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Aktuelle Rezensionen


Peter Nicolaus

Adventskalender – Faszination und Sammeln

Wuppertal 2019, advent-art-verlag, 292 Seiten mit 680 Abbildungen, überwiegend farbig, 18 Tabellen, ISBN 978-3-0003-3726-0
Rezensiert von Esther Gajek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 10.07.2020

Fünfundzwanzig Jahre hat es gedauert, bis der Wuppertaler Adventskalender-Sammler Peter Nicolaus das vorliegende Werk fertiggestellt hat. Ein Handbuch ist entstanden: groß im Format, gut durchdacht, vorzüglich mit fast 700 Abbildungen illustriert und vor allem gesättigt mit neuen Forschungsergebnissen. Wie so oft im Bereich der Luxuspapier-Forschung tritt ein Laie an und entwickelt aus seiner Leidenschaft für einen Objektbestand ein Bedürfnis, offenen Fragen systematisch nachzugehen und differenzierte Antworten zu finden. Er generiert damit über die Jahre und Jahrzehnte ein unschätzbares Wissen, das nun auch einer breiten Allgemeinheit zur Verfügung steht und in keiner Fachbibliothek fehlen darf.

Der Aufbau der Monografie erfolgt einerseits nach einem Schema, das in der einschlägigen Forschung üblich ist: die Darstellung nach Verlagen. Ausgewählte Produktionsstätten werden jeweils in ihrer Genese vorgeführt, die Verleger vorgestellt, weitere Produkte, meist Jahreskalender, Kinderbücher oder andere Gebrauchsgrafik, benannt. Peter Nicolaus nimmt fast durchweg Verlage in den Blick, die bisher nicht ausführlich behandelt worden sind, allen voran jene aus der Zeit zwischen 1920 und 1960: den J. F. Schreiber Verlag in Esslingen, die St. Johannis-Druckerei in Lahr, den Walter Flechsig Verlag in Dresden und München, den Rudolf Schneider-Verlag in Reichenau an der Saale, die Mitteldeutsche Kunstanstalt in Heidenau, den H. M. Johne Verlag in Wildberg bei Dresden, den HAKU-Kunstverlag in Kaufbeuren, den Günther-Verlag in Stuttgart, den Dennoch-Verlag aus Deisenhofen, den Pahl-Verlag aus Hamburg sowie den Begro-Adventskalender Verlag aus Rosenheim.

Was den vorliegenden Band jedoch von den bisher erschienenen Werken gravierend unterscheidet, ist der Versuch einer vollständigen Darstellung aller jeweils bisher bekannten erschienenen Adventskalender eines Verlages in einer Tabelle, die exakt die Titel bzw. Motive umfasst, das Impressum vermerkt, Formate und das Jahr der Erstauflage enthält sowie Anmerkungen zu den Illustrator*innen macht und die Adventskalender für Sammler*innen in verschiedene Preisgruppen einordnet. Gerade aus diesen Listen gehen neue Informationen hervor, die äußerst hilfreich sind, wenn es darum geht, Kontinuitäten oder Novitäten auszumachen, vor allem aber vorhandene Stücke sehr eindeutig zuordnen zu können und zu inventarisieren. Sie machen den Band zu einem wahrhaften Nachschlagewerk.

In anderen Büchern und Katalogen über Adventskalender wurden, wie hier auch, ausgewählte Illustrator*innen und deren Adventskalender vorgestellt. Peter Nicolaus führt das jedoch weiter, sei es in der Quantität (20 Künstler*innen), sei es in der Qualität, weil er profund recherchiert hat und teilweise die betagten Männer und Frauen noch selber befragt hat. So werden auch Zeichnungen von Entwürfen, Privatfotografien und Hintergrundinformationen (z. B. zur Zusammenarbeit mit den Verlagen) einer breiteren Leserschaft zugänglich gemacht.

Gänzlich neu gegenüber bisherigen Werken über Adventskalender sind die ersten sowie die letzten Kapitel. Der Autor beginnt mit einer „kleinen Sensation“ (22), der Vorstellung des „ersten gedruckten Adventskalenders“ (22), eines Klappbuches des Nürnberger Verlages Engel und Erne aus dem Jahr 1900, bei dem die Adventssonntage gezählt und mit einer spezifischen Handlung verbunden werden. Der Auftakt ist einerseits überzeugend und gelungen, doch lässt er auch Zweifel aufkommen, denn der Beginn des Zeitzählens im Advent mit gedruckten Papiererzeugnissen könnte auch auf das Jahr 1895 festgelegt werden, dem Ersterscheinen der stilisierten Blätter, mit denen täglich der Adventsbaum geschmückt werden sollte. Aber das sind Spitzfindigkeiten angesichts der großen Leistung des vorliegenden Bandes.

