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Meike Bianchi-Königstein
Kleidungswirklichkeiten. Mode und Tracht zwischen 1780 und 1910 in Oberfranken
Regensburg 2019, Pustet, 247 Seiten mit 337 Abbildungen, meist farbig, ISBN 978-3-7917-3096-7Rezensiert von Florian Schwemin
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 17.07.2020
Die vorliegende Arbeit entstand als Dissertation im Rahmen des Forschungsprojekts „Regionaltypisches Kleidungsverhalten seit dem 19. Jahrhundert – Entwicklungen und Tendenzen am Beispiel Oberfranken“. Anhand von 15 musealen und zwei privaten Trachtensammlungen in Oberfranken untersucht die Autorin zwei „unterschiedliche ‚Wirklichkeiten‘“, wie sie es formuliert. Zum einem die Wirklichkeit der tatsächlich getragenen Alltagskleidung, zum anderen die Wirklichkeit von zu „performativen Anlässen“ getragener Kleidung, die von stereotypen Vorstellungen mitgeprägt war. Dabei erstreckt sich der Untersuchungszeitraum auf die Jahre zwischen 1780 und 1910.
Tracht und die zugrundeliegende Forschungs- und Begriffsgeschichte ist als Thema des klassischen volkskundlichen Kanons fester Bestandteil der Fachgeschichte moderner kulturwissenschaftlicher Forschung. Die Literatur der 1970er und 1980er Jahren stellte dabei vor allem den Begriff Tracht, der in erster Linie als ideologisches Konstrukt des 19. Jahrhunderts gesehen wurde, in Frage und löste die alte Dichotomie zwischen als bäuerlich apostrophierter „Tracht“ und städtischer „Mode“ auf. Die Frage, was eine Kleidung zur Tracht machte, wurde in der Folge, in der in der kulturwissenschaftlichen Trachtenforschung meist vor allem der Charakter derselben als kulturelle Konstruktion im Vordergrund stand, ausgespart. Der Begriff Tracht an sich wurde bisweilen als kulturwissenschaftliche Kategorie grundlegend in Frage gestellt. Auf der anderen Seite ist die gesellschaftliche Relevanz des Themas ungebrochen, aktuelle kleinteilige Studien zu einzelnen Trachtenlandschaften sind aber rar.
Meike Bianchi-Königstein schließt diese Lücke und setzt sich zum Ziel, eine Brücke zwischen Fund und Erfindung zu schlagen. Dabei nimmt sie nicht nur die überlieferten Kleidungsstücke als Sachquellen in den Blick, sondern denkt auch die nicht oder selten überlieferten Kleidungsstücke mit, die als unbedeutend und nicht wertvoll entsorgt wurden. Hervorzuheben ist der gelungene Ansatz, die Sachquellen mit verschiedensten Bild- und Textquellen zusammenzubringen. So werden beispielsweise die Physikatsberichte, die Trachtenenquete, Zeitungsartikel oder verschiedene Illustrationen herangezogen.
Im ersten Hauptteil der Arbeit widmet sich die Autorin den „Kleidungswirklichkeiten“, also den tatsächlich belegbaren vestimentären Gewohnheiten, die auf Basis der Sachquellen beschrieben werden. Die Darstellung erfolgt nach Frauen- und Männerkleidung sowie nach Kopf, Ober- und Unterkörper bedeckenden Kleidungsstücken gegliedert. In den meisten Fällen wird dabei chronologisch vorgegangen. Die Kleidungsgewohnheiten der Adeligen und der subalternen Schichten kommen zwar nicht vor, dennoch bleibt ein breites Spektrum von großbürgerlich bis kleinbäuerlich, das mit Blick auf Diffusionsbewegungen betrachtet wird. Dabei zeigen die Sachquellen nicht zuletzt durch Umarbeitungen, die nach Möglichkeit nachvollzogen und datiert werden, vielfältige modische Wanderungsbewegungen in Raum und Zeit.
