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Pekka Hakamies/Anne Heimo (Hg.)

Folkloristics in the Digital Age

(Folklore Fellows’ Communications 316), Helsinki 2019, Academia Scientiarum Fennica, 181 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-951-41-1139-6
Rezensiert von Brigitte Bönisch-Brednich
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 10.07.2020

Folkloristen haben sich seit Jahrzehnten mit den Möglichkeiten von Computer- und Digitalisierungstechnik auseinandergesetzt. Seit den viel diskutierten Lochkartensystemen der 1960er Jahre waren viele Archive und Editionsprojekte daran interessiert, diese Möglichkeiten der Katalogisierung und die damit verbundenen Suchfunktionen anzuwenden. Die erste Digitalisierungswelle erfolgte dann in den 1980er und 1990er Jahren, als Digitaltechnik erschwinglich wurde und die CD-ROM Datenträger eine weite Verbreitung von Forschungsmaterialien zuließen. In den letzten zehn Jahren haben erst große Serverprojekte und dann Clouds dazu beigetragen, dass auf Folkloreressourcen weltweit zugegriffen werden kann.

Parallel zur Erkundung der technischen Möglichkeiten bestand aber immer auch ein lebhaftes Interesse daran, wie Fax, Computer, Internet, Social Media und Smartphones dazu beigetragen haben, dass Inhalte geteilt und vor allem auch geschaffen wurden. Mit dem Band „Folkloristics in the Digital Age“ machen es sich die Herausgeberin und der Herausgeber zur Aufgabe, beide Aspekte, die Sammel- und Archivarbeit sowie die Erforschung der Performanz von Folklore im Internet, zu diskutieren. Nach der Einleitung in das Thema folgen acht Aufsätze, die ein hoch interessantes Spektrum an Forschungen präsentieren. Der geografische Schwerpunkt liegt auf den baltischen Ländern, aber auch US-amerikanische Themen kommen zur Sprache.

Die ersten sechs Aufsätze beschäftigen sich mit der Erforschung von Kreativität und Performanzaspekten, während sich die letzten beiden Beiträge der Geschichte von Technik und Archivarbeit widmen. Diese beiden Aufsätze liest man mit großem Interesse, da sie sich nicht nur speziellen Digitalisierungsprojekten zuwenden, sondern auch verdeutlichen, dass es mittlerweile ein hohes Maß an transnationaler Vernetzung von Folklorearchiven und deren akademischen Leitern gibt. Christoph Schmitt beschäftigt sich in seinem Beitrag mit  Geschichte und Gegenwart der Katalogisierung des Wossidlo-Archivs. Er erklärt nicht nur, wie die diversen technologischen Entwicklungen dazu führten, die Vielzahl handgeschriebener Zettel zu konservieren; er diskutiert eindringlich und mit großem Fachwissen auch, wie ein regionales Archiv sowohl Wissenschaftsgeschichte als auch angewandte Folkloreforschung widerspiegelt. Lauri Harvilahtis Abschlusskapitel über die Geschichte der „Computational folkloristics in Finnland“ bietet lesenswerte Einblicke in seine internationalen Verbindungen, die Inspirationen zur technischen Innovation und auch einige Anekdoten über schlechte Technik und erfolglose Initiativen. Solche ehrlichen und humorvollen Reminiszenzen sind selten und deshalb eine umso willkommenere Lektüre.

Die vorangehenden Beiträge beschäftigen sich vor allem mit Fallstudien zu verschiedenen Genres, die sich durch die Technik weiterentwickelt haben oder für die technische Fortschritte schlicht schnellere Verbreitung und größere Leserzirkel bieten, wie im Falle von Liisa Granbom-Herranens Aufsatz zu SMS und ihrer Eignung für das Teilen von Sprichwörtern. Andere Autorinnen und Autoren sind vor allem an der kreativen Nutzung interessiert, die sich in blogs, facebook-Gruppen und ähnlichen Foren aufzeigen lassen. Besondere Aufmerksamkeit wird in diesem Zusammenhang dem Phänomen der Meme gewidmet. In diesen kreativen Formen der Neuerfindung und Umdeutung von Inhalten kommt digitaler Folklore ein ganz eigener Raum zu; die Aufsätze stellen sowohl humorvolle und witzige Inhalte vor als auch hoch politische und verstörende. Der Humor und die Kreativität werden sehr eindrücklich im Aufsatz von Lynne S. McNeill untersucht, die sich mit dem kurzen, aber leidenschaftlich diskutierten Augenblick beschäftigt, in dem zwei Lamas in gestreiften Kleidern Furore machten. Ihre Diskussion des „Gleaning“ ist sicherlich ein Highlight dieses Bandes. Anneli Baran und Anastasiya Astapova setzen sich in ihren Beiträgen mit politischer Folklore auseinander. Baran untersucht Memes als politische Satire in Estland; Astapova analysiert überzeugend die Rolle von Spitznamen in einer modernen Diktatur. Ebenso eindringlich und zudem verstörend ist der Aufsatz von Robert Glenn Howard über „Vernacular Authority Speaks for the Glock“. Anhand der massenhaften Verbreitung von Internetforen über Handwaffen zeigt er, welche Rolle Alltagssprache und sprichwörtliche Redensarten im Diskurs um Tötungswerkzeuge annehmen können. Er bietet damit zum einen auch einen Einblick in die Waffenlobby der USA und zum anderen eine Reihe von theoretischen Einsichten, die allein schon die Lektüre dieses Artikels lohnen.

Insgesamt bietet dieser Band sehr gute und interessante Einzelstudien. Was mir fehlt, ist ein Beitrag, der das Phänomen der „Digital Folklore“ allgemein analysiert und die Aufsätze in einen weiteren Zusammenhang einordnet. Die Einführung der beiden Herausgeber*innen versucht dies anzubieten, ist aber nicht umfassend genug. Was nicht deutlich wird, ist die Geschichte der Genese dieses Bandes, Planung und Ziele werden nicht erläutert. Es entsteht der Eindruck, die Beiträge könnten möglicherweise das gedruckte Ergebnis einer Tagung sein. Das Thema ist ohne Frage zeitgemäß und wichtig; es hätte sich angeboten, diese kleine Auswahl zu einem Handbuch auszuweiten.