Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


re:form e. V. (Hg.)

Re:Eden. Neue Blicke auf die älteste Reformsiedlung Deutschlands

Berlin 2019, jovis, 144 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, teils farbig, ISBN 978-3-86859-587-1
Rezensiert von Bernd Wedemeyer-Kolwe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 28.08.2020

Im Jahr 1893 gründeten eine Handvoll bürgerlicher Aussteigerinnen und Aussteiger in Oranienburg nördlich von Berlin die gemeinnützige Obstbaureformsiedlung Eden, um ihren lebensreformerischen Traum vom selbstversorgenden unabhängigen naturnahen Leben in die Realität umzusetzen. Eden war eine von vielen lebensreformerischen Siedlungsprojekten der damaligen Zeit, aber sie ist eine derjenigen wenigen Gründungen, die es bis heute, also nach 127 Jahren, immer noch gibt. Eden ist in der Lebensreformforschung berühmt, ja geradezu berüchtigt und dürfte – neben dem Monte Verità – diejenige Reformsiedlung sein, über die am meisten geschrieben und geforscht, gestritten und polemisiert worden ist. Die Fachliteratur zum Thema ist enorm.

Im Laufe der Zeit veränderte sich Eden geradezu eklatant. Die Reformsiedlung erlebte mit Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, DDR und Deutschland fünf politische Systeme und besteht tatsächlich immer noch. Die soziale Zusammensetzung der Siedlung, ihre Organisationsform, die Lebensgestaltung, die Arbeitsweisen und die Wohnumgebung der Bewohner, ja sämtliche Daseinsvorstellungen und Lebenspraktiken durchliefen in all den Jahrzehnten jedoch so derart immense Veränderungen, dass sich Eden heute nicht nur in verschiedene Fraktionen gespalten hat, die ganz unterschiedliche Zukunftsfantasien und Lebensweisen präferieren, sondern dass das gesamte ursprüngliche Projekt Eden auf dem Prüfstand steht. Wo einstmals bürgerliche Aussteiger neue Daseinsformen erproben wollten – wobei die Frage im Raum stand und steht, welche bürgerlichen Hypotheken tatsächlich auch getilgt werden konnten –, mutet Eden in der Gegenwart, abgesehen von einstmals lebensreformerischen und in Würde gealterten Artefakten wie einige charmant heruntergekommene Fin de Siècle-Gebäude und sandige Sträßchen, wie ein in sich abgeschottetes traditionell bürgerliches Viertel mit romantischen Jugendstilhäusern und riesigen Gartengrundstücken an, die in der heutigen Wohnknappheit und der Aufwertung von Immobilien sicher einiges wert sein dürften und außerordentlich begehrt sind.

Wo steht Eden heute, ist die ursprüngliche Vision heutzutage überhaupt noch lebbar oder hat sich das Konzept überlebt? Zum 125. Jubiläum Edens im Jahr 2018, das durch vielfältige Aktionen und Veranstaltungen geprägt war, geht das „Begleitbuch“ jenes Jahres diesen Fragen nach. Das Buch ist jedoch nicht auf Eden begrenzt, sondern Eden steht vielmehr als Paradigma für eine kritische Rückschau und Bilanz hinsichtlich der historischen Chancen und Probleme früherer lebensreformerischer und gegenwärtiger alternativer Lebensweisen. Daher befasst sich das Buch unter verschiedensten (Fach)Perspektiven im Kern mit der vielfältigen Geschichte der Lebensreformbewegung. Die Herausgeberinnen und Herausgeber selbst stehen für ganz verschiedene Zugänge: Dietrich Heißenbüttel ist Kunsthistoriker und Journalist, der sich unter anderem besonders für die Geschichte alternativer Lebensweisen interessiert. Die Künstlergruppe bankleer sind die Eden-Bewohnerinnen und -Bewohner Karin Kasböck und Christoph Maria Leitner, ein Duo, das sich der gesellschaftskritischen Aktionskunst verschrieben und mit ihren Aktionen einige Erfolge und Aufmerksamkeit erzielt hat. Die Publikation ist dabei die Begleitveröffentlichung des Projektes Re:Eden, das „die Geschichte, Gegenwart und Zukunft Edens neu“ befragt und neue Blicke wirft „auf die Reformsiedlung aus der Sicht von Künstler*innen, jungen Architekt*innen, führenden Expert*innen und engagierten Bewohner*innen“ (3).

Das Buch enthält knappe zusammenfassende Übersichten von Dietrich Heißenbüttel und eine längere Einleitung von Anja Neumann zur Geschichte der wesentlichen reformerischen Bestrebungen (Lebensreform, Bodenreform, Wirtschaftsreform), die für Eden maßgeblich waren. Neben dem Abdruck von Originaltexten (u.a. des Bodenreformers Silvio Gesell) und kommentierten Chroniken zur Geschichte von Eden finden sich programmatische Einwürfe von bankleer, Texte aus der Sicht von Architektur- und Gestaltungsgruppen sowie ein Interview mit dem Performancekünstler Stephan Dillemuth, Professor an der Akademie der Bildenden Künste in München, der sich seit längerem mit der Geschichte der Lebensreform befasst und auf einer Eden-Veranstaltung eine Lebensreform-Performance initiiert hat, die manchen unbefangenen Zuschauer verschreckt haben dürfte. 2018 zeigte die Münchner Städtische Galerie im Lenbachhaus eine Dillemuth-Retrospektive, die auch Arbeiten zum Thema  „Lebensreform“ aufwies; allerdings hatte der Künstler die Objekte so stark „verrätselt“ (so eine beliebte kunsthistorische Floskel), dass nur Spezialistinnen und Spezialisten zum Thema damit etwas anfangen konnten.

Die Gestaltung des Buches ist, ähnlich wie schon die Texte, außergewöhnlich und vielfältig. Das gesamte Design – bestehend aus collageartigen Abschnitten, verschiedenfarbigen Seiten, unterschiedlichen Textstrukturen, verschieden formatierten Abdrucken von Originaltexten und Originalfotos – versprüht mit seiner Aufmachung den kauzigen Charme unorthodoxer zusammenkopierter Untergrundliteratur der 1970er und 1980er Jahre und ist als eigener Beitrag zu einer Ästhetik der alternativen Lebensreform höchst bemerkenswert. So spricht das Buch über die historischen Spezialartikel einerseits die Fachwelt an, andererseits ist es selbst ein Ergebnis gelebter Praxis heutiger Lebensreform.