Die herangezogenen Quellen unterstützen die Einordnung und Verknüpfung der untersuchten Sachquellen. Dabei hütet sich die Autorin davor, Stereotype und Verabsolutierungen weiterzutragen. Vielmehr gelingt es ihr mit präziser Quellenkritik dem Anspruch, die vorgefundenen Realien mit den idealtypischen Beschreibungen der Quellen in Beziehung zu setzen, gerecht zu werden. Die Fülle der Quellen, die auch überregionale textil- und modehistorische Entwicklungen mitdenkt und auf deren Vernetzung achtet, erweist sich als zielführend. Wo sich Leerstellen und Diskrepanzen etwa zwischen literarischer oder künstlerischer Darstellung und vorgefundenen Realien sowie textiltechnischen und ökonomischen Möglichkeiten – wie am Beispiel der roten Röcke der Fränkischen Schweiz erörtert wird – ergeben, werden diese als solche identifiziert und Möglichkeiten zur Beseitigung dieser Desiderata vorgeschlagen.
Durch die genaue Beschreibung auf breiter Quellenbasis gelingt es Meike Bianchi-Königstein für gewisse Zeitpunkte regionale Besonderheiten herauszuarbeiten, die sich durch die „regional unterschiedliche Zusammenstellung einzelner, weitverbreiteter vestimentärer Elemente“ (71) ergeben und die von den Zeitgenossen als solche wahrgenommen wurden. Solche regionalen Häufungen von Kleidungsstilen oder -materialien werden in ihre politischen, konfessionellen, ökonomischen und gesellschaftlichen Kontexte und Dynamiken eingeordnet.
Der zweite Hauptteil geht der Entwicklung der „Trachtenstereotype“ – also dem, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts als die jeweils regionaltypische Tracht galt – in Bamberg, der Fränkischen Schweiz und dem Mistelgau nach. Die Spur der Kleidungsweise des Mistelgaus wird dabei von binnenexotischen Deutungen des 19. Jahrhunderts, die in ihr Relikte einer slawischen Tracht ausmachten, bis zu frühen Quellen des 18. Jahrhunderts zurückverfolgt. Dabei arbeitet die Autorin schlüssig eine Wanderungsbewegung aus Altenburg über Verkleidungspraktiken am Bayreuther Hof heraus. Am Beispiel der Tracht in der Fränkischen Schweiz wird dann der Weg nachgezeichnet, auf dem zu einem gewissen Zeitpunkt die für eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe tatsächlich existierenden Festtagstrachten sozusagen ‚eingefroren‘ und als Trachtenstereotyp fixiert wurden.
Der Schluss fällt recht knapp aus und resümiert in zwei sehr kurzen Kapiteln auf der Basis der beiden schon für sich sehr guten und detailliert ausgearbeiteten Hauptteile die Genese von Tracht und das Verhältnis von Mode und Tracht. Hier werden die komplexen und vielschichtigen Prozesse gebündelt und offene Fragen – und diese hat die gelungene Arbeit zur Genüge aufgeworfen – aufgezeigt.
Die Lektüre des mit 337 Abbildungen üppig ausgestatteten Bandes gestaltet sich nicht immer ganz einfach, da einige Bilder mehrfach referenziert werden und dann mangels Seitenangabe über die Abbildungsnummern gesucht werden müssen. Auch die Verwendung von Kapitelendnoten fördert den Lesefluss nicht. Stil und Inhalt machen das Buch aber zu einem Werk, das allen, die sich mit vestimentärer Kultur beschäftigen, als reiche Fundgrube und beispielhafte Forschung dienen kann. Die besondere Leistung der Arbeit liegt darin, dass die Autorin anhand der vorgefundenen Objekte, die sie sinnvoll mit Bild- und Textquellen in einen Dialog bringt, sachlich der Frage nachgeht, was eine Tracht zur Tracht macht. Dadurch ist der reichlich bebilderte Hauptteil mehr als ein reiner Katalog, sondern er steht auch exemplarisch für eine weitere objektzentrierte und objektive Erforschung dessen, was wir Tracht nennen.