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Aktuelle Rezensionen


Ute Frings-Merck

Zwischen Białystok und Berlin-Westend. Eine ethnografische Studie zu den Begegnungen von Polinnen und Deutschen in informellen Hausarbeitsverhältnissen

Bielefeld 2018, transcript, 271 Seiten, ISBN 978-3-8376-4521-7
Rezensiert von Norbert Cyrus
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 10.07.2020

Eine bemerkenswerte Auswirkung der aktuell grassierenden Coronakrise, ausgelöst durch das Auftreten des hoch ansteckenden Sars-Cov-2 Virus, ist eine veränderte Wahrnehmung und Bewertung der sozialen Welt. Wie schon bei der letzten schweren Wirtschaftskrise spielt dabei eine zugesprochene Systemrelevanz eine entscheidende Rolle. Vor gut zehn Jahren waren es Finanzunternehmen, die sich damit durch öffentliche Mittel vor dem Bankrott hatten retten lassen. In der aktuellen Krise wird eine zugesprochene Systemrelevanz erneut zum Maßstab öffentlicher Aufmerksamkeit und politischer Entscheidungen. Aber diesmal geht es nicht um die Bewertung eines Wirtschaftssektors und seiner Unternehmen, sondern um Professionen, die als „Bodenpersonal der Globalisierung“ [1] das System am Laufen halten. In Zeiten von Ausgangsbeschränkungen verabreden sich Bürger*innen, um sich für den Einsatz systemrelevanter Beschäftigter und Dienstleister von den Balkonen ihrer Wohnungen herab gemeinsam und unter Wahrung der vorgeschriebenen physischen Distanz mit Applaus zu bedanken. Die Anerkennung gilt vor allem dem Personal im Gesundheitsbereich, aber auch denjenigen, die körperbezogene, haushaltsbezogene oder (vermeintlich) einfache Dienstleistungen nicht im ‚office from home‘ erledigen können, sondern sich in der Pflege, im Handel, in der Logistik oder in der Landwirtschaft dem erhöhten Risiko einer Ansteckung aussetzen. Ein weiterer Effekt der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus besteht in der Einsicht, dass einige dieser Bereiche auf den grenzüberschreitenden Einsatz von Wanderarbeiter*innen angewiesen sind. Ohne die Saisonarbeiter*innen aus osteuropäischen Ländern sind Anbau und Ernte von Obst und Gemüse im üblichen Umfang nicht zu schaffen. Und auch für die häusliche Pflege wird das „dirty little secret“ [2] der wohlfahrtsstaatlichen Systeme des Westens zum offenen Geheimnis, wenn direkt darauf hingewiesen wird, dass Einreisebeschränkungen die Funktionsfähigkeit häuslicher Pflegearrangements bedrohen, bei dem sich Frauen aus Osteuropa in einem niedrig entlohnten und oftmals gar nicht oder unzutreffend angemeldetem Beschäftigungsverhältnis abwechseln.

Systemrelevant sind informell beschäftigte Frauen aus Osteuropa in Deutschland aber nicht nur in der privaten Pflege, sondern auch in den nach wie vor im öffentlichen Diskurs kaum thematisierten haushaltsnahen Dienstleistungen: Schätzungsweise 3,6 Millionen Haushalte nehmen bezahlte Dienstleistungen zur Betreuung von Kindern oder der Reinhaltung der Wohnung in Anspruch. Aber nur etwa 20 % dieser Haushalte haben die gesetzlich vorgeschriebene Anmeldung bei der Unfallversicherung vorgenommen (12).

Ute Frings-Merck wendet sich in ihrer als Doktorarbeit am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin angenommenen Untersuchung „Zwischen Białystok und Berlin-Westend. Eine ethnografische Studie zu den Begegnungen von Polinnen und Deutschen in informellen Hausarbeitsverhältnissen“ diesem Sektor zu. Dabei interessiert Ute Frings-Merck insbesondere das Verhältnis von deutschen Arbeitgeberinnen und polnischen Haushaltsarbeiterinnen. Die ethnografische Neugier richtet sich auf die konkrete Gestaltung der Arbeitsverhältnisse als interkulturelle Beziehung. „Vor dem Hintergrund sozialer und ökonomischer Differenzen, kultureller Umwertungen und individueller Sehnsüchte der Akteur*innen in informellen Hausarbeitsverhältnissen interessierten mich“ – so heißt es in der Einleitung – „die auf vielfältige Weise voneinander abhängigen und ineinander verwobenen Beziehungen, die sich als Effekt der europäischen Integration sowie eines globalen, informellen Arbeitsmarktes mit seinen mobilen Alltagspraxen herausgebildet haben.“ (5) Das Forschungsinteresse richtet sich auf das komplexe Verhältnis von Ethnisierung und Vergeschlechtlichung im Kontext informeller Arbeitsbeziehungen von Frauen im Haushalt (18).

