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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Marco Bogade/Elisabeth Fendl (Hg.)

Kultur und Lebensweise der Deutschen aus Ostmitteleuropa. Kontinuitäten und Brüche vor und nach 1945

(Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte der Deutschen in Ostmittel- und Südosteuropa, Bd. 50), Köln/Weimar/Wien 2018, Böhlau, 208 Seiten mit Abbildungen, 10 Farbtafeln, ISBN 978-3-412-51118-0
Rezensiert von Tobias Weger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 10.07.2020

Das Institut für ostdeutsche Kirchen- und Kulturgeschichte wurde 1958 in Königstein im Taunus mit dem Ziel ins Leben gerufen, im Rahmen von Tagungen und Publikationen Fragen der (vor allem katholischen) Kirchengeschichte und der kirchlichen Alltagskultur der vor der Umsiedlung bzw. Vertreibung in Ostmittel- und Südosteuropa lebenden Deutschen bzw. der Vertriebenen in Deutschland zu erforschen und zu dokumentieren. Die Einrichtung, die zwischenzeitlich der Diözese Regensburg angegliedert war, leitet heute der Tübinger Kirchenhistoriker und Theologe Rainer Bendel. Er hat dem hier besprochenen Band einen einführenden Beitrag vorangestellt, in dem er auf die Traditionen vertriebener Katholiken in der Bundesrepublik Deutschland eingeht und in einer Langzeitbetrachtung der vergangenen sieben Jahrzehnte Möglichkeiten der Beheimatung, der Kulturpflege und der Stiftung neuer Gewohnheiten durch Kirche und Glaubenspraxis skizziert.

Auf Traditionslinien bei der Pflege des „ostdeutschen Kulturguts“ nach 1945 verweist Cornelia Eisler in ihrem Aufsatz „Von ‚Grenz- und Auslandsdeutschen‘ zu Flüchtlingen und Vertriebenen. Die Rolle kirchlicher Verbände und die ‚Rettung des Kulturguts‘“. Sie zeigt zum einen personelle und organisatorische Kontinuitäten vom Reichsverband für das katholische Auslandsdeutschtum hin zur Kirchlichen Hilfsstelle auf, die sich ab 1945 der Flüchtlings- und Vertriebenenbetreuung annahm. Im zweiten Teil geht sie der Frage nach, ob tatsächlich, wie von deren Leiter Richard Mai einmal behauptet, der Hilfsstelle bei der Initiierung und Aufstellung „ostdeutscher Heimatsammlungen“ in der Nachkriegszeit eine Schlüsselrolle zugekommen sei. Anhand ausgewählter Beispiele demonstriert sie die Rolle konfessioneller Traditionspflege in den Heimatsammlungen.

Mit dem Phänomen der lokalen kirchlichen Beheimatung vertriebener evangelischer Christen befasst sich Robert Schäfer in seinem Beitrag „Aus der Not geboren. Die Regnitzau-Siedlung in Hirschaid und die St. Johanniskirche als bauliche Zeugnisse von Flucht und Vertreibung“. Die aus einem Flüchtlingslager erwachsene Siedlung Regnitzau im fränkischen Hirschaid, jenseits des Main-Donau-Kanals gelegen, machte in der bis dahin fast ausschließlich katholisch geprägten Gemeinde Hirschaid durch den Zuzug von Protestanten nicht nur ein umfassendes Siedlungsbauprojekt erforderlich, sondern auch die Schaffung einer eigenen evangelischen Kirche, für die eine ehemalige Werkshalle umfunktioniert wurde. Die inzwischen unter Denkmalschutz stehende und renovierte St. Johanniskirche ist heute eines der letzten Beispiele für eine der Zwangsmigration geschuldete „Notkirche“ aus den Nachkriegsjahren.

