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David M. de Kleijn

Das Pferd im „Nachpferdezeitalter“. Zur kulturellen Neusemantisierung einer Mensch-Tier-Beziehung nach 1945

(Beiträge zur Tiergeschichte 3), Marburg 2019, Büchner, 590 Seiten mit Tabellen, ISBN 978-3-96317-699-9
Rezensiert von Michaela Fenske
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 17.07.2020

Als der Historiker Reinhart Koselleck um die Jahrtausendwende die Moderne als „Nachpferdezeitalter“ bezeichnete, übersah er die neue Bedeutung, die Pferde im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewonnen hatten. Gerade der Blick auf die Alltagskultur zeigt diese erneuerte hohe Relevanz von Pferden auch im von Koselleck ausgerufenen und seitdem die Diskurse prägenden Nachpferdezeitalter. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass sich Pferde in der auf die Analyse der Alltage spezialisierten Europäischen Ethnologie anhaltender Aufmerksamkeit erfreuen. Im Zuge der Aktualisierung der Untersuchung der Mensch-Pferd-Beziehungen im Kontext neuerer Forschungszusammenhänge wie der Human-Animal Studies sind Pferde als Forschungsthema in der Europäischen Ethnologie derzeit besonders populär. An der Georg-August-Universität in Göttingen etwa entstehen am Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie derzeit gleich zwei Studien über Mensch-Pferd-Beziehungen: Die Promotion von Sandra Eckardt zum Thema Pferdewissen sowie die im Rahmen eines Projekts der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Untersuchung von Anja Schwanhäußer über die kulturelle Figur der Pferdemädchen (s. Homepage).

Die vorliegende, 2019 an der Universität Jena eingereichte Dissertation von David M. de Kleijn gehört in diesen Zusammenhang des aktuellen Interesses am Pferd. Dabei nimmt de Kleijn in seiner Arbeit zwar Überlegungen zu einer (entangled) agency von Pferden (also einer sich über ihre sozialen Einbettungen ergebenden tierlichen Handlungs- bzw. Wirkmacht) auf, anders als für die Projekte der Göttinger Kolleginnen sind für seine Arbeit die Human-Animal Studies als theoretischer Bezugsrahmen aber eher weniger relevant. Vielmehr geht es de Kleijn darum, mit dem Wandel der Mensch-Pferd-Beziehung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen wesentlichen Aspekt der Alltagskulturgeschichte sowohl der Bundesrepublik Deutschland als auch der Deutschen Demokratischen Republik zu untersuchen. De Kleijn geht es im Besonderen um die „kulturelle […] Neusemantisierung“ (16), also die neuen Bedeutungszuschreibungen, die das Pferd in den beiden deutschen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr. Eindrücklich zeigt er, dass statt von einem Nachpferdezeitalter für das 20. Jahrhundert eher von einem erneuerten Pferdezeitalter die Rede sein sollte.

Zunächst anknüpfend an die traditionell hohe Bedeutung der Tiere in Landwirtschaft, Verkehr und Militär fußt diese Erneuerung auf der neuen sozialen Bedeutung, die Pferde nach und nach in der Nachkriegsgesellschaft erhielten. Diese neue soziale Relevanz wird in der vorliegenden historisch-anthropologischen Studie letztlich als durchaus geschichtsmächtig begriffen. Zu den Verdiensten der Studie gehört neben dieser Inkraftsetzung sozialer Phänomene gegenüber bisherigen militärischen, verkehrstechnischen und landwirtschaftlichen Bedeutungen der Pferde die differenzierte Ausleuchtung einer bislang im Detail so nicht betrachteten langen Übergangszeit von der traditionellen Besetzung der Pferde hin zu ihrer neuen Relevanz in Gesellschaft und Wirtschaft. Zu diesem Zweck durchforstete de Kleijn eine breite Palette historischer Quellen, Archivalien ebenso wie Gebrauchsliteratur oder populäre Literaturen und Medien. Damit gelingt es ihm hervorragend, die besonderen Möglichkeiten der Europäischen Ethnologie im Bereich historischer Kulturanalyse des Mensch-Pferd-Verhältnisses einzusetzen.