Die Beziehung zwischen deutscher Arbeitgeberin und polnischer Haushaltsarbeiterin wird aber nicht nur als Ungleichheitsverhältnis aufgrund des ökonomischen Gefälles gefasst. Darüber hinaus sei daran abzulesen, wie sich „in dieser konkreten Mikrostruktur das Verhältnis der Nachbarstaaten nach den deutschen Verbrechen gegenüber der polnischen Bevölkerung in der Zeit der Besatzung (1939–1945), nach Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung im Zuge der nach 1945 westwärts verschobenen polnischen Grenze und den Jahrzehnten künstlicher Isolation, als eines des persönlichen Umgangs neu konstituiert“ (16). Es geht somit auch um die klassische kulturanthropologische Frage, wie – das ob wird vorausgesetzt – nationale Stereotypisierungen das Beziehungsverhältnis strukturieren. Gefragt wird nach „der Relevanz der ethnischen Kategorien ‚die Deutschen‘ und ‚die Polen‘ in den transnationalen Begegnungen“, und danach, „[w]ie diese Kategorien genutzt [werden], als Argumentationsressource gegen Diskriminierung oder zur Legitimation von sozialer und ökonomischer Differenz“ (18).

Die Autorin geht davon aus, dass sich in einer konkreten ökonomischen Mikrostruktur ‑ wie dem Arbeitsplatz Haushalt ‑ das historisch spannungsgeladene Verhältnis der Nachbarstaaten ablesen lässt (16). Die transnationalen, informellen Hausarbeitsverhältnisse zwischen Deutschen und Polen sind, so die grundlegende Annahme, in Praktiken nationaler Stereotypisierungen eingebettet. Dabei steht im hegemonialen Diskurs der aufgeklärte, zivilisierte Westen dem dunklen und rückständigen Land Polen gegenüber. Vor diesem Hintergrund formuliert die Autorin eine Reihe forschungsanleitender Fragen, die vor allem die Bedeutung ethnischer Kategorien in den untersuchten Beziehungsverhältnissen betreffen: „Wie prägen die sozialen und kulturellen Imaginationen und Zuschreibungen die Begegnung von polnischen Haushaltsarbeiterinnen und deutschen Arbeitgeberinnen?“ (17)

Im zweiten Kapitel wird zur Grundlegung dieses Vorhabens zunächst eine Genealogie des deutsch-polnischen Migrationsraumes entfaltet. Dabei wird die Vorstellung eines durch Rückständigkeit und Armut geprägten Osteuropas als ‚Imagination des Westens‘ aufgezeigt. Anschließend werden die historischen Formen der deutsch-polnischen Migration – gemeint ist die Zuwanderung von Polen nach Deutschland – seit dem Kaiserreich bis in die Gegenwart beschrieben. Abschließend wird betont, dass die transnationale Migration von Polen nach Deutschland eine lange Tradition besitzt. „Ideologisch gerahmt wird diese Migration von einem komplexen Set von Bildern, die einer bereits in der Aufklärung entstandenen und bis heute gültigen neokolonialen Wissensordnung des Westens über den Osten folgt“ (39). Die Motivik der historischen Erzählungen verweise „auf eine weiter bestehende Gültigkeit einer Wissensordnung, die auf dem unhinterfragten Beharren auf der ‚Überlegenheit der westlichen Moderne‘ und der ‚Rückschrittlichkeit der polnischen Gesellschaft‘ basieren“ (39).

