Aktuelle Rezensionen
Detlef Siegfried/David Templin (Hg.)
Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980. Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert
(Jugendbewegung und Jugendkulturen, Jahrbuch 15), Göttingen 2019, V & R unipress, 429 Seiten mit 15 Abbildungen, teils farbig, ISBN 978-3-8471-1012-5Rezensiert von Bernd Wedemeyer-Kolwe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.07.2020
Das Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJB) veranstaltet seit Jahrzehnten jährlich eine Tagung, die sich einer jeweils zentralen Facette der Geschichte der Jugendbewegung und der angrenzenden Gebiete widmet. Die Referate der Tagungen werden zeitnah veröffentlicht und fließen in das Archivjahrbuch des darauffolgenden Jahres ein. Das jeweilige Jahrbuch ist daher zugleich Tagungsband und Arbeitsbericht; dazu werden darin noch weitere Einzelbeiträge sowie eine Vielzahl an Buchbesprechungen und Kommentaren publiziert. Jedes Jahr eine derart aufwendige und für die Forschung stets unverzichtbare und gehaltvolle Publikation zu veröffentlichen, die bescheiden unter „Jahrbuch“ läuft, ist – angesichts der dünnen wissenschaftlichen Personaldecke des Archivs um die Leiterin Dr. Susanne Rappe-Weber – schon eine organisatorische Meisterleistung, die man nicht genug herausstellen kann.
Die 2018 ausgerichtete Tagung des AdJB befasste sich mit den inhaltlichen, praktischen, ideologischen, kulturellen und personellen Bezügen zwischen den „alternativen“ Strömungen der vorletzten Jahrhundertwende – gemeinhin als „Lebensreformbewegung“ bezeichnet – und den Alternativmilieus der 1980er Jahre, die – Sven Reichardt hat dazu umfänglich gearbeitet und ist auch im Tagungsband vertreten – sich aus der 1968er Bewegung und der Alternativkultur der 1970er Jahre gespeist haben. Verbindungen zwischen beiden Bewegungen sind vorhanden bzw. wurden bereits schon während der zweiten Alternativbewegung ab den 1970er Jahren behauptet, wenngleich sich letzteres eher auf eine Rezeption bzw. einen bewussten Rückgriff als auf eine tatsächlich belegbare Kontinuität bezieht. Die Herausgeber Detlef Siegfried und David Templin weisen in ihrem Vorwort dann auch auf die Ähnlichkeit beider Bewegungen hin, beklagen aber gleichzeitig, dass es bislang kaum systematische Vergleiche und Studien zu Kontinuitäten oder Rezeptionen gibt. Erst in jüngerer Zeit seien Forschungen zu verzeichnen, die alternative Praktiken und Selbstverwaltungen beider Bewegungen miteinander vergleichen oder sich um Fragestellungen zur Modernitätskritik in beiden historischen Strömungen herumbewegen (16 f.).
Interessanterweise kommen die Herausgeber zu dem – die Bedeutung des Forschungsfeldes eigentlich verringernden – Teilschluss, dass „mit Blick auf konkrete Verbindungslinien“ Ausmaß und Bedeutung der Kontinuität und Interaktion zwischen beiden Strömungen „deutlich relativiert werden“ müssen. Impulse von alter Jugendbewegung und Lebensreform auf die Alternativkultur ab den 1970er Jahren seien doch eher marginal gewesen; sehr viel wichtigere Einflüsse auf die Alternativkultur seien eher auf internationaler Ebene zu finden, insbesondere von den Massenmedien der U.S.A., die Drogen, Hippiekultur, Makrobiotik oder neureligiöse Orientierungen in Europa populär gemacht hätten (22).
