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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Heiner Barz (Hg.)

Handbuch Bildungsreform und Reformpädagogik

Wiesbaden 2018, Springer VS, VI, 623 Seiten mit Abbildungen, Tabellen, ISBN 978-3-658-07490-6
Rezensiert von Bernd Wedemeyer-Kolwe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 07.08.2020

Der Herausgeber Heiner Barz formuliert den Zweifel an prominenter Stelle im Vorwort selbst: „Es wirkt fast ein bisschen paradox, dass in einer Zeit, in der die Traditionslinie gleichsam ‚bekenntnisorientierter‘ Reformpädagogik-Forschung fast vom Aussterben bedroht scheint und längst die Parole vom ‚Schnee vom vergangenen Jahrhundert‘ […] ausgegeben wurde, der historisch-kritische sowie der bilanzierende Zugang durchaus stark vertreten sind. An Handbüchern zur Reformpädagogik jedenfalls herrscht kein Mangel!“ (5) So sind gerade in den letzten Jahren mit den – immer auch historisch angelegten – ausführlichen und gründlichen Überblicksdarstellungen von Dietrich Benner/Herwart Kemper (2001), Ehrenhard Skiera (2003/2010), Wolfgang Keim/Ulrich Schwerdt (2013), Till-Sebastian Idel/Heiner Ullrich (2017) oder Maren Gronert/Alban Schraut (2018) zahlreiche Handbücher zur Reformpädagogik erschienen. Ohnehin gehört die Reformpädagogik zu denjenigen Strömungen, die sich von Beginn an systematisch selbst thematisiert und kritisch überprüft, in ihrem Selbstbezug und ihrem Sendungsbewusstsein aber auch gefeiert hat. So haben etliche frühe Reformpädagoginnen und -pädagogen von Maria Montessori bis Wilhelm Flitner nicht nur die eigenen Anschauungen unermüdlich zu Papier gebracht, sondern auch schon recht bald Handbücher zu Methoden, Schulformen und Praktiken zusammengestellt und publiziert. Zu den Dauerbrennern der historischen Handbücher zur Reformpädagogik zählt dabei etwa die Darstellung von Wolfgang Scheibe, die zwischen 1969 und 2010 zehn gedruckte und mehrere Online-Ausgaben erlebt hat. Die Biografie von Scheibe – Schüler von Herman Nohl, SA-Mitglied, Reichsarbeitsdienstführer und ab 1963 dann Professor an der Pädagogischen Hochschule München – deutet auch schon die diversen historischen Problematiken und Ambivalenzen des Themas an.

Das zweite Problem ist, dass „Begriff und Gegenstand der Reformpädagogik […] längst aller Eindeutigkeit beraubt“ sind (4). Während „Reformpädagogik“ ursprünglich eine neue Epoche in der Pädagogik des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts bezeichnete, wurde der Begriff später auch auf pädagogische Konzepte der Nachfolger nach 1945 bis in die entsprechende Gegenwart angewandt. Über den einflussreichen Kritiker Jürgen Oelkers wurde ab den späten 1980er Jahren „Reformpädagogik“ zunehmend als Ideologie und Mythos dekonstruiert. Demgegenüber standen und stehen Konzepte der Krisenbewältigung durch Reformpädagogik und ihre „Monumentalisierung“ (5) durch die reformpädagogische Idee einer globalen Erziehungserneuerungsepoche. Und schließlich sollte durch den Skandal um den sexuellen Missbrauch in der Odenwaldschule ab 2010 und die sich daran entzündenden Richtungsstreitigkeiten um Anspruch, Theorie, Konzeption und Praxis die Reformpädagogik noch einmal unter starken Rechtfertigungsdruck geraten. Auch derlei Paradigmenwechsel und das jüngste Negativimage machen die Konzeption eines weiteren Handbuches zur Reformpädagogik zu keiner leichten Aufgabe.

Die dritte Einschränkung, die Heiner Barz sehr deutlich, offen und direkt – und auch mit persönlichen Hintergrunderfahrungen – anspricht, sind die Probleme bei der Vorbereitung des Handbuches selbst. Die Forschungsrichtungen bzw. die Fachautorinnen und -autoren zum Thema sind und haben sich – auch durch den Missbrauchsskandal – mittlerweile, wenn nicht zerstritten, so doch mindestens voneinander distanziert. Die Szene schwankt zwischen Selbstbezichtigungen, gegenseitigen Vorwürfen und offenen Feindschaften. Noch einmal Heiner Barz: „Wenn man eine freundliche Anfrage zur Mitwirkung startet und als Antwort eine ausführliche Abrechnung erhält, in der Mitautoren als ‚Hinrichter der Reformpädagogik‘ geschmäht werden, mit denen eine Zusammenarbeit unmöglich sei, dann zeigt das, wie tief die Gräben geworden sind, die sich in der Auseinandersetzung um das reformpädagogische Erbe inzwischen auftun.“ (8)