Zusätzlich zu dem genuin kulturanthropologischen Aspekt der Gültigkeit und Relevanz kollektiver Selbst- und Fremdzuschreibungen bewegt sich Ute Frings-Merck mit ihrer Untersuchung an der Schnittstelle der feministischen Migrations- und Genderforschung. Entsprechend facettenreich fällt der theoretische Rahmen aus, der im dritten Kapitel vorgestellt wird: Der Bogen der eingeführten Konzepte spannt sich von Transnationalismus, transnationaler Migration und Nomadismus, über Subjektivierung, Global Care Chain, Sorgearbeit und ihre Geringschätzung, geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, rhetorischer Modernisierung und Retraditionalisierung von Geschlechterrollen, ethnisierter Umverteilung der Hausarbeit, Doing Gender und Unterwerfung bis zu Subjektivation. Die theoretischen Ansätze und Konzepte werden prägnant und pointiert vorgestellt. Das Kapitel bietet insgesamt einen sehr guten Überblick zum Stand aktueller theoretischer Ansätze und Konzepte der feministischen Migrations- und Genderforschung und ist für den Einsatz in der Lehre gut geeignet. Für die nachfolgende Analyse stellt dieses Kapitel ein konzeptionelles Mosaik bereit, das den Blick auf unterschiedliche Facetten des empirischen Materials lenkt. Es fehlt jedoch der Versuch einer theoretischen Verknüpfung und Integration der vorgestellten Konzepte mit dem Ziel der Entwicklung einer kohärenten Forschungsperspektive, die insbesondere auch die spezifische Forschungsfrage der Bedeutung kollektiver Selbst- und Fremdzuschreibungen in Mikroverhältnissen stärkt. Anzumerken ist zudem, dass in den folgenden Kapiteln zusätzlich weitere theoretische Konzepte eingeführt werden, so Netzwerk, Soziales Kapital, Freundschaft, Komplizenschaft, Wahlverwandtschaft oder Vertrauen.

Im vierten Kapitel mit dem Titel „Ethnografisches Forschen – ethnografisches Schreiben“ werden Methoden und das Untersuchungssample beschrieben. Ute Frings-Merck hat unterschiedliche Formen der Annäherung an das Forschungsfeld unternommen. Als konkrete Orte der Feldforschung werden private Häuser der Informantinnen sowie öffentliche Räume wie Züge, Bahnhöfe oder Community Treffpunkte genannt. Beobachtungen aus teilnehmender Beobachtung fließen aber eher sporadisch und nicht systematisch ausgewertet in die Analyse ein. Das wesentliche Datenmaterial besteht aus transkribierten Interviews mit 24 Akteur*innen, jeweils zur Hälfte deutschen Arbeitgeber*innen (darunter zwei Männer) und polnischen Haushaltsarbeiterinnen. Leider fehlt eine tabellarische Übersicht mit den wichtigsten Daten der Interviewten und ihrem Verhältnis zueinander. In einigen Fällen wurden auch beide Seiten eines informellen Arbeitsverhältnisses interviewt, wodurch Rückschlüsse auf die Betonung oder Auslassung von Topoi möglich werden. Die Haushaltsarbeiterinnen waren zum Zeitpunkt des Gesprächs zwischen Anfang 20 und Ende 50 Jahre alt und repräsentieren somit unterschiedliche biografische Phasen. Das Sample der Arbeitgeber*innen ist deutlich homogener: Die Befragten waren – mit zwei Ausnahmen - zwischen Mitte 30 und Mitte 40 Jahre alt, verfügten über einen akademischen Abschluss und waren berufstätig als Ärztinnen, Juristinnen, Journalistinnen oder Architektinnen. Die relativ homogene Zusammensetzung der Arbeitgeber*innen verdeutlicht den von Ute Merck-Frings transparent gemachten Bias beim Zugang zum Feld. Das relativ homogene Arbeitgeber*innen-Sample ist forschungsstrategisch aber durchaus sinnvoll, da zumindest die sozio-ökonomischen Kontexte der Arbeitgeberinnen ähnlich sind. Wie die in den nachfolgenden Kapiteln präsentierte Auswertung zeigt, bieten die Interviews vielfältige und aufschlussreiche Informationen über Arbeitsbedingungen, Mobilitätsmuster und die individuelle Wahrnehmung der Situation. Ein Hinweis auf die Qualität und Dichte der Interviews lässt sich auch daraus ablesen, dass Ute Frings-Merck das Material für eine Theateraufführung überarbeitet hat. Das Stück mit dem Titel „Wenn sie mich verließe. Protokolle von Frauen, die putzen und denen, die dafür bezahlen“ hatte im Februar 2020 im Düsseldorfer Theater „Unterhaus“ Premiere. In dem Stück, so heißt es in einem Pressebericht, liegt der Fokus weniger auf dem deutsch-polnischen Verhältnis und der Vergangenheit beider Länder. Beleuchtet werden die Lebensumstände der Haushaltsarbeiterinnen, die Trennung von ihren Familien, ihre Einsamkeit. Auf der anderen Seite stehen die Privathaushalte, in die sie integriert sind [3].