Damit bringen sich die Herausgeber allerdings um einen bedeutenden forschungsimmanenten Aspekt einer konkreten Kontinuität zwischen beiden Strömungen. Historische Forschung bzw. historische Themenwahl ist auch eine Reflexion zeitgenössischer Befindlichkeiten und Problemlagen: So sind etliche Lebensreformforscher der ersten und zweiten Generation selbst im Alternativmilieu ihrer Zeit verankert (gewesen) und bieten damit ein personelles Kontinuitätskontingent. Auch die jüngere Forschung zum Thema geschieht im Rückgriff auf gegenwärtige Probleme und Themen. Und dies sind nun mal Klimawandel, Naturschutz und alternative ressourcenschonende Lebensweisen, ergo: Themen der Lebensreform. Der Umstand, dass genau an dieser Stelle biografische und zeitgenössische Befindlichkeiten der Forschenden die eigenen Forschungsthemen bestimmen und damit Forschungsparadigmen ausgelöst (konstruiert?) werden, kam leider weder auf der Tagung noch im Tagungsband gezielt und kompakt zur Sprache, obwohl gerade dieses Phänomen zentralste Auswirkungen auf den gesamten Forschungsgegenstand hat. Lediglich Ulrich Linse, der leider nicht auf der Tagung war, spricht in seinem Beitrag den eigenen biografischen und zeitgeschichtlichen Einfluss auf sein (damaliges und heutiges) individuelles Forschungsinteresse bewusst an. An diesem Punkt wäre es von selbstreflexivem Interesse gewesen, sich zu fragen, ob hier nicht der biografische Hintergrund ganzer Forschungsgenerationen das Thema „Alternativkultur“ mitgeneriert oder sogar hauptsächlich bestimmt hat? In der Jugendbewegung wurde und wird ja die Selbstthematisierung im Forschungsfeld auch immer mitberücksichtigt.
Die anderen Teilergebnisse der Forschung bzw. des Tagungsbandes sind konstruktiver und eindeutiger formuliert. Die Ähnlichkeiten zwischen Lebensreform und Alternativmilieu im Hinblick auf Modernekritik, Reformwillen, Aufwertung des Kollektivs, ganzheitliche Ansätze und Subjektivierungsweisen seien frappierend, sowohl in Bezug auf die Abwehrmechanismen gegen die Moderne als auch auf die enge Verzahnung mit den Kapitalismusmechanismen der Moderne (21 f.). Die Bedeutung des Nationalsozialismus für die deutschen Stränge beider Alternativbewegungen sei „kaum zu überzeichnen“ (23). Dies bezieht sich sowohl auf gemeinsame Elemente wie Körperbilder (auch Kleidung und Haartrachten), wenngleich sich die Langhaarigkeit und Androgynität (sieht man einmal von den Bärten ab) der zweiten Bewegung nicht auf die erste bezog, als auch auf die Tatsache, dass es in der Lebensreform auch völkische Gruppen gab und sich daher die spätere Alternativkultur teilweise von ihren Vorgängern distanzierte. Und viertens sei trotz grundlegender Gemeinsamkeiten die zweite Alternativwelle hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Rezeptionskraft wesentlich erfolgreicher als ihr Vorgänger: Naturkonzepte, Körpertherapien und Ökologisierung sind heute breit in globalen bürgerlichen Lebensweisen verankert, wenngleich durch deren Kommerzialisierung ihre Kapitalismuskritik verloren ging (24); so wird Yoga heute nicht mehr als private Körpertechnik praktiziert, sondern zur leistungssteigernden Selbst- und Fremdoptimierung sowie als Habitusmerkmal und zur sozialen Abgrenzung genutzt. Auch das ist Rezeption.
Der Tagungsbeitragsteil des Jahrbuches ist in fünf Abschnitte gegliedert: Joachim C. Häberlen (Vernunftkritik), Bernadett Bigalke (Yoga) und Nadine Zberg (Gartenstadt) widmen sich Aspekten der Modernitätskritik in beiden Bewegungen. Rosa Eidelpes (Ethnologie) und Ulrich Linse (Siedlungsbewegung) befassen sich mit der Wissenschaftsgeschichte beider Milieus. Eva Locher (Lebensweise) und Jörg Albrecht (Naturkost) analysieren alternative Lebens- und Ernährungsweisen. Elija Horn (Asienrezeption) und Lutz Sauerteig (sexuelle Liberalisierung) untersuchen Sexualitätsvorstellungen, Gunter Mahlerwein (Musik) und Bodo Mrozek (Haartracht) erforschen kulturelle Ausdrucksformen der Lebensreform um 1900 und der Alternativbewegung der 1970er Jahre. Nicht alle Referate der Tagung liegen in schriftlicher Form vor; es fehlen vier Tagungsbeiträge, dagegen ist der Beitrag von Ulrich Linse zusätzlich aufgenommen. Warum dies so ist, erschließt sich nicht; die daran anschließende Frage wäre, ob nicht auch andere renommierte Fachspezialisten und Fachspezialistinnen, die nicht mit einem Referat auf der Tagung vertreten waren, einen zusätzlichen Beitrag hätten leisten können.
