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Kathrin Pöge-Alder/Harm-Peer Zimmermann (Hg.)
Numinoses Erzählen. Das Andere – das Jenseitige – das Zauberische
(Beiträge zur Volkskunde für Sachsen-Anhalt 5), Halle an der Saale 2018, Volkskundliche Kommission für Sachsen-Anhalt e.V. beim Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e.V., 294 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-940744-88-3Rezensiert von Helge Gerndt
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 17.07.2020
Was leistet das „Numinose“, ein Begriff, der 1917 von dem evangelischen Theologen Rudolf Otto geprägt wurde, in der Erzählforschung? Das Numinose meint eine oft unheimliche, übernatürliche Wirkkraft, die die Menschen fasziniert oder erschreckt. Es begegnet vor allem in Sagen, Legenden und Visionsberichten. Sie schildern numinose Gestalten (religiöser oder geisterhafter Natur) und numinose Ereignisse, darunter Begegnungen mit Jenseitigem und Außerordentlichem: das numinose Erlebnis (mit äußeren und inneren Aspekten). Inwieweit man von einem numinosen ‚Erzählen‘ sprechen kann oder sollte, wird in dem grundlegenden Beitrag von Marco Frenschkowski genauer erörtert. In der Hauptsache zielt dieser Band jedoch nicht auf „numinoses Erzählen“ im strengen Sinne (dass also der Erzählakt selbst numinos wäre oder Numinoses evoziere), sondern es geht vor allem um das Erzählen ‚vom‘ Numinosen, über numinose Phänomene, zum Beispiel über den „Schwarzen Mann als Erzählfigur“ (Simone Stiefbold) oder über die „Inszenierung des Numinosen“ in einem Spreewaldkrimi (Susanne Hose), über das Numinose im Tatort „Tod im All“ (Brigitte Frizzoni) oder die Form des Erzählens vom Numinosen am Beispiel eines Thrillers (Meret Fehlmann) oder über numinose Charaktere in der multimedialen Kinderwelt Japans (Akemi Kaneshiro-Hauptmann). Die 21 insgesamt recht unterschiedlichen Beiträge versuchen, Numinoses und „Numinosität“ von verschiedenen Seiten her aufzuschließen, darunter speziell auch aus psychologischer und psychotherapeutischer Perspektive (Stephan Alder, Bernd Rieken, Anna Jank, Nina Arbesser-Rastburg).
Zwei gewichtige Beiträge stehen am Anfang des Bandes. Marco Frenschkowski analysiert als Religionswissenschaftler mit Tiefblick und Präzision das Konzept des Numinosen bei Rudolf Otto. Ihm geht es nicht darum, das Numinose motivgeschichtlich zu verorten, sondern es als eine menschliche Grunderfahrung zu erfassen. Frenschkowski fragt dann, auf welche Weise das Numinose in eine Erzählung eingebunden werden kann. Er unterscheidet verschiedene Grade der Präsenz des Numinosen, je nachdem, ob man es (1) aus einem religiösen System deutet (Gottheit, Engel, Dämon) oder ob es (2) „am Flatterrand von Wirklichkeitssystemen“ (29) erscheint (Geister, Naturwesen) oder ob es (3) verwirrend wirkt, fantastisch-fremd anmutet und ungedeutet bleibt. Der erzählerische Akzent kann auf der numinosen Erfahrung eines Individuums (auf dem Verstörenden) liegen oder aber auf dem Numen selbst. Die numinose Erfahrung wiederum mag eine Überraschung oder eine Überwältigung bedeuten. In beiden Fällen tritt das Numinose unerwartet ein. Es kann aber auch erwartet oder geradezu gesucht werden. Solche Differenzierungen des Phänomens sind sehr erhellend, sowohl dann, wenn man das Erzählen über Numinoses unter existenziellen Gesichtspunkten untersucht, als auch dort, wo es über Sagen und Legenden hinaus in weiteren Kontexten betrachtet wird, etwa in den sogenannten Modernen Sagen oder im bildlichen Erzählen der Graphic Novel und in visuellen Medien wie Film und Computerspiel.
Frenschkowskis Gedanken werden durch den Beitrag Harm-Peer Zimmermanns über eine „Narratologie des Numinosen“ ergänzt. Zimmermann liest die theoretischen Überlegungen Rudolf Ottos „im Kontrast“ zu denen Max Lüthis, der ja das Numinose auch im Märchen findet, also in fantastischen Erzählungen ohne einen konkreten Wirklichkeitsbezug. Am Ende sieht Zimmermann Rudolf Ottos Konzept in „scholastische Spitzfindigkeiten“ (38) verstrickt (die, wie der Rezensent meint, sich guten Teils aus generellen Problemen der Metaphorik der Sprache ergeben), während Lüthi diesem Dilemma durch eine „Wende zur Narratologie“ (40) entgeht. Das heißt: Er betrachtet das Numinose unter ästhetischen Aspekten, entwickelt aus dem Gegensatz von Märchen und Sage ein narratologisches System, in dem der Begriff des Numinosen eine zentrale Stelle einnimmt. Für Lüthi ist das Numinose damit ein Effekt erzählerischer Stilmittel und keine existenzielle Erfahrung wie bei Otto. Allerdings versucht Zimmermann zu zeigen, dass es auch in Lüthis Konzept um eine „‚Existenzerhellung‘ im Sinne des Anderen“ geht und postuliert für Lüthis Ansatz, von dessen Begriffspaar „Isolation und Allverbundenheit“ für die Heldenfigur ausgehend, eine „Anthropologie des Numinosen“ (43).
Zusammen bilden die Aufsätze Frenschkowskis und Zimmermanns eine vorzügliche Basis, um nicht nur den kulturwissenschaftlichen Nutzen des theologischen Begriffs weiter auszuloten, sondern auch das kulturwissenschaftliche Erkenntnisziel – in Richtung einer empirischen Kulturforschung einerseits oder einer kulturellen Anthropologie andererseits – anhand von Erzählereignissen tiefer zu diskutieren. Dazu liefern auch die anderen Beiträge interessante Perspektiven und manchen handfesten Stoff. Die übrigen Autor_innen seien hier wenigstens noch kurz aufgelistet: Fabio Armand, Marie-Agnès Cathiard und Christian Abry, Ruth B. Bottigheimer, Gudrun Braune, Helmut Groschwitz, Rainer Möller, Siegfried Neumann, Kathrin Pöge-Alder, Regine Sommer und Thomas Hennemann, Sabine Wienker-Piepho, Ulrika Wolf-Knuts.