Aktuelle Rezensionen
Sandra Kreisslová/Jana Nosková/Michal Pavlásek
„Takové normální rodinné historky“. Obrazy migrace a migrující obrazy v rodinné paměti
Prag 2019, Argo, 242 Seiten, ISBN 978-80-257-3036-2Rezensiert von Marketa Spiritova
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.07.2020
Über Migrationserfahrungen und -erinnerungen ist in den letzten 30 Jahren viel geschrieben worden, zahlreiche Oral History Projekte wurden durchgeführt und Lebensgeschichten von Menschen aufgezeichnet und analysiert, die von freiwilliger oder erzwungener Migration betroffen sind und waren. Doch es gibt wenige wissenschaftliche Arbeiten, die zugleich verschiedene, auch ineinander verwobene, europäische Migrationskontexte, -wege und ‑motive und diese für mehrere Generationen in den Blick nehmen, wie die vorliegende Monografie „,Ganz normale Familiengeschichten‘. Bilder der Migration und migrierende Bilder im Familiengedächtnis“ der Ethnolog*innen Sandra Kreisslová, Jana Nosková und Michal Pavlásek.
Familien aus vier europäischen Migrationskontexten stehen im Vordergrund der biografiegeschichtlichen, generationenübergreifenden Untersuchung: a) Angehörige der tschechischen Minderheit in Kroatien, die seit dem 18. Jahrhundert in der Region Slawonien siedeln und sich bis heute der „alten [böhmischen/tschechischen/tschechoslowakischen] Heimat“ verbunden fühlen; b) Tschechen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg zur Remigration entschlossen haben – es handelt sich um Männer und ihre Familien, die sich als Partisanen während des Krieges tschechoslowakischen Brigaden angeschlossen hatten, vom kroatischen Ustaša-Regime verfolgt wurden und nach dem Krieg in die von Deutschen verlassenen Grenzgebiete in der Tschechoslowakei übersiedelten; c) Deutsche, die 1945/1946 aus der Tschechoslowakei in die BRD ausgesiedelt beziehungsweise die vertrieben wurden; d) Deutsche, die nach dem Krieg in der Tschechoslowakei bleiben durften (und wollten), zumeist Familien, die aus multinationalen Familien stammen. Die zentrale Fragestellung der Studie lautet: Wie werden Familiengedächtnisse narrativ und praxeologisch hergestellt, wie Erlebnisse, Erfahrungen und Erinnerungen intergenerational tradiert? Welche Erzählungen und Erinnerungen kommen – „ähnlich dem Spiel Flüsterpost“ (14) – bei den nachfolgenden Generationen an und welche Rolle spielen sie für die Identitätsbildung vor allem der jüngeren Generationen? Anhand lebensgeschichtlicher Interviews mit Familienmitgliedern aus drei Generationen einer jeden von diesen Migrations- beziehungsweise Minderheitserfahrungen betroffenen Gruppe legt das Buch in luzider Weise Prozesse des ‚doing family memory‘, ‚doing (multi-)ethnicity‘ und ‚doing identity‘ offen.
Das Buch ist – was leider nicht gleich aus dem Inhaltsverzeichnis hervorgeht – in vier große thematische Abschnitte gegliedert: In den ersten zwei Teilen (Kap. I bis V) werden die theoretischen Ansätze (Erinnerungskultur, Familiengedächtnis, Generation) und methodischen Zugänge (biografische Interviews, Feldforschungserfahrungen) dargelegt und beeindruckend kritisch reflektiert; im dritten Abschnitt „Geschichtsbilder“ (Kap. VI bis VIII) werden kenntnisreich die historischen Kontexte und diskursiven Rahmungen der vier Untersuchungsräume anhand von schriftlichem Quellenmaterial und ersten Interviews dargestellt; im vierten Großkapitel (Kap. IX) schließlich werden empathisch die empirischen Befunde und profunden Analysen der erhobenen Interviews vorgelegt. Für die Publikation wurde aus insgesamt 35 Familien, mit deren Vertreter*innen über 100 mehrstündige Interviews auf Tschechisch oder Deutsch geführt wurden, jeweils eine Familie für jeden Migrationskontext ausgewählt. Diese Auswahl überzeugt einerseits, weil so alle Migrationsvarianten vertreten sind, andererseits ist diese Begrenzung schade, weil man gerne noch an mehr familiären „Tischgesprächen“ teilgenommen hätte. Denn es gelingt den Autor*innen ganz außerordentlich, den Akteurinnen und Akteuren sehr nahe zu kommen und den Leser*innen ihre von der „große Geschichte“ überrollte „kleine Geschichte“ plastisch vor Augen zu führen und zugleich eine sehr profunde und kluge Analyse zu liefern. Dieser spannende Teil des Buches hätte gerne ausführlicher ausfallen können, auch auf Kosten der detaillierten Darstellung der historischen Kontexte und Erinnerungsdiskurse, die für Interessierte zum großen Teil doch eher als bekannt vorausgesetzt werden können. Denn was für die Erzählenden „ganz normale Geschichten“ sind, sind für Lesende ohne Migrations- und Diktaturerfahrung, ohne Fremdheitserleben und Heimatverlust sehr große Geschichten, die die historischen Umbrüche, Grenzverschiebungen und Migrationsbewegungen, Nationalismen und die Macht totalitärer, bisweilen brutaler Regimes und ihren Einfluss auf „ganz normale Alltage“ sehr eindringlich zeigen.