Einer der zentralen Dreh- und Angelpunkte, die das Thema im Wesentlichen bestimmen und gliedern, dürfte die Definition von „Lebensreform“ und „Alternativmilieu“ sein. Das auf den Punkt formulierte Vorwort geht detailliert auf die in der Forschung diskutierten engen und weiten Begriffsbestimmungen, die kulturellen und sozialen Funktionen der Bewegungen und die problematische Abgrenzung zwischen Primärbewegung und gesellschaftlicher Rezeption beider Strömungen ein, ist aber in Bezug auf Definition und Funktion ergebnisoffen. Dies bleibt nicht ohne Auswirkung auf die einzelnen Beiträge, besonders auf den im Grundsatz nie diskutierten Bezug zwischen Jugendbewegung und Lebensreform: Während etliche Beiträge sich laut Thema der Tagung tatsächlich auch mit Lebensreform befassen, geht es in anderen Aufsätzen (Horn, Sauerteig, Mahlerwein) beinahe ausschließlich um Jugendbewegung; das war aber nicht das Tagungsthema. Obwohl es, neben Gemeinsamkeiten (Siedlung), doch eklatante Unterschiede zwischen Lebensreform und Jugendbewegung gab, wird dies nicht angesprochen. Ebenso wenig wird erklärt, was das akademische Fach Ethnologie (Eidelpes) – insbesondere die Kulturkreislehre des Ethnologen Leo Frobenius – mit der Lebensreform, einer eher nichtakademischen Strömung, überhaupt zu tun hatte. Dieser Einwand hat nichts mit der hohen Qualität der Beiträge zu tun; es geht lediglich um Definitionsabgrenzungen und die Zuordnung von Tagungsthema und Beiträgen.
Die anderen Texte des Jahrbuches jenseits der Tagungsbeiträge bestehen – wie immer konzise und informierend – aus Werkstattübersichten, Rezensionen und Archivberichten. Ein nicht uninteressanter Bezug zwischen beiden Jahrbuchteilen ergibt sich zwischen der von Wolfgang Braungart verfassten Rezension zu der von Elija Horn geschriebenen Dissertation über die Asienrezeption in der Jugendbewegung (381 f.) und der Tatsache, dass Horn selbst mit einem Tagungsbeitrag zum Thema im Jahrbuch vertreten ist (195 f.). Braungart kritisiert nämlich an mehreren Stellen seiner Rezension harsch die akademische Sprache Horns als „postkolonialen Theorie-Jargon“ (382) und als „aus den Fugen geratene Formulierungen“ (383, Fußnote) und fordert angesichts textbausteinartiger Formeln wie „sich abarbeiten“ und „Projektionsfläche“: „Auf jeden Fall müssen wir unser Schreiben ändern. Es darf zugänglich sein; das ist keine Schande.“ (383)
Wenn auch der Rezensent noch weitere, in akademischen Texten mittlerweile inflationär verwendete Textbausteine von „aushandeln“ bis „einschreiben“ und von „Diskurs“ bis „Narrativ“ bzw. „Erzählung“ hinzufügen könnte, muss er doch Elija Horn und andere Betroffene in Schutz nehmen. Denn derlei Formulierungen kommen nicht von ungefähr, sondern sie sind der Hochschule ausgesprochen immanent. Wer sich ihrer bedient, zeigt, dass er oder sie zur „scientific community“ gehört, und das macht man nicht immer freiwillig, sondern es weist auf den Wunsch und vielleicht auch auf den Zwang hin, dazu zugehören bzw. dazugehören zu müssen. Bei aller Kritik an der Sprache jüngerer Kolleginnen und Kollegen sollte man sich doch fragen, ob es vielleicht auch einen akademischen Habituszwang gibt (der auch von älteren Hochschulgenerationen ausgeübt wird), der ein „zugängliches“ Schreiben ohne Zugehörigkeitstextbausteine gar nicht zulässt.
Zudem ist das Verfassen von guten Texten nicht nur eine Übungssache, die eben einfach dauert und nicht immer auch erlernt wird, sondern es ist oft erst möglich, wenn man eine – auch innere – freie Positionsebene erreicht hat, die ein Denken und Schreiben fern von Formulierungszwängen überhaupt erst zulässt. Ich erinnere mich an mein Studium in den 1980er Jahren, als wir die individuellen, lustvollen, ironischen und pointiert formulierten Abhandlungen eines Peter Gay oder eines George Mosse gelesen haben; selbstbewusste und unbequeme Historiker, die sich bestimmt nicht um das akademisch korrekte Sprachkorsett geschert haben. Ihre Texte bleiben genau aufgrund dieser Sprache nachhaltig in Erinnerung, und wir wünschten uns, einmal ebenso frei und sicher formulieren zu können und zu dürfen wie sie.