Mit einer besonderen Heiligengestalt aus dem ermländischen Bereich setzen sich zwei Beiträger auseinander und nähern sich der Protagonistin aus historiografischer und aus kunsthistorischer Sicht. Die Mystikerin und Reklusin Dorothea von Montau, die im 14. Jahrhundert im Deutschordensland lebte und wirkte, sollte bereits kurz nach ihrem Tod heiliggesprochen werden, allerdings wurde das Kanonisierungsverfahren aufgrund innerkirchlicher Verwerfungen seinerzeit abgebrochen. So erfolgte die Rangerhöhung erst 1976, nachdem 1955 der Prozess erneut in Gang gesetzt worden war. Stefan Samerski geht in seinem Text „ Zwischen Wissenschaft und Heimatpflege. Zur Kulturgeschichte der Dorothea von Montau vor und nach 1945“ der gewandelten Bedeutung der heiligen Frau in der Geschichtsschreibung des Ermlands vor 1945 und unter deutschen Vertriebenen seit Kriegsende nach. Seine Ausführungen ergänzt der Kunsthistoriker Marco Bogade in seinem Beitrag „Mutter, Brückenbauerin, Landespatronin? Dorothea von Montau und ihr transregionaler Kultreflex in der materiellen Kultur im 20. und 21. Jahrhundert“. Anhand ikonografischer Beispiele aus unterschiedlichen Jahrhunderten und Kontexten zeigt er die Schwierigkeiten bei der Findung einer verbindlichen Darstellung der Heiligen, die sich im Laufe der Jahrhunderte deutlich von einer regionalen Bezugsgestalt des Deutschen Ordens hin zu einer vor allem von Vertriebenen aus dem Ermland und deutschen verbliebenen Katholiken in der Region verehrten Gestalt veränderte.

Ein anderes kunsthistorisches Thema vermittelt Chris Gerbing in ihrem Aufsatz „Otto Herbert Hajek. Raum – Farbe – Form. Arbeiten für die katholische Kirche“. Unterschiedliche Schaffensstationen im Werk des 1927 in Böhmen geborenen und 2005 in Stuttgart verstorbenen Grafikers, Malers und Bildhauers belegen dessen Entwicklung innerhalb zeitgenössischer künstlerischer Strömungen der Nachkriegszeit, mit einem Schwerpunkt auf kirchlichen Auftragsarbeiten. Wenngleich Hajeks Rang als einer der wichtigen modernen Künstler des 20. Jahrhunderts unbestritten ist, so ist doch bei diesem Beitrag der Bezug zum Oberthema des Bandes mit einem Fragezeichen zu versehen. Denn außer der persönlichen Herkunft Hajeks stehen die präsentierten Werke in keinem erkennbaren Zusammenhang zu Flucht, Vertreibung oder Integration nach 1945.

Deutlicher wird dies bei Lydia Bendel-Maidls theologischer Lesart einiger Werke des aus dem tschechoslowakischen Teil Schlesiens stammenden Malers Erich Schickling (1924–2012). Ihr Aufsatz „‚Traum von Pickau‘. Heimatverlust und Mystik in den Werken Erich Schicklings“ geht der künstlerischen Verarbeitung eines mystischen Kindheitstraums des Künstlers nach, zu deren Deutung sie sowohl christliche als auch jüdische Interpretamente heranzieht. In das Altarbild „Maria vom Berge Karmel“ baute Schickling eine Ansicht seines Geburtsortes Pickau ein, die nach einer aquarellierten Zeichnung von 1946 entstand und in der er seine Verbundenheit mit seiner verlorenen Heimat auf eine subtile Weise ausdrückte.

Drei weitere Texte des Sammelbandes wenden sich musikalischen Themen zu. Wie schwierig, ja oftmals unmöglich es für deutsche Musiker und Komponisten war, nach Umsiedlung und Flucht erneut in ihrem eigentlichen Schaffensbereich Fuß zu fassen, belegt Helmut Scheunchen in seiner eindrucksvollen Zusammenstellung „Deutschbaltische Komponisten – Umgesiedelt und nicht mehr angekommen“. Die biografischen Skizzen, die der Autor zusammengetragen hat, enden zum Teil bereits im so genannten Warthegau, in dem nach der nationalsozialistischen „Umsiedlung“ viele Deutschbalten angesiedelt wurden. Andere mussten ihr musikalisches Oeuvre bei der Flucht nach Westen 1944/45 zurücklassen und konnten nie wieder an ihr früheres Schaffen anknüpfen.

