susanne Greiter, Stephanie Sommer, Anna Flack sowie Svenja Reinke-Borsdorf beschäftigen sich u. a. mit Erinnerungen von DDR-Übersiedler-Eltern und -Kindern, mit dem Familiengedächtnis im Kontext von Flucht und Vertreibung sowie mit Generationen-Verständnissen im Kontext der Migration von Russ*innen. Die Autorinnen einiger dieser Beiträge liefern leider nur ansatzweise theoretische Überlegungen, was dazu führt, dass die Inhalte des umfangreich aufgezeigten und zitierten, spannenden empirischen Materials lediglich im Sinne Mannheims als zeitlich begrenzte Erlebnisgemeinschaft verstanden und dadurch deterministisch bzw. essentialistisch genutzt werden. Dadurch werden Menschen aufgrund äußerer Umstände wie historischer Ereignisse als Erlebnisgemeinschaft konstruiert; die Auswahl der interviewten Personen prädisponiert diese als Generation. Die forschungsleitende Erwartung, dass es sich bei diesen Personen auch um eine Generation handelt, wird in den Beiträgen kaum reflektiert. Die ergänzende Bezugnahme auf andere soziale Kategorien fehlt.

Bedauerlich ist, dass die gelungenen theoretischen Reflexionen erst in der Mitte bzw. am Ende des Sammelbandes vorzufinden sind. Leser*innen, die nach einem analytisch-theoretischen Nexus von Migration und Generation suchen, werden in den hauptsächlich empirisch-deskriptiv vorgehenden Beiträgen am Anfang des Sammelbandes nicht fündig. Die Struktur der Beiträge hätte entlang einer Theorie-Empirie-Systematik möglicherweise nachvollziehbarer gestaltet werden können.

Insgesamt fokussiert der Sammelband ein wichtiges Thema, das die Migrationsforschung bereichern kann. Neben einigen sehr erkenntnisreichen, weiterführenden und migrationswissenschaftlich anschlussfähigen Beiträgen, enthält er auch Beiträge, die migrations- und generationstheoretisch nur wenig elaboriert sind.