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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Libuše Hannah Vepřek

Ludwigsfeld – (Un-)Gleichzeitigkeiten eines Münchner Viertels. Vom Kampf um Anerkennung und Deutungshoheit über einen städtischen Raum

(Münchner ethnographische Schriften 30), München 2019, utzverlag, 174 Seiten mit 6 Abbildungen, ISBN 978-3-8316-4788-0
Rezensiert von Sabine Slowik
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 17.07.2020

Im Jahr 2007 erregte der Verkauf der bundeseigenen Siedlung Ludwigsfeld im Münchner Stadtbezirk 24 Feldmoching-Hasenbergl an das Unternehmen Patrizia Immobilien AG mediale Aufmerksamkeit. Nicht nur von den betroffenen Akteur_innen, sondern auch in der Öffentlichkeit wurden daraufhin Fragen nach dem Umgang mit der Siedlung Ludwigsfeld hoch emotional diskutiert. Die unterschiedlichen Wahrnehmungen des Viertels machen einen Konflikt zwischen Bewohner_innen und Außenstehenden sichtbar. Besonders die Vergangenheit Ludwigsfelds als Außenlager des Konzentrationslagers Dachau von 1943 bis 1945 und als Siedlung für heimatlose Kriegsflüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg prägte die eher negative Sicht von außen. Dem gegenüber steht das „Heimatgefühl“ (67) der Bewohner_innen und ihre starke Identifikation mit dem Stadtteil. Die zahlreichen Deutungen Ludwigsfelds in einem breiten Spektrum zwischen ehemaligem KZ-Außenlager, Siedlung für „heimatlose Ausländer“ und attraktivem städtischen Wohnort im Grünen prallen aufeinander. Genau diese kontrastierenden Perspektiven, ihre Ursprünge und die verschiedenen Argumentationslinien untersucht und dechiffriert Libuše Hannah Vepřek, derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der Ludwigs-Maximilians-Universität in München, in der überarbeiteten Fassung ihrer Masterarbeit.

Vepřek hat sich für ihre ethnografische Studie einen hohen Anspruch gesetzt. Sie spitzt das Erkenntnisinteresse an der symbolischen Bedeutung Ludwigsfelds für die Bewohner_innen und deren Aushandlungen und Aneignungen des Raumes in der weit gefassten Fragestellung zu: „Welche Rolle spielen innerhalb der Aushandlungen die verschiedenen historischen Schichten vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussionen um eine mögliche KZ-Gedenkstätte und wie stehen die Argumentationsweisen der verschiedenen in der Diskussion beteiligten Positionen zueinander?“ (13) Tatsächlich gelingt es der Autorin mit einem extrem aufwändigen Vorgehen, diese Forschungsfrage zu beantworten und den formulierten Anspruch vollständig zu erfüllen. Über einen Zeitraum von sieben Monaten (von Mai bis November 2018) untersuchte sie mit Hilfe eines vielfältigen Methodeninstrumentariums aus Medienanalyse und Feldforschung das komplexe Bedeutungsgewebe. Durch die teilnehmende Beobachtung u. a. an festlichen Aktivitäten, in einer Mutter-Kind-Gruppe, bei einer Gedenkveranstaltung am Jahrestag der Reichspogromnacht und nicht zuletzt bei der öffentlichen Präsentation einer Machbarkeitsstudie für einen Dokumentations- und Gedenkort für das ehemalige Außenlager des Konzentrationslagers Dachau entwickelte sie sich zu einem vertrauten Gesicht für die Ludwigsfelder_innen. Die Innen- und Außenwahrnehmungen des Viertels erarbeitete Vepřek anhand von qualitativen Interviews. Die von ihr für die Befragung ausgewählten Personen waren elf Bewohner_innen im Alter zwischen 25 und 71 Jahren, die entweder früher in Ludwigsfeld gewohnt haben oder gegenwärtig noch dort wohnen, und außerdem sieben öffentlich wirksame „Vertreter_innen“ Ludwigsfelds und Expert_innen. Ergänzend wertete Vepřek 50 Texte über Ludwigsfeld aus, bei denen es sich um Eigenpublikationen und Selbstzeugnisse der Bewohner_innen und um Medienberichte handelt.