In der Buchveröffentlichung werden diese Aspekte im fünften Kapitel mit dem Titel „Über Grenzen gehen“ dargestellt. Dabei geht es sowohl um die Motive der polnischen als auch der deutschen Frauen: „Was veranlasst eine Ingenieurin, Gerichtssekretärin, Buchhalterin oder eine Friseurin, als Arbeitsmigrantin in Berlin Wohnungen zu putzen, und vice versa aus welchen Gründen entschließen sich Frauen, ihre Reproduktionsarbeit an andere Frauen zu delegieren?“ (107) Für die Haushaltsarbeiterinnen wird auf einer Makroebene auf die Transnationalisierung sozialer Ungleichheit hingewiesen. Eine Besonderheit des polnischen Falls ist die Möglichkeit des Pendelns, das durch die geografische Nähe ermöglicht wird. In dieser räumlichen Konstellation können Frauen durch Haushaltsarbeit in Berlin ein eigenes Einkommen erzielen und jedes Wochenende zuhause verbringen. Das Pendeln lässt sich als Verstetigung einer zunächst nur befristet geplanten Einkommensstrategie deuten. Die Ursachen für die Aufnahme der Pendelmigration sind individuell unterschiedlich. Zu den erzählten Motiven gehören materielle Not, Lust auf Veränderung und Suche nach einem neuen Leben oder die als „Verlockung durch andere“ bezeichneten Netzwerkeffekte. Die Arbeitsmigration kann aufgrund der Kaufkraftdifferenz als ökonomische Erfolgsgeschichte erlebt werden und ist unter den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen durchaus lohnend: So konnte eine Frau etwa eine Pension im Riesengebirge aufbauen, andere eröffneten ein kleines Hotel in den Masuren oder erwarben eine Ferienwohnung zur Vermietung (214). Einige Arbeitsmigrantinnen hatten in ihrem Haushalt in Polen ihrerseits Frauen für die Haushaltsarbeit angestellt, wobei sie vergleichbare Motive hatten wie die von Ute Frings-Merck interviewten deutschen Arbeitgeberinnen: Diese beschäftigten die Haushaltsarbeiterinnen, um einer eigenen Berufstätigkeit nachzugehen und Konflikte um eine Aufteilung der Haushaltsarbeit mit einem Partner zu vermeiden (130 f.). So waren es in einer Familienkonstellation ausnahmslos die Frauen, die eine Haushaltsarbeiterin gesucht und eingestellt hatten und die Rolle der Arbeitgeberin einnahmen. Mit diesem Arrangement bleibt Hausarbeit Frauensache, wird aber outgesourct und in die Hände von Polinnen als „Profiputzfrauen“ gelegt. Die befragten Arbeitgeberinnen waren es nicht gewohnt, Hausarbeit im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses zu delegieren und schilderten die Rolle der Arbeitgeberin als unangenehm (134). Auf die Frage nach den konkreten Ursachen für die Beschäftigung der Haushaltsarbeiterinnen hörte Ute Frings-Merck „Variationen der immer gleichen Geschichte, in der von Resignation die Rede ist, von Handlungszwängen, pragmatischen Lösungen und einem schlechten Gewissen“ (134).