Ein wirtschaftsgeschichtlicher Ansatz prägt den Text von Grzegorz Poźniak über „Das Schicksal der Orgelbaufirma ‚Berschdorf‘ aus Neisse/Nysa in den Kriegsjahren und der Nachkriegszeit“. 1889 hatte Paul Berschdorf die Firma seines Lehrmeisters Reinhard Carl Hundeck im schlesischen Neisse übernommen und zu einem erfolgreichen Unternehmen ausgebaut. Dessen Sohn Carl Berschdorf übernahm die Firma und gründete sie nach der Flucht 1945 gemeinsam mit seinem Sohn Norbert im bayerischen Regensburg neu. 1949 beendete die Währungsreform diese Aktivität; Carl verstarb 1950, während sein Sohn Norbert in die USA auswanderte. Dort blieb er zwar weiterhin als Orgelbauer tätig, konnte aber nicht mehr an die einstigen Erfolge der Firma anknüpfen.

Musik als Element der kirchlichen Liturgie, aber auch der populären Frömmigkeit ist das Thema von Michael Hirschfelds Betrachtung „Schlesische Komponenten im Liedgut der deutschen Vertriebenen nach 1945“. Am Beispiel der Praxis nordwestdeutscher Bistümer zeigt er die Probleme katholischer Vertriebener aus Schlesien auf, ihr spezifisches Liedgut in den allgemeinen Kanon einzubringen. Während bei internen Veranstaltungen, etwa bei Vertriebenenwallfahrten, die heimischen Lieder einen zentralen Platz einnahmen, dauerte es zum Teil lange, bis sie – gegen den Widerstand der einheimischen Katholiken – auch in allgemeine Gesangbücher und die sonntägliche Gottesdienstpraxis aufgenommen wurden.

Aufschlussreich ist die von Martin Kirchbichler erstellte Dokumentation „Hedwigskirchen in Deutschland vom 18. bis 20. Jahrhundert“, in der der Autor die der heiligen Herzogin Schlesiens geweihten Gotteshäuser in sämtlichen deutschen Bistümern zusammengetragen hat. Chronologisch beginnt diese Gesamtschau mit der im Auftrag Friedrichs II. des Großen von Preußen für die katholischen Untertanen seines Herrschaftsbereichs in der Mitte Berlins errichtete Hedwigskirche, der heutigen Hedwigskathedrale. Die Mehrheit der aufgeführten Kapellen und Kirchen betrifft allerdings solche, die erst nach 1945 in einem mehr oder weniger deutlich erkennbaren Kontext der Vertriebenenseelsorge entstanden sind. Dabei ist dem Autor allerdings ein wichtiger Ort der Hedwigsverehrung entgangen: An ihrem vermuteten Geburtsort Andechs befindet sich seit 1965 im Turm der Wallfahrtskirche eine Hedwigskapelle, in der nicht zuletzt die demonstrative Anbringung der Wappenschilder Schlesiens und der schlesischen Hedwigsorte Breslau, Liegnitz und Trebnitz an der Altarwand einen deutlichen Verweis auf die kirchliche Vertriebenenpastoral bildet. Dennoch ist Kirchbichlers Dokumentation insgesamt von hohem Wert, umfasst sie doch neben Filial- und Pfarrkirchen ausdrücklich etwa auch Kapellen in Seniorenheimen oder Krankenhäusern, die nicht allgemein bekannt sind.

Ein Abbildungsteil mit insgesamt zehn aussagekräftigen Farbfotografien, ein Autorenverzeichnis sowie ein Personen- und Ortsregister runden den Band sinnvoll ab. Durch seine pluridisziplinären Zugänge aus historischer, kunsthistorischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive, die materielle und immaterielle Aspekte zusammenführen, erweitert er die bisherigen Forschungen zu Fragen der Vertriebenenkultur nach 1945 auf sinnvolle und den Erkenntnisgewinn fördernde Weise. Hervorzuheben sind auch die neben den bereits genannten Farbtafeln in die Texte zu materiellen Aspekten eingefügten Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die hier größtenteils erstmals veröffentlicht worden sind.