Die Messlatte für dieses Handbuch hing also hoch. Dass dieses Projekt dennoch gelang, verdankt sich der Tatsache, dass es Heiner Barz geschafft hat, den vielen Richtungen in der gegenwärtigen Diskussion eine Stimme zu geben, konträr geschriebene Artikel zuzulassen, problematische Themen anzusprechen und so die zeitgenössischen Kontroversen, die sich wiederum auch in den historischen Beiträgen widerspiegeln, miteinzubinden, so dass das Handbuch auch ein (historisches) Spiegel-, ja Vexierbild der disparaten Forschung zum Thema ist. Dies setzt der Herausgeber durch ein strikt eingehaltenes formales Schema der Beiträge und durch eine straffe Gliederung um, die einen großen systematischen Bogen vom 18. Jahrhundert bis heute schlägt. So umfassen die Beträge im ersten Abschnitt „Historische und systematische Bezüge“ unter anderem die Reformpädagogik vor der Reformpädagogik, die Ideologiekritik (vom umstrittenen Jürgen Oelkers verfasst), den Nationalsozialismus (Peter Dudek), sozialistische Reformexperimente nach 1945, das Thema Geschlecht und Reformpädagogik oder auch Bildungsreformen in der BRD. Abschnitt 2 untersucht die Gründergeneration der Reformpädagogik, wobei sich Einzelbeiträge mit John Dewey, Maria Montessori, Peter Petersen, Alexander S. Neill und Rudolf Steiner befassen. Die Zuordnung von Rudolf Steiner bzw. der Waldorfpädagogik zur Reformpädagogik dürfte umstritten sein, die Auswahl der auf Einzelpersonen bezogenen Beiträge hätte auch anders ausfallen können; die problematischen NS- bzw. völkisch-rassistischen Bezüge von Petersen, Montessori und Steiner werden angesprochen. Abschnitt 3 bezieht sich auf heutige reformpädagogische Schulen; wiederum werden Petersen, Montessori und Steiner Einzelbeiträge gewidmet, dazu kommen Abschnitte zu deutsch-türkischen und konfessionellen Schulen. Ein vergleichbarer inhaltlicher Schwerpunkt findet sich auch in Abschnitt 4 zur empirischen Forschung, wobei hier noch Artikel zu freien alternativen Schulen und zur Kinderladenbewegung aufgenommen wurden. Auffällig findet der Rezensent, dass der Waldorfschule in den Abschnitten 2 bis 4 viel Raum gewidmet wird, obwohl die Zuordnung der Waldorfschulen zur Reformpädagogik stets umstritten war; dabei arbeiten jedoch nicht alle Autorinnen und Autoren der Waldorfartikel auch in Waldorfbezügen, so dass eine gewisse Ausgewogenheit gegeben sein sollte. Abschnitt 5 beschäftigt sich schließlich mit der Praxis an den Schulen; hier wird sich u. a. kritisch mit den Missbrauchsfällen an der Odenwaldschule, der sozialen Klientel an den Privatschulen (Elitevorwurf) und den Gegensätzen Privatschule – staatliche Schule befasst. Der längste und letzte Abschnitt 6 hat mit 21 Beiträgen die vielgestaltige Gegenwart im Blick, und die reicht von „Homeschooling“ über „offenen Unterricht“ bis zur „inklusiven Pädagogik“ und befasst sich daneben mit Neurowissenschaft, Kultur und der modischen „Lernkompetenz“ als neuen Aspekten einer modernen Pädagogik.

Insgesamt hat das Handbuch durch seine Vielgestaltigkeit enzyklopädischen Charakter, wenn auch die Schwerpunktsetzung auf bestimmte Schulformen und pädagogische Richtungen sicher nicht unwidersprochen bleiben dürfte. Auch die Ausweitung auf breite gegenwärtige alternative Unterrichtsformen verlässt den traditionellen Rahmen der Reformpädagogik und findet sicher auch eine Gegnerschaft. Dennoch wird man der reformpädagogischen Forschung trotz der vielen Rückschläge und Vorfälle in der jüngeren Vergangenheit nicht vorwerfen können, sich rückwärts zu orientieren. Wer auf reformpädagogische „Schwanengesänge“ hofft, wird mit diesem Buch enttäuscht.