Durch dieses Vorgehen kann die Autorin den Stadtteil Ludwigsfeld als städtischen Raum erkennen, in dem sich im Laufe seiner soziohistorischen Transformationsprozesse vor allem durch seine heterogenen Bewohner_innen Überlagerungen und Koexistenzen von verschiedenen „Schichten“ (11) von Symbolen und Deutungen entwickelt haben und der die damit entstehenden titelgebenden (Un-)Gleichzeitigkeiten erfahren hat. In einem historischen Abriss für die Jahre 1936 bis 1952 zeichnet Vepřek die bedeutsamen Geschehnisse vor dem Bau der Siedlung Ludwigsfeld nach und beschreibt die darauffolgende Entstehung einer örtlichen kollektiven Identität und die Raumaneignung durch die Bewohner_innen. In einem nächsten Schritt benennt sie die zentralen Momente, in denen schließlich die bis dahin vorherrschende Deutungsmacht über den Raum von außen kritisch in Frage gestellt wird. Vepřek konzentriert sich dabei spezifisch auf die „unterrepräsentierte“ (12) Wahrnehmung Ludwigsfelds durch dessen Bewohner_innen. Während die Siedlung im öffentlich-medialen Diskurs vielfach als „Glasscheibenviertel“ mit einer problematischen Vergangenheit verstanden werde, würden dagegen die Bewohner_innen den Raum nicht nur als bloßen Wohnraum bewerten, sondern ihn als Heimat sehen mit einer Geschichte, an die erinnert werden soll, und als Ergebnis eines selbst errungenen Zusammenhalts. Dies stehe im Gegensatz zur Außenwahrnehmung als einem von der Stadtverwaltung vergessenen und vom „Bund“ (der Bundesrepublik Deutschland als Eigentümerin) abgelehnten, ökonomisch unattraktiven Viertel. Ludwigsfeld befände sich in der Konsequenz in einem bis heute andauernden, permanenten Aushandlungsprozess, den die verschiedenen Akteur_innen als stetigen „Kampf“ identifizierten, in dem sie symbolisch um gesellschaftliche Anerkennung und die Deutungshoheit über ihr Viertel rängen. Vepřek schließt daraus, dass die gegenwärtigen Konflikte als Kulmination dieses „Kampfes“ zu verstehen seien. Sie vermutet auf Basis ihrer Auswertungen, dass der von den Bewohner_innen geforderte, bisher fehlende soziokulturelle Treffpunkt – der gleichzeitig auch Erinnerungsort mit einer Gedenkmöglichkeit in der ehemaligen KZ-Baracke sein könnte – die vorliegende Konfliktsituation deutlich entschärfen und den Bewohner_innen das ersehnte Gefühl von Anerkennung und Mitbestimmung vermitteln könnte.

Insgesamt stellt diese Monografie eine überaus empfehlenswerte Lektüre dar, bei der es der Autorin gelungen ist, ein sehr anspruchsvolles Unterfangen umzusetzen und dieses in konziser Schreibweise und verständlicher Sprache nachvollziehbar zu machen. Besonders auch für Masterstudent_innen liegt hier ein ausgezeichnetes Beispiel für die Erstellung der eigenen Abschlussarbeit vor. Nicht umsonst wurde Libuše H. Vepřek mit dem „Hochschulpreis 2019 der Landeshauptstadt München“ ausgezeichnet und hat die Ergebnisse ihrer Arbeit im Rahmen der Ausstellung „München-Ludwigsfeld: Dorf – KZ-Außenlager – Stadtviertel“ der Öffentlichkeit präsentiert.

Auf der soziokulturellen Mikroebene Ludwigsfeld bilden sich im kleinen Rahmen die makrogesellschaftlichen, zeitgeschichtlichen Entwicklungen Münchens ab. Deswegen behält diese Monografie sicherlich auch in Zukunft ihre Relevanz. Von Stadtplanern und der Stadtpolitik wünscht man sich, dass die gewonnenen Erkenntnisse nicht nur für die aktuell circa 3 200 Bewohner_innen Ludwigsfelds nutzbar gemacht werden, sondern auch für allgemeine Überlegungen zur Konstruktion von städtischer Identität und der bewussten Gestaltung attraktiver Lebensräume.