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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Christine Bischoff/Carsten Juwig/Lena Sommer (Hg.)

Bekenntnisse. Formen und Formeln

(Schriftenreihe der Isa Lohmann-Siems Stiftung 12), Berlin 2019, Reimer, 246 Seiten mit Abbildungen, teils farbig, ISBN 978-3-496-01615-1
Rezensiert von Mirko Uhlig
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 10.07.2020

Der zu besprechende Sammelband geht auf eine interdisziplinäre Tagung im Februar 2018 in Hamburg zurück, in deren Rahmen über unterschiedliche Formen, Tradierungen und Bedeutungen von Bekenntnissen und deren Relevanz als Forschungsthema für die Kulturanalyse diskutiert wurde. Der Band enthält zehn Beiträge (nebst Einleitung) aus sechs unterschiedlichen Disziplinen (Kunstgeschichte, Kulturanthropologie/Volkskunde, Soziologie, Theologie, Geschichtswissenschaft und Psychologie). Alle Autorinnen und Autoren rekurrieren auf ein weites Begriffsverständnis. Was das bedeutet, zeigt direkt der erste Beitrag. Am Beispiel des evangelikalen Pastors Billy Graham, der vor allem durch seine TV-Predigten Mitte des 20. Jahrhunderts Berühmtheit erlangte, erörtert Hubert Knoblauch die körperlichen und performativen Dimensionen von Bekenntnissen, die in der einschlägigen Forschungsliteratur vernachlässigt würden, liege der Fokus dort doch auf einer Analyse der sprachlichen Ebene. Ebenso problematisch für eine ausgewogene Darstellung sei die gängige Prämisse, Bekenntnisse hauptsächlich als individualistische Akte der Selbstthematisierung auszuweisen. Das möge nicht falsch sein, stelle aber eine wenig zielführende Einengung der Forschungsperspektive dar. Ein Bekenntnis bedeute vor allem, so Knoblauch, die Hinwendung ‚zu‘ etwas und sei somit stets in einen sozialen Kontext eingebunden, der durch das Bekenntnis adressiert wird. Nicht immer stünden Eigeninteressen prominent im Vordergrund. Allerdings warnt Knoblauch auch vor allzu übereifrigen Repräsentationsannahmen, nach denen sich in menschlichen Äußerungen direkt (und eindeutig ablesbar) gesellschaftliche (Groß-)Diskurse widerspiegelten. Die Leserinnen und Leser des Sammelbandes werden frühzeitig mit einem emphatischen Plädoyer für die ethnografisch ausgerichtete Einzelfall-/Subjektanalyse konfrontiert, die den handelnden Menschen im Netz seiner Beziehungen ins Zentrum der wissenschaftlichen Bemühungen rückt.

Besonders vor dieser methodologischen Folie lesen sich die Beiträge von Christine Bischoff und Silke Meyer über religiöse Konversionen respektive „Schuldenbekenntnisse“ (85) äußerst ertragreich. Beide Autorinnen greifen Knoblauchs Anregungen auf und zeigen anhand von selbst erhobenem Interviewmaterial, dass die kommunikative Relation einen zentralen Aspekt der qualitativen Bekenntnisforschung darstellt. Das Selbstbild des sich bekennenden Menschen – zumindest trifft dies auf die in den Texten präsentierten Fälle zu – konstituiert sich häufig erst im Moment des Erzählens. Als Konsequenz daraus leiten beide Autorinnen ab, dass die zu erforschende Person nicht aus dem Erhebungszusammenhang weggestrichen werden kann. Daran anschließend diskutiert Meyer, inwiefern die Kulturtechnik des Bekenntnisses als eine Technik der Selbstkontrolle beziehungsweise der Selbstoptimierung interpretiert werden kann. Wie Meyer arbeitet auch Bischoff die lebensgeschichtlich bedingten Motivationen und Brüche heraus. Gerade durch die Einzelfallanalysen wird die Vielschichtigkeit (wie auch eine gewisse Widerspenstigkeit) des Themas eindrücklich illustriert.

