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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Ove Sutter/Valeska Flor (Hg.) unter redaktioneller Mitarbeit von Annette Allerheiligen

Ästhetisierung der Arbeit. Empirische Kulturanalysen des kognitiven Kapitalismus

(Bonner Beiträge zur Alltagskulturforschung 11), Münster/New York 2017, Waxmann, 314 Seiten mit 36 Abbildungen, ISBN 978-3-8309-3671-8
Rezensiert von Manfred Seifert
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 31.07.2020

Ästhetisierung ist ein vertrackter Begriff. Im Alltagsgebrauch umfasst er Schönes, positive Erfahrungen und Erlebnisse. Als Ergebnis kreativer Schöpfung verweist er auf das Artifizielle, Dekorative und damit auf den Vorhof eines glücklichen Lebens. Anders dimensioniert steht dieser Begriff in den Sozial- und Kulturwissenschaften besonders seit der Publikation „Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung“ (1995, 6. Auflage 2019) des Kultursoziologen Andreas Reckwitz in der Diskussion. Ästhetisierung wird hier im Sinne eines Leitbildes alltäglicher Lebensführung verstanden, das von einer selbstbezüglichen sinnlichen Wahrnehmung der Subjekte und deren emotionaler Involviertheit geprägt ist. Und obwohl hierunter ein genereller, auf die gesamte Lebensführung ausstrahlender Trend der Lebensführung gefasst wird, erscheint seine Einwirkung auf den Sektor Arbeit mindestens erklärungsbedürftig, wenn man sich mit den zentralen Aspekten des postfordistischen Arbeitsparadigmas wie Flexibilisierung, Entgrenzung, Subjektivierung, Emotionalisierung und Prekarisierung sowie ihren individuell belastenden Effekten auseinandersetzt. Die Europäische Ethnologie in Gestalt ihrer dgv-Kommission „Arbeitskulturen“ hat sich in vergangenen Tagungen mit diesen Aspekten befasst und wandte sich auf ihrer 17. Arbeitstagung in Bonn 2015 dem Thema „Ästhetisierung der Arbeit“ zu, deren Vorträge nun im vorliegenden Tagungsband gedruckt nachzulesen sind.

Der Band vereint 16 Beiträge, geordnet in sechs inhaltlichen Abschnitten, die Arbeitsräume, Arbeitspraktiken und Arbeitsprodukte fokussieren sowie sich künstlerischen Auseinandersetzungen, musealen Herausforderungen und grundlegenden Reflexionen zuwenden. Damit präsentiert sich eine insgesamt sehr gelungene Mischung verschieden dimensionierter Studien, die gut zur Hälfte auch eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit dem Reckwitz’schen Ästhetisierungskonzept suchen und die in ihrer Breite inhaltlich instruktive Einblicke in Dimensionen und Kontexte ästhetisierter Arbeit bieten. Der Band gewährt somit auch einen informativen wie überzeugenden Einblick in die europäisch-ethnologische Auseinandersetzung mit dem Ästhetisierungskonzept in (alltags)kultureller und arbeitskultureller Hinsicht.

Ove Sutter, Valeska Flor und Klaus Schönberger liefern in ihrem einleitenden Beitrag einen gelungenen theoretisch-konzeptionellen Einstieg in das Thema mit bündiger Darstellung sowie kritischer Verhandlung des Ästhetisierungskonzepts bei Reckwitz sowie der Studie „Der neue Geist des Kapitalismus“ (Deutsch 2003) von Luc Boltanski und Ève Chiapello, die den Wandel der Rechtfertigungsordnung des aktuellen Kapitalismus von der Sozialkritik zur Künstlerkritik diagnostizieren und hierüber den Anschluss der Bereiche Arbeit und Wirtschaft an das Ästhetisierungskonzept bereiten. Besonders auf die theoretisch-konzeptionelle Ebene abhebend präsentieren sich auch die beiden Beiträge im Abschnitt „Reflexionen“. Hannes Krämer spürt den „Verankerungen des Ästhetischen in der Praxis der Erwerbsarbeit“ (277) nach, indem er die Formen ästhetischer Arbeit differenziert und hinsichtlich ihrer Ästhetisierungspotenziale analysiert, um diese abschließend mit den diese Arbeitsformen fundamentierenden unterschiedlichen Kritikverständnissen in Beziehung zu setzen. Krämers gediegenen und grundlegenden Ausführungen aus kultursoziologischer Perspektive schließen sich die „ästhetisch-ethnografischen Überlegungen“ (293) von Kaspar Maase aus europäisch-ethnologischer Perspektive an. Ausgangspunkt seiner luziden Reflexionen ist seine Untersuchungskategorie „ästhetisches Erleben“, womit er den Blick auf die Nutzer*innen der Arbeitsergebnisse richtet und nicht auf deren Produzent*innen. Damit eine als angenehm empfundene sinnlich intensive Wahrnehmung erstrebt werden kann und in selbstzweckhafter Form gesellschaftlich anerkannt diffundiert, müssen für ihn drei Faktoren gegeben sein. Im Unterschied zu Reckwitz bezieht Maase sich auf das Erleben im Feld der abhängigen Arbeit und identifiziert dort eine Reihe ästhetischer Dimensionen. In seinem Ausblick diskutiert er vier Thesen und Forschungsfragen, die vom Grad der subjektiven Bedeutung ausgehen und bis zur Suche nach für die Ästhetisierungsdynamik verantwortlichen gesellschaftlichen Vorgängen und Bereichen reichen. Bleibt die offene Frage der konträren Deutungen dieses selbstzweckhaften Ästhetisierungsdrangs als falsches Bewusstsein oder als Ermächtigungsbehelf.

Ihren Ausgang an konkreten Feldern der Arbeitspraxis nehmen sieben Beiträge. David Adler untersucht die Entscheidungsfindung einer Betriebseinheit zur Ästhetisierung eines Büroraumes zur Lounge, wobei er den Aspekt der Selbstzweckhaftigkeit ästhetischer Praxis kritisiert. Denn er erkennt im gegebenen ökonