Aktuelle Rezensionen
Angela Ling Huang/Carsten Jahnke (Hg.)
Textiles and the Medieval Economy. Production, Trade, and Consumption of Textiles, 8th–16th Centuries
(Ancient Textiles Series 16), Oxford 2019, Oxbow Books, 252 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-1-78925-209-5Rezensiert von Melanie Burgemeister
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 28.08.2020
Der Tagungsband basiert auf einer dreitägigen Konferenz in Kopenhagen im April 2012, die von Angela Ling Huang und Carsten Jahnke gemeinsam mit dem Saxo Institute und dem dort angesiedelten „Centre for Textile Research“ der University of Copenhagen veranstaltet wurde. Während Textilien und der Handel mit ihnen in der Geschichte untrennbar verbunden sind, zeigen sich in der Forschung zu diesen Themen große Desiderate. Das Ziel der Konferenz war es daher, Historiker*innen und Archäolog*innen aus verschiedenen europäischen Ländern zusammen zu bringen und so die interdisziplinäre und internationale Textilforschung zu fördern. Gerade zwischen diesen beiden Disziplinen fand bisher wenig Austausch statt, was nicht zuletzt an den divergenten Methoden und den teilweise gegensätzlichen Ergebnissen lag. So beschäftigen sich die Archäolog*innen traditionell eher mit den physischen Eigenschaften und der Nutzung von Objekten, während Historiker*innen sich vorwiegend Begriffsklärungen und herausragenden Beispielen wie dem Textilwesen in Flandern oder England zuwenden. In der Lücke zwischen den Disziplinen verortet sich der vorliegende Band.
In 15 kurzen Beiträgen nähern sich die Autorinnen und Autoren dem breiten Feld der mittelalterlichen Kleidungsforschung. Neben den erhaltenen Objekten stehen Verbreitungsräume, Herstellung, Nutzung und Handel im Fokus des englischsprachigen Bandes. Räumlich umfassen die Texte Arbeiten zu Island, Skandinavien, Norwegen, England, Dänemark, Polen und Deutschland, zum Hanseraum und zu den Städten Nowgorod und Florenz. Zeitlich liegt der Schwerpunkt zunächst in fünf Beiträgen im Frühmittelalter, im weiteren Verlauf kommen verschiedene Jahrhunderte zur Sprache und abschließend fokussiert der Band in fünf Aufsätzen das 15. Jahrhundert.
Die thematischen Felder sind dabei möglichst umfassend angelegt: Zunächst wird die Qualität der Kleidung sowie der Garne und Stoffe untersucht. Hierbei stehen zugleich die lokalen Hersteller und Märkte im Fokus. Eva Andersson Strand beschäftigt sich mit der Textilproduktion an Gewichtswebstühlen, der Organisation von und theoretischen Perspektiven auf den Handel in Skandinavien. Im Folgenden widmet sich Michèle Hayeur Smith den Wollstoffen in Island und deren Herstellung. Der Frage nach Import oder Eigenherstellung geht sie dabei u. a. anhand der Spinnrichtung der benutzten Garne nach. Auch die Webdichte mit der Anzahl der Fäden pro Zentimeter wird von der Autorin untersucht, um regionaltypische Stoffe zu definieren. Diese detailgenaue Studie erlaubt nicht nur Einblicke in die Handelsbeziehungen, sondern auch in die lokale Produktion und damit nicht zuletzt in die Rolle der Frau und der Heimarbeit in einem nicht industriell organisierten Bereich wie dem Spinnen, dessen historische Bedeutung oft unbeachtet bleibt. Ähnlich genau analysiert Ingvild Øye die Technologie und Textilproduktion in Norwegen zwischen 800 und 1300 anhand der Funde von Webstuhlgewichten und Spinnwirteln. Gale R. Owen-Crocker widmet sich schließlich dem Import von Textilien nach England zwischen 1000 und 1100.
Im Folgenden werden die Einfuhren von Seide genauer betrachtet. Zunächst gibt Marianne Vedeler einen kurzen Einblick in die Seidenfunde in Skandinavien, dann rückt Gitte Hansen die Frage nach dem tatsächlichen Wert dieses Materials in den Fokus. Sie analysiert die Bedeutung der Seidengarne anhand von Bestickungen an Schuhen vom 11. bis zum 13. Jahrhundert in Bergen (Norwegen). Die Autorin zeigt dabei auf, dass es keineswegs eine Frage des Wohlstandes war, ob man sich diese Seidenstickereien leisten konnte. Vielmehr zeugt deren Nutzung von bestimmten modischen Vorlieben, die der gesamten Gesellschaft offenstanden. Zudem weist ihre praktische Annäherung an das historische Seidengarn die hohe Bedeutung experimenteller Versuche nach, die das Verständnis für den Aufbau des historischen Objekts besser verdeutlichen und verständlich machen.
