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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Julia Mattern

Dörfer nach der Gebietsreform. Die Auswirkungen der kommunalen Neuordnung auf kleine Gemeinden in Bayern (1978–2008)

Regensburg 2020, Pustet, 328 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-7917-3133-9
Rezensiert von Johann Kirchinger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.07.2020

Die zwischen 1969 und 1978 durchgeführte kommunale Gemeindegebietsreform gehört nach den Montgelasʼschen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu den einschneidendsten Veränderungen in der kommunalen Verwaltungsstruktur Bayerns. Die meisten Gemeinden verloren im Zuge dieses Prozesses ihre Selbstständigkeit. Nachdem sich Politik- und Verwaltungswissenschaft mit diesem Thema beschäftigt und die Gebietsreform auch begleitet hatten, wird es nun auch von der Geschichtswissenschaft entdeckt. Julia Mattern legt ihre geschichtswissenschaftliche Dissertation vor, entstanden an der Ludwig-Maximilians-Universität München, in der sie sich den Folgen der Gebietsreform für „kleine Gemeinden“ in ländlichen Räumen widmet. Dabei untersucht die Autorin sowohl Gemeinden, die ihre Selbstständigkeit verloren, als auch solche, die als aufnehmende Gemeinden fungierten und damit ihre Selbstständigkeit bewahren konnten.

Die Monografie konzentriert sich auf sechs Gemeinden, die zum Zeitpunkt der Gebietsreform etwa von gleicher Größe waren, jedenfalls im Jahr 1970 unter 1.500 Einwohner zählten. Je zwei der Gemeinden sollten in einem Landkreis liegen, dabei je eine ihre Selbstständigkeit verloren haben und eine nicht. Es handelt sich um die Gemeinden Bruck (blieb selbstständig) und Nettelkofen (kam zu Grafing) im Landkreis Ebersberg, Mörnsheim (selbstständig) und Konstein (kam zu Wellheim) im Landkreis Eichstätt, sowie Bastheim (selbstständig) und Mühlbach (kam zu Bad Neustadt an der Saale) im Landkreis Rhön-Grabfeld. Um die Auswirkungen der Gebietsreform auf diese Gemeinden zu untersuchen, hat Mattern insbesondere die Gemeindearchive, Lokalzeitungen und Veröffentlichungen des Statistischen Landesamts ausgewertet. Deshalb ist die Studie im nötigen Maß mit Tabellen, Grafiken und Karten ausgestattet, die die Entwicklungen veranschaulichen.

Nach einem kurzen Überblick über den gebietsreformerischen Diskurs im Bayern der 1960er Jahre werden die konkreten Ereignisse der Gebietsreform in den sechs Gemeinden vorgestellt. Auffallend ist, dass der Verlust der Selbstständigkeit mit Ausnahme von Konstein recht reibungslos verlief. Weiter geht es um das Wahlverhalten und die politische Repräsentativität. Während die bisherige Forschung betont, dass es durch die Gebietsreform zu einer Durchsetzung der Parteien auf der untersten staatlichen Ebene kam – was sich in der Gründung von zahlreichen Ortsverbänden tatsächlich zeigte – kommt Matterns Studie hingegen zu dem bemerkenswerten Ergebnis, dass nach der Gebietsreform in eingemeindeten Ortsteilen vor allem die örtlichen Bewerber jenseits der Parteizugehörigkeit gewählt wurden. Jedenfalls verschlechterte sich die politische Repräsentativität der Ortsteile tendenziell, nicht jedoch zwingend im Einzelfall.

Im Anschluss daran werden Baupolitik und Bevölkerungsentwicklung in den sechs Dörfern vor und nach der Gebietsreform analysiert. Dabei kommt die Autorin zu dem Ergebnis, dass die eingemeindeten Orte in dieser Hinsicht ebenfalls tendenziell benachteiligt und von den Kernorten abgehängt wurden. Bei der Analyse der Infrastruktur (Straßen, Trinkwasserversorgung, Abwasserentsorgung) weist Mattern darauf hin, dass die eingemeindeten Dörfer bereits vor der Gebietsreform sehr gut versorgt waren, was sich nicht zuletzt an ihrer Verschuldung zeigte, die den Gebietsreformern ein Argument für die Zusammenlegung der Gemeinden war. Schließlich geht die Autorin auf Faktoren kommunaler Identität ein (Feste, Vereinszuschüsse, Ehrungen) und stellt auch dabei einen Rückstand der eingemeindeten Ortschaften fest.

Angesichts des knappen Samples sollte die Allgemeingültigkeit der Ergebnisse der Untersuchung nicht überbetont werden. Immerhin stellt die Studie verschiedene mögliche Auswirkungen der Gemeindegebietsreform vor. Dabei kommt Mattern in Übereinstimmung mit der bisherigen Forschung zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass „eingemeindete Ortschaften durch die Gebietsreform nur wenig günstige Veränderungen erfuhren“ (290). Überdies habe sich gezeigt, dass große Gemeinden nicht effizienter wirtschafteten als kleine Gemeinden: „Eine allgemeine Kosteneinsparung durch die Gebietsreform kann nicht erkannt werden.“ (291) Gerade diese Beobachtungen zeigen aber, wie wichtig es ist, Kommunalgeschichte nicht nur von der Gemeindegebietsreform her zu betrachten, sondern den nahezu unbekannten Aufbau kommunaler Infrastruktur in ländlichen Gemeinden an sich zu analysieren. Die Studie zeigt deshalb, dass die kommunale Geschichte der ländlichen Gemeinden in Bayern ein nötiges und lohnendes Unterfangen ist, um die politische und administrative Geschichte Bayerns zu verstehen.