Das folgende sechste Kapitel trägt den Titel „Deutsch-polnische Begegnungen“. Damit nimmt Ute Frings-Merck eine Festlegung vor, die den Aspekt der nationalen Selbst- und Fremdbeschreibung in den Vordergrund stellt, eine nicht durchgängig überzeugende Deutung. In dem mit fast 100 Seiten zentralen Kapitel des Buches geht es um die Sicht der Akteurinnen auf die soziale Welt und das Beschäftigungsverhältnis, aber auch um die Erfahrung und Bedeutung von Körperlichkeit, den Umgang mit Schmutz im Privathaushalt oder die verschiedenen Hygienestandards und unterschiedlichen Vorstellungen über die Art und Weise des Saubermachens. So eröffnet zum Beispiel die Frage nach der Wahl des korrekten Reinigungsmittels ein Feld der Auseinandersetzung über Herrschaft, Dominanz, Widerstand oder Unterwerfung – wobei die Arbeitgeberinnen unterliegen und es zulassen müssen, dass das ökologische Putzmittel im Schrank bleibt (176 ff.). Die Beobachtung, dass Arbeitgeberinnen in der Regel einen Schlüssel an Haushaltsarbeiterinnen aushändigen, die sie kaum kennen und von denen oft noch nicht einmal der volle Name und die Adresse bekannt sind, wird als Ausdruck eines besonderen Vertrauensverhältnisses analysiert. Vertrauen wird als zentrale Kategorie identifiziert, die für das Zustandekommen eines informellen Arbeitsverhältnisses konstitutiv ist (138). Dieses Vertrauensverhältnis ist aber nicht einfach gegeben, sondern wird durch kulturelle Techniken der Umdeutung generiert, wodurch eine ökonomische motivierte instrumentelle Verbindung von den Arbeitgeberinnen als eine soziale Verbindung der Freundschaft dargestellt wird. Die Haushaltsarbeiterinnen sehen das Verhältnis dagegen reservierter. Sie sprechen von den Arbeitgeberinnen oft als „meine Familie“ oder „meine Freunde“ – weisen aber eine emotionale und ökonomische Unabhängigkeit auf, die es ihnen ermöglicht, „ihr Verhältnis zu den Arbeitgeberinnen innerhalb eines Kontinuums von Nähe und Distanz weitgehend selbst zu bestimmen und auch zu verändern“ (149). So ist es Haushaltsarbeiterinnen bei Konflikten mit Arbeitgeberinnen auch möglich, die Stelle zu verlassen und eine andere Arbeit aufzunehmen [4]. Auf der anderen Seite besteht bei den Arbeitgeberinnen eine Rollenunsicherheit in dem Verhältnis, das einen grundlegenden instrumentellen Charakter aufweist und nach Kosten-Nutzen Kalkülen organisiert, zugleich aber als Freundschaft emotionalisiert wird. In diesem Spannungsfeld beobachtet Ute Frings-Merck, dass wechselseitig Geschenke gemacht werden, wodurch der soziale und emotionale Aspekt der Beziehung betont wird. Letztlich handele es sich aber um eine Verschleierung des Arbeitsverhältnisses: „Die Camouflage der sachlich begründeten Beziehungen lässt sich generell als ein Strukturelement von informellen Arbeitsverhältnissen im Haushalt beschreiben. Allerdings handelt es sich bei der familiären Semantik lediglich um ein alltagspraktisches Handlungskonzept, das die hierarchische Beziehung zwischen Arbeitgeberinnen und Arbeitnehmerinnen nicht berührt.“ (239)

Mit Blick auf den zweiten Forschungsschwerpunkt, die Perpetuierung von Stereotypen im deutsch-polnischen Verhältnis, vertritt Ute Frings-Merck die Auffassung, dass diese „Praxis der Familialisierung“ die Beharrungskraft stereotyper Wissensgehalte über die Polen und die Deutschen nicht erschüttern kann. Die Essentialisierung und Homogenisierung eines vermeintlich rückständigen Ostens habe Wirkungsmacht und rahme die Interaktionen der Akteurinnen. Inwieweit bestehende Stereotypen aber tatsächlich in konkrete Interaktionen einwirken und diese strukturieren, wie von Ute Frings-Merck postuliert, ist eine empirische Frage und die Antwort ist jeweils kontext- und situationsabhängig. Stereotypen können Wirkungsmacht entfalten, aber eben nicht zwangsläufig und nicht durchgängig [5]. Dies scheint Ute Frings-Merck für nationale Zugehörigkeiten dann stellenweise aber doch zu vertreten. So wird einem Unterkapitel kommentarlos ein Zitat von Pierre Bourdieu als Motto vorangestellt: „Wenn also ein Franzose mit einem Algerier spricht, so sind das letzten Endes nicht zwei Leute, die miteinander sprechen, sondern es ist Frankreich, das mit Algerien spricht, es sind zwei Geschichten, die miteinander sprechen […] die ganze Geschichte eines zugleich ökonomischen, kulturellen Herrschaftsverhältnisses.“ (210) Im Anschluss stellt Ute Frings-Merck zunächst zutreffend fest, dass polnische Haushaltsarbeiterinnen und deutsche Arbeitgeberinnen in einem Diskursraum auf unterschiedlichen Positionen handeln. Dann wird aber umstandslos postuliert: „Aus der Perspektive der Deutschen ist das Bewusstsein wirtschaftlicher Überlegenheit zentraler Bestandteil dieses Diskurses. Dies kann als Ausdruck einer unverwüstlichen Überlegenheitsattitüde der Deutschen gewertet werden.“ (210) Mit dieser selbst stereotypisierenden Passage wird eine unmittelbare Wirkungskraft kollektiv verfügbarer Stereotypen unterstellt, die im Widerspruch zu den zuvor eingeführten, differenzierten und reflektierten Konzeptionalisierungen steht: Eigentlich hatte Ute Frings-Merck mit Bezug auf eine dialektische Konzeption temporaler Identitätskonstruktion bereits deutlich gemacht, dass Biografien lebensgeschichtliche Ereignisse und Erfahrungen und gesellschaftlich angebotene Muster ständig neu konstituieren (78). Stereotypen als gesellschaftlich angebotene Muster sind in dieser Konzeption somit keineswegs vorgängig. Zudem wird an anderer Stelle mit Bezug auf Walter Benjamin die Geschichte als Gegenstand einer Konstruktion konzeptionalisiert, „deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet“ (222). Nach dieser Auffassung wird die Gegenwart nicht von der Vergangenheit strukturiert, vielmehr bezieht die Gegenwart sich selektiv auf die Vergangenheit. Die deutsch-polnische Geschichte, so wie sie in den Erzählungen erscheint, gleiche – so Ute Frings-Merck – „Werkzeugen, die in einer Kiste verwahrt werden, jeder Zeit zum Einsatz bereit, wenn es darum geht, sich im Verhältnis zu den Nachbarn zu positionieren“ (222). Die Akteurinnen könnten das Wissen um die Vergangenheit als eine Ressource unter anderem nutzen, um das soziale und ökonomische Machtverhältnis in interkulturellen Begegnungen wenigstens momentweise auszuhebeln (241).