Eine Brücke vom Luxus zum Alltagsmaterial und zugleich von der Archäologie zur Geschichtswissenschaft schlägt Heidi M. Sherman mit der Analyse von Flachs und Leinenprodukten in Nowgorod zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert. Hierbei kann sie einige bestehende Fehlinterpretationen beider Disziplinen aufzeigen. Außerdem betont sie, dass die einfachen Textilien im Alltag wesentlich präsenter und wichtiger waren, als Luxusgüter wie Gold und Pelze. Diese Aussage unterstützt auch der sehr umfangreiche Beitrag des Textilexperten John Munro (†) zur Produktion von Wollstoffen in Florenz zwischen 1320 und 1420 und den zwei großen Krisen dieser Industrie, die mit deren Niedergang zu Beginn des 15. Jahrhunderts endeten. Die Ursache hierfür lag nicht zuletzt im Bezug hochwertiger Wolle, die bis ins 14. Jahrhundert vorwiegend aus England eingeführt wurde. Einen Ausweg aus der Krise bot die Alternative der noch relativ neuen Züchtung von Merinoschafen in Spanien, deren Qualität sich vor allem in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts drastisch verbesserte.
Mit dem Handel von Barchent, einem Mischgewebe aus Leinen und Baumwolle, beschäftigt sich Kilian Baur. Er zeigt die Handelsverbindungen zwischen süddeutschen Textilzentren und Dänemark im Spätmittelalter auf und nutzt hierzu das von Wolfgang von Stromer skizzierte Schema der Handelswege, das jedoch noch umfangreicher war, als dieser angenommen hatte. Herstellung und Handel von Wollstoffen in den Hansestädten untersucht Rudolf Holbach anhand der Nutzung von regionalen und importierten Rohstoffen. Seine Analyse basiert u. a. auf normativen Quellen. Ebenfalls mit Wollstoffen beschäftigt sich Jerzy Maik in Hinsicht auf Produktion und Handel in polnischen Großstädten des Mittelalters. Angela Ling Huang widmet sich nochmals der Hanse und der Leinenproduktion sowie dem Fernhandel mit England im 15. Jahrhundert. Sie kann dabei darlegen, welch große Bedeutung das hanseatische Leinen für den englischen Markt hatte und welche Veränderungen es generell im spätmittelalterlichen Textilhandel gab, die zu einer Standardisierung bestimmter Stoffarten führten.
Einen weiteren Aspekt des Umgangs mit Textilien beleuchten Thomas Ertl und Michael Rothmann, wenn sie sich der Rolle adliger Kunden auf Frankfurter Messen um 1500 und damit dem Konsum von Wollstoffen widmen. Gerade ein so bedeutender Marktplatz bot ein breites Sortiment. Deshalb kann das Kaufverhalten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen gut untersucht werden. Den Textilmarkt wählt auch Stuart Jenks, der auf der Suche nach dem ‚Missing Link‘ zwischen der Konsumrevolution des 17. und 18. Jahrhunderts und einer von ihm angenommenen Veränderung der Handelswege im 15. Jahrhundert ist.
Auf den ersten Blick versammelt der Band sehr divergente Beiträge hinsichtlich der räumlichen und zeitlichen Fokussierung. Diese bunte Zusammenstellung ist jedoch gegliedert und verläuft im Wesentlichen von frühmittelalterlichen nordeuropäischen Themen zu Analysen im spätmittelalterlichen deutschsprachigen Raum. Gemeinsam ist allen Beiträgen eine erfreuliche Konzentration auf die Details der einzelnen Themen. Diese bleiben nicht bei oberflächlichen Ergebnissen stehen, sondern gehen in die spezifische Tiefe jeden Feldes und jeden Fachbereichs. Gerade die zahlreichen statistischen Übersichten zeigen deutlich den Versuch, eine ferne Zeit und ein divergentes Feld wie Textilien besser fassen zu können. In diesem Vorgehen liegt trotz aller Schwierigkeiten interdisziplinärer Forschung auch der Gewinn des Werks: Die genauere Annäherung an den historischen Umgang mit Textilien und das Verständnis für die Details. Erst hierdurch werden kulturelle Zusammenhänge nachvollziehbar und nur durch eine Zusammenarbeit verschiedener Fachbereiche kann diese Durchdringung umfassender werden.