In diesem Sinnzusammenhang dürfte auch der Beitrag von Lennart May, der sich aus psychologischer/forensischer Perspektive mit polizeilichen Verhörtechniken und dem Zustandekommen von Zeugenaussagen auseinandersetzt, Diskussionsstoff bieten. Natürlich wäre es überzogen, das Führen eines qualitativen Interviews mit dem eines Verhörs vergleichen zu wollen – trotzdem ist der Vergleich als Gedankenexperiment für die ethnografische Methodendiskussion gewinnbringend, weil der Kontrast dazu anregt, über den eben schon angesprochenen Einfluss der erhebenden Person auf die jeweilige Erhebungssituation (Suggestionen etc.) nachzudenken. Methodologisch gesehen mag das für eine empirische Kulturwissenschaft zwar kein Neuland mehr sein, aber erstens ist der Impuls, der aus einer Experimentalwissenschaft kommt, erfrischend und zweitens erleichtert es das interdisziplinäre Gespräch, wenn man sich den gleichen Problemen ausgeliefert sieht.

Der für die Deutung von Alltagsphänomenen ebenfalls aufschlussreiche Beitrag von Simon Teune beleuchtet den Einfluss von Medien auf die Bekenntnispraxen. Am Beispiel der Anti-Atomkraft-Bewegungen von 1975 bis 2011 im Allgemeinen und anhand der Karriere des bekannten ATOMKRAFT? NEIN DANKE-Stickers im Besonderen wird einerseits der symbolische Wandel eines Protestmarkers nachgezeichnet, andererseits die Wichtigkeit nonverbaler Äußerungen (z. B. via Kleidung und Accessoires) prononciert. Durch den diachronen Vergleich kann des Weiteren gezeigt werden, dass öffentliche Bekenntnisse der Spätmoderne auch als Produkte von zeitgenössischen Medienpraktiken und Infrastrukturen verstanden werden müssen. Der Nutzungswandel bedingt einen Bedeutungswandel. Aber auch Teunes Beitrag warnt vor Überinterpretationen, denn das Gezeigte (und somit empirisch Beobachtbare) muss nicht immer deckungsgleich mit dem Gemeinten sein.

Fächerübergreifend angelegte Projekte wie der vorliegende Band sind pikant, weil sie doch Gefahr laufen können, nicht mehr als eine Aneinanderreihung von Partikularinteressen ohne größere Schnittmengen zu bieten. Was können Kulturanthropologinnen und Kulturanthropologen – wenn sie sich hauptsächlich um Gegenwartsanalysen bemühen (beziehungsweise nicht weiter zurückgehen als in das Spätmittelalter) – auch schon Substanzielles über die Entwicklung spätantiker Kulturphänomene sagen? Deren pauschale Projektion auf Gegenwartserscheinungen ist natürlich ebenfalls kritisch. Dass die Herausgeberinnen und der Herausgeber einen solch zeitlich weiten Bogen spannen, ist also mutig. Letztlich glückt der Spagat, was zwei Umständen zu verdanken ist: Erstens greifen die Autorinnen und Autoren auf eine einheitliche theoretische Rahmung zurück – wenngleich sinnvolle Modifikationen vorgenommen werden – und zweitens kreist jeder Beitrag um ein konkretes empirisches beziehungsweise historisches Fallbeispiel. Die versammelten Texte zeichnet daher eine hohe Anschaulichkeit aus, die es auch den fachfremden Leserinnen und Lesern ermöglicht, sich in weniger vertraute Sachverhalte gut einfinden und den Ausführungen und Ableitungen folgen zu können.

Gerade vor dem Hintergrund, dass zum Thema viele kulturpessimistische Polemiken publiziert werden, die sich tendenziell destruktiv in der Diagnose von einer narzisstischen Gesellschaft (und nicht selten: der narzisstischen Jugend) ergehen, leistet der Sammelband einen differenzierten und somit wichtigen Beitrag. Dass das Buch durch die redaktionelle Bearbeitung darüber hinaus flüssig zu lesen sowie ansprechend haptisch gestaltet und reich bebildert ist, sollte – wenn wir von Bekenntnissen sprechen – nicht unerwähnt bleiben.