Polnische Haushaltsarbeiterinnen können demnach in einer verdeckten, weil weitgehend unausgesprochen bleibenden Auseinandersetzung zwischen Deutschen und Polen zwei Vorteile nutzen. Sie könnten sich zum einen gegen Verachtung und Diskriminierung praktisch wehren, indem sie den Arbeitsplatz wechseln, was für die Arbeitsmigrantinnen aufgrund der großen Nachfrage nach polnischen Putzfrauen für sie allenfalls kleinere Unannehmlichkeiten verursachen, die Arbeitgeberin aber in Not geraten lässt, weil die routinierten Abläufe nicht mehr funktionieren (241). Sie könnten zudem in diesen Auseinandersetzungen ihre Position moralisch aufwerten, indem sie die historische Opfer-Täter-Konstellation aktualisieren und die Rolle des Opfers gegen die Nachkommen des Tätervolkes wenden und eine Art moralische Bringschuld fordern (241).

Aus dieser von Ute Frings-Merck eingenommenen Perspektive erscheinen die Rollen von Deutschen und Polinnen nur auf den ersten Blick wie eine Wiederkehr des asymmetrischen Verhältnisses, das die Beziehungen zwischen den Nachbarländern immer wieder prägte. Die Studie verdeutliche vielmehr, dass es sich bei den polnischen Arbeitsmigrantinnen keinesfalls um Wiedergängerinnen der schlesischen Dienstmädchen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg handelt, sondern um selbstbewusste, häufig gut ausgebildete Frauen, die eine eigene Agenda verfolgen: „Die Arbeitsmigrantinnen aus Polen tragen die gemeinsame Geschichte quasi auf dem Boden ihrer großen Taschen auf ihren täglichen Reisen durch die Stadt mit sich. Darüber verstauen sie die für den Arbeitstag notwendigen Dinge, wie Arbeitskleidung, etwas Proviant und das für die alltägliche Organisation unerlässliche Mobiltelefon. Gewöhnlich schauen sie nicht zurück, lassen die Geschichte Geschichte sein. Aber sie bleibt ein Pfand, das Jederzeit eingelöst werden kann.“ (241)