Das Spannende und Neue an dieser Monografie sind nicht unbedingt die einzelnen Ergebnisse, die die Interviewanalysen zutage fördern, und bei denen es sich oft um bekannte Narrative handelt, die mittlerweile zu Mythen geronnen sind: Opfer- und Heldenerzählungen ehemaliger antifaschistischer Widerstandskämpfer, die sich im Zweiten Weltkrieg von Jugoslawien aus um die Tschechoslowakei verdient gemacht hatten, doch die nach ihrer Remigration in die vormals deutschen Gebiete in der breiten Bevölkerung auf Ablehnung stießen, die von der Kommunistischen Partei zunächst geehrt wurden, doch nach 1989 im Zuge antikommunistischer Identitätskonstruktionen aus dem erinnerungskulturellen Kanon ausgeschlossen wurden. Diese Gruppe, besonders die sogenannte Erlebnisgeneration, vertritt heute am häufigsten nationalistische und fremdenfeindliche Positionen, so die empirischen Befunde der Autor*innen. Weitere Erzählungen, wie sie auch aus anderen Biografieprojekten bekannt sind, handeln etwa von Mythisierungen und Überhöhungen der Vaterfiguren, die als ehrlich, fleißig und weltzugewandt geschildert werden, als Helden, die sich nichts haben zu Schulden kommen lassen und immer „auf der richtigen Seite“ gestanden seien (z. B. 283). Ein Beispiel dafür sind jene Ankömmlinge aus Jugoslawien, die den vertriebenen Deutschen empathisch und mitfühlend begegnet seien; ein anderes Beispiel sind die befragten Deutschen, die immer anständig zu Tschechen gewesen und nach dem Krieg ungerechterweise stellvertretend für die Nationalsozialisten bestraft worden seien.
Interessant wird es da, wo sich in den Erzählungen der nachfolgenden Generationen entweder Reproduktionen dieser Narrative oder aber Verschiebungen abzeichnen, etwa wenn die im Sozialismus sozialisierte Generation im Gegensatz zu ihren Eltern die Erinnerungsdiskurse der politischen Eliten verinnerlicht hat und nun „alle Deutschen anklagt“, weil sie „einfach nur Nazis waren“ (233). In den Erzählungen tschechischer Familien in Kroatien wiederum spiegeln sich die Erfahrungen und Deutungen des jüngsten Krieges der Jahre 1991 bis 1995 wieder, der „so manche tabuisierten Themen im Familiengedächtnis öffnete“ (271) und Retraumatisierungen zur Folge hatte.
Die Studie zeigt in einer seltenen Klarheit zum einen auf, wie kommunikatives und kulturelles Gedächtnis miteinander verwoben sind, wie privates und öffentliches Erinnern ineinandergreifen und sich gegenseitig ergänzen; oder im Gegenteil, wie alternative (Familien-)Narrative offiziellen Erinnerungsdiskursen gegenübergestellt werden. Zum anderen veranschaulicht die Publikation die beiläufige wie reflektierte, freudige wie mühsame Arbeit am Familiengedächtnis, das – zumindest für die hier zu Wort gekommenen Gesprächspartner*innen – ein ganz zentraler Baustein ihrer persönlichen Identität ist.
Die vorliegende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Migration – Gedächtnis – Familie, die zudem sehr gut redigiert und spannend geschrieben ist, ist für die Erinnerungs- und Biografieforschung mit Fokus auf Migration, Familie und Generation ein großer Gewinn. Es bleibt zu hoffen, dass das Buch in naher Zukunft in einem ebenso gut lesbaren Stil ins Deutsche übersetzt wird.