Auf den weiteren Seiten im Einführungsteil werden Themen aufgeworfen, die bisher noch gar nicht in den Blick kamen, allen voran jene vom ersten Türchenkalender (1918), Spezialadventskalendern (z. B. Adventsuhren, dreidimensionalen Formen und Ausgaben zum Ausmalen), Besonderheiten (z. B. Prägekalendern) und Motiven. Ob Engelsdarstellungen, Abbildungen von St. Nikolaus und Weihnachtsmann, Pop-Art-Deckblätter oder den ersten Nachkriegskalender – Peter Nicolaus dringt in neue Bereiche vor. Auch das Kapitel über Werbeadventskalender, das einen besonders ausführlichen Bildteil enthält, vermag zu überzeugen, weil hier erstmals Zusammenhänge dargestellt und Entwicklungslinien deutlich werden.

Ebenfalls zu loben ist eines der letzten Kapitel, in dem exemplarisch Besitzer*innen von Adventskalendern ihre Kindheitserinnerungen an ihre Lieblingsstücke erzählen. Gerade aus diesen Geschichten geht hervor, welche Bedeutung die papierenen Zählgeräte für die damaligen Jungen und Mädchen hatten und bis ins hohe Alter hin haben, aber auch wie viel Zeittypisches aus dem Gebrauch der zum Teil ganz bescheidenen Druckerzeugnisse hervorgeht. Adventskalender, die über die Jahre immer wieder verwendet wurden, waren keine Seltenheit, ebenso solche, die mit mehreren Geschwistern geteilt wurden. Die vielbenutzten Exemplare aus Papier und Pappe zeigen deutliche Gebrauchsspuren – sie gerieten nicht selten zu Sinnbildern für eine karge Nachkriegszeit, ebenso wie für die aufopferungsvolle Liebe der Eltern, für Flucht oder einprägsame Ereignisse in der Vorweihnachtszeit.

Weitere Kapitel runden den Band ab: die eher humoristisch zu verstehenden „Erklärungsversuche eines weltweiten Phänomens“ unter dem Titel „Jetzt schlägt’s aber 24!“, Bemerkungen zur Pflege und Aufbewahrung sowie die einleitenden Seiten zur Einführung in das Sammeln.

Die Fülle der Belegstücke aus der Sammlung des Autors, geringfügig ergänzt durch Bestände von Sammlerkolleg*innen, ist äußerst beeindruckend. Dass jedes Exemplar auch sehr genau beschrieben und damit in mehrfacher Hinsicht charakterisiert wird, stellt einen großen Wert dar. Für den Folgeband, gerne nicht erst in 25 Jahren, wünscht man sich den Blick bis in die unmittelbare Gegenwart, einen Schwerpunkt auf Entwicklungslinien motivgeschichtlicher Art (Spezifik der Weihnachtsikonografie), ein Kapitel über selbst gefertigte Adventskalender sowie über die Breite der Bilderwelt und Fertigungstechniken von Produkten für Erwachsene, ergänzt durch ein Kapitel auf die Entwicklung der Türcheninhalte von einfachen Bildern bis hin zu Geschenken oder Gewinnspielen, Rätseln, Meditationsanregungen oder Katzenfutter.

Die vorliegende Monografie lässt sich auf vielerlei Weise lesen: als Nachschlagewerk für öffentliche und private Sammlungen, um Ephemera wie diese exakt datieren und damit inventarisieren zu können; Verlagssigel werden aufgelöst und Künstler*innensignaturen entschlüsselt. Sammler*innen erhalten außerdem Anregungen, um Bestände gezielt zu ergänzen; Händler*innen finden Grundlagen für Preisangaben. In jeder Hinsicht ist der Band aber auch ein Augenschmaus, der eine weihnachtliche Bilderwelt des 20. Jahrhunderts eröffnet. Man kann dem Autor nur gratulieren zu dieser Leistung.