Im letzten Abschnitt mit dem Titel „Die Aktualisierung der Vergangenheit“ (222) untersucht Ute Frings-Merck Erzählsequenzen, die von der Einlösung dieses Pfands handeln. Es geht um die Frage, inwieweit der Geschichte des Völkermords und der Zerstörung, von Flucht und Vertreibung in der Mikrostruktur des Haushalts Bedeutung zuwächst. Dabei sieht Ute Frings-Merck Belege für eine „Praxis polnischer Arbeitsmigrantinnen, Ereignisse der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu generalisieren und auf das Heute zu übertragen und als Vorwurf und Abgrenzung gegen Deutsche zu nutzen“ (223). Allerdings fehlt es an überzeugenden Belegen für diese starke These. Angeführt werden lediglich zwei von Haushaltsarbeiterinnen erzählte Ereignisse. In einer Interviewsequenz wird von der Empörung über eine als unwürdig erlebte Polizeikontrolle berichtet. In dieser Situation habe die Erzählerin den Polizeibeamten empört zurückgeschrien: „Hier ist nicht Auschwitz.“ (226) Bei der zweiten Belegstelle wird erwähnt, dass die Großmutter als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verschleppt worden war (229 f.). Für Ute Frings-Merck steht diese Aktivierung der Vergangenheit im unmittelbaren Zusammenhang mit einer als ungerecht empfundenen aktuellen Ablehnung eines Antrags auf eine Arbeitsgenehmigung durch die Agentur für Arbeit. Das verfügbar gemachte Material lässt aber noch eine andere Interpretation zu: Es ist auffällig, dass diese Äußerung in einer neuen thematischen Sequenz getätigt wird. Darin wird erzählt, wer von der Familie in Deutschland gearbeitet hat oder lebt. In diesem Zusammenhang zählt die Gesprächspartnerin die entsprechenden Familienmitglieder auf und erwähnt auch die Großmutter – mit dem Zusatz, dass es nicht freiwillig war. Die Erwähnung scheint somit durch die Erzähllogik einer Aufzählung ausgelöst zu sein und keine moralische Anklage zu bilden.

Wenn die Verfügbarkeit einer Aktualisierung der nationalsozialistischen Vergangenheit als moralische Waffe zutreffen würde, dann sollte das Material doch deutlich mehr Anspielungen und Verweise auf sie beinhalten. So ist festzuhalten, dass der Topos der nationalsozialistischen Vergangenheit von den polnischen Haushaltsarbeiterinnen in den Beschreibungen der Beziehung zu deutschen Arbeitgeberinnen kein einziges Mal aufgerufen wird. Die Resonanz und Wirkungsmacht des Topos der nationalsozialistischen Vergangenheit ist bei den Befragten somit als gering einzuschätzen und wurde von den polnischen Haushaltsarbeiterinnen in Erzählungen über den Arbeitsplatz Haushalt gar nicht aktiviert. Die ausbleibende Thematisierung lässt eher darauf schließen, dass die Aktivierung der nationalsozialistischen Vergangenheit doch nicht generalisiert und leicht verfügbar ist, sondern bestimmten Situationen mit hohem Empörungspotential vorbehalten bleibt (231) – und die Auseinandersetzungen am Arbeitsplatz Haushalt scheinen nicht dazu zu gehören.