Die mit über 500 Seiten für eine Dissertation recht umfangreiche Untersuchung besteht aus fünf Teilen (inklusive einer voluminösen Einleitung und einem zusammenfassenden Schlussteil). Detailliert analysiert de Kleijn im zweiten, mit über 160 Seiten längsten Kapitel der Arbeit, wie die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft anhand ihres Umgangs mit Pferden aus Kaiserreich und NS-Regime Überkommenes pflegte bzw. eine behauptet politisch nicht aufgeladene Arena wie den Sport zur Aushandlung gesellschaftspolitischer Themen nutzte. Hier wurden etwa vertraute Idealisierungen des Militärischen weitergeführt. Mit und am Pferd vollziehen ließ sich auch Trauer über das bei Flucht und Vertreibung Erlittene oder den Verlust der ehemaligen deutschen Ostgebiete, etwa wenn Trakehner-Pferde als dessen Symbole glorifiziert wurden. Personen wie der ausführlich vorgestellte Pferdekundler Gustav Rau stehen für manch andere, nach dem Krieg einflussreiche Hippologen, die bereits im Naziregime Bedeutung hatten. Damit wurden in der Bundesrepublik Inhalte der NS-Propaganda reaktiviert, wie etwa das Bild eines von deutschen Bauern gezüchteten deutschen Pferdes als erstrebenswertes Ideal. Neben solchen und anderen Persistenzen sollten sich jedoch bereits in den 1950er Jahren auch Haltungen entwickeln, die stärker am Tierwohl interessiert waren.

Das dritte Großkapitel ist den Bedingungen der Herausbildung dieser neuen, partnerschaftlichen Haltung zum Tier gewidmet. Pferde wurden zu Familienmitgliedern, denen man zumindest den angestrebten Idealen nach fürsorglich und mit Empathie begegnete. Voraussetzung dieser Entwicklung war die frühe Entfaltung der Freizeitreiterei, in der sich neue, die Pferde weniger dominierende Formen des Reitens entwickelten. Auch die Einfuhr anderer Rassen (wie Islandpferde) oder das Aufkommen von Ponys setzten Impulse in Richtung auf die neuen Formen des Zusammenlebens. Nicht zuletzt die sich in der Bundesrepublik etablierenden Reitervereine trugen diese Begeisterung für Pferde als Sozialpartner junger Frauen und Mädchen. Auch unter diesen günstigen Bedingungen für die an Pferden Interessierten blieb das aktive Reiten nicht selten Angehörigen von weniger privilegierten sozialen Milieus verschlossen. Wer selbst nicht reiten durfte, wurde freilich in die Effekte von populärer Literatur und Filmen wie „Immenhof“ einbezogen. Sie waren wichtige Identifikationsangebote und beispielgebend für das neue Verhältnis zum Tier, boten zugleich auch anderen Bedürfnissen Raum, wie denen nach ,Heimat‘ oder ländlicher Idylle oder der Aushandlung von Geschlechterrollen und dabei emanzipatorischen Impulsen junger Mädchen.

Es ergibt sich auch aus der im Vergleich weniger hohen Relevanz von Pferden als neuen Sozialpartnern in der Deutschen Demokratischen Republik, wenn das sich mit den Entwicklungen in der DDR beschäftigende vierte Kapitel weitaus knapper ausfällt. Pferde spielten in Ostdeutschland mangels technischer Alternativen noch länger als in der Bundesrepublik eine Rolle als Zugtiere in der Landwirtschaft. Der Einsatz im Sport oder gar eine sich entwickelnde Freizeitreiterei wurden mittelfristig durch das DDR-Regime begrenzt. Ansätze zur Nutzung des Pferdes im Sport, wo Emotionen gegenüber dem Tier, aber auch über das Pferd für die ,Heimat‘ zunehmend bedeutsam waren, konnten sich letztlich nicht auf breiter Basis durchsetzen. Das tat allerdings einer auch hier vorhandenen Beliebtheit von Pferden als neuen Sozialpartnern in den Alltagen vieler Menschen, nicht zuletzt gleichfalls wegen ihrer Popularität in der Jugendliteratur oder beliebten Filmen, keinen Abbruch.

David M. de Kleijn hat mit seiner Arbeit über die „Neusemantisierung“ des Pferdes in den beiden deutschen Staaten eine materialreiche Studie vorgelegt. Für die Erschließung der vielen hier erarbeiteten, in dieser Rezension nur sehr allgemein geschilderten Aspekte ist das Personen- und Pferderegister am Schluss des Bandes hilfreich. Aus Sicht der Multispecies Studies und deren Teilfeld Human-Animal Studies, denen es um ein Neuverständnis menschlich-tierlicher Lebenswelten in ihrer jeweiligen Verflochtenheit geht, mag man bedauern, dass die Potentiale einer Verflechtungsgeschichte der Mensch-Pferd-Lebenswelten hier nicht konsequent verfolgt werden. Bedauerlich ist ferner, dass die Lektüre des Buches u. a. durch inhaltliche Wiederholungen sowie mitunter recht langatmige Interpretationen einzelner Szenen und Episoden aus populären Literaturen und Medien erschwert wird. Hier hätten inhaltliche Straffungen der Studie gutgetan. Die Überarbeitung im Sinne guter Lesbarkeit wäre umso wünschenswerter gewesen, als Thema und detailreiche Ausführung dieser Untersuchung eine breite Leser*innenschaft gerade aufgrund der hier herausgestellten Neusemantisierung des Pferdes in der deutschen Gesellschaft außerordentlich interessieren dürften.