Anders verhält es sich dagegen mit stereotypisierenden nationalen Selbst- und Fremdzuschreibungen. Ute Frings-Merck präsentiert und analysiert zahlreiche Sequenzen sowohl in den Erzählungen der Arbeitgeberinnen als auch der Haushaltsarbeiterinnen, die nationale Stereotypisierungen enthalten. Zumindest in einem Fall wird allerdings zu schnell und zu ausschließlich (allein) der Aspekt der nationalen Stereotypisierung in den Vordergrund gestellt. Bei der Sequenz, die keinerlei Hinweise auf nationale Aspekte aufweist, wird der erzählenden Arbeitgeberin dennoch das „Imago der gewitzten Polin“ unterstellt (166). Eine durchaus mögliche alternative Deutung wäre hier ein „Imago der gewitzten Arbeiterin“. Tatsächlich wird der Arbeitgeberin als zweite Interpretation auch das „Klischee der dreisten Subalternen“ (167) unterstellt. Dieses Imago kommt ohne nationale Stereotypisierung aus. Da sich in der Begegnung polnischer Haushaltsarbeiterinnen und deutscher Arbeitgeberinnen mehrere Differenzlinien durchkreuzen, wäre an manchen Stellen eine offenere, intersektional inspirierte Interpretation angemessener und fruchtbarer, um die Logik der Aktivierung nationaler Stereotypisierungen präziser analysieren zu können. Für Ute Frings-Merck begleiten „Stereotypen und Vorurteile über den Nachbarn […] den jeweiligen Alltagsdiskurs wie ein untergründiges Rauschen, das mal lauter, mal leiser zu vernehmen ist“ (196). Die den Alltagsdiskurs begleitenden Stereotype sind aber nicht nur national, sondern auch sozial kodiert. So weist Ute Frings-Merck auch darauf hin, dass nicht allein negative Fremdzuschreibungen die alltäglichen deutsch-polnischen Begegnungen am Arbeitsplatz Haushalt leiten. Im Gegenteil „wird […] zwischen der Gruppe und den Individuen unterschieden. Ein Nebeneinander sich widersprechender Zuschreibungen ist dabei zu beobachten.“ (196) Konkret führt das dazu, dass Arbeitgeberinnen ihre Haushaltsarbeiterinnen ausdrücklich von negativen Zuschreibungen gegenüber Polen ausnehmen: „Die Haushaltsarbeiterin, die sich jede Woche stundenlang in der eigenen Wohnung alleine in der Wohnung aufhält, darf nicht zur stigmatisierten Gruppe derjenigen gehören, die faul und unehrlich sind. […] Die kognitive Dissonanz wird durch Ausnahmeregelungen aufgelöst.“ (207 f.) Die Begegnungen am informellen Arbeitsplatz Haushalt, so lautet ein Fazit, sind geprägt von der Gleichzeitigkeit widersprüchlicher und nicht zu vereinbarender Praktiken, wie die Zurückweisung stereotyper Zuschreibungen, ihre kritische Reflexion und die grundsätzliche Akzeptanz eines scheinbar in Stereotypen enthaltenen Wahrheitsgehalts (208). Es gehört zu den Stärken dieser Studie, einen Beitrag zur Analyse der Wirkungsmacht und Praktiken stereotyper Zuschreibungen zu leisten.

Abschließend lässt sich festhalten, dass die Studie mit der Rezeption und Anwendung einer Vielzahl theoretischer Konzepte auf die Analyse der informellen Beschäftigung polnischer Haushaltsarbeiterinnen durch deutsche Arbeitgeber*innen einen facettenreichen und hochinformativen Einblick in diesen systemrelevanten Arbeitsmarkt bietet. Die Befunde beinhalten ein großes interdisziplinäres Anregungspotential für weitere Forschungen zur Wirkungsmacht kollektiver Selbst- und Fremdverortungen in konkreten Kontexten. Zu betonen bleibt vielleicht, dass die Studie einmal mehr verdeutlicht, dass die wohl wirkungsmächtigste Zuschreibung, ohne die es dieses Segment des informellen Arbeitsmarktes in dieser Form nicht gäbe, wohl in den überkommenen Vorstellungen einer geschlechtsspezifischen Zuständigkeit und alleinigen Verantwortung von Frauen für Haushaltsarbeit besteht.

Anmerkungen

 

[1] Sabine Hess: Bodenpersonal der Globalisierung. Die neue Dienstmädchenfrage: Auch die Hausarbeit wird international. In: Die Zeit Nr. 51, 12. Dezember 2002, www.zeit.de/2002/51/Essay_Hess [3.6.2020].

[2] Polly Toynbee: Selling Love and Buying Freedom. In: The Guardian, 7. August 2003, www.theguardian.com/theguardian/2003/aug/07/guardianweekly.guardianweekly1[3.6.2020].

[3] Siehe rp-online.de/nrw/staedte/duesseldorf/kultur/premiere-in-duesseldorf-unterhaus-performance-ueber-polnische-putzfrauen_aid-48743931 [3.6.2020].

[4] Siehe für eine frühe Analyse zu den Perspektiven einer polnischen Haushaltsarbeiterin auch Norbert Cyrus: „... als alleinstehende Mutter habe ich viel geschafft.“ Lebensführung und Selbstverortung einer illegalen polnischen Arbeitsmigrantin. In: Klaus Roth (Hg.): Vom Wandergesellen zum „Green-Card“-Spezialisten. Interkulturelle Aspekte der Arbeitsmigration im östlichen Mitteleuropa. Münster 2003, S. 227–264.

[5] Siehe für einen polnisch-deutschen Migrationskontext Norbert Cyrus: Stereotypen in Aktion. Die praktische Relevanz nationaler Schemata für einen polnischen Transmigranten in Berlin. In: Klaus Roth (Hg.): Nachbarschaft. Interkulturelle Beziehungen zwischen Deutschen, Polen und Tschechen. Münster 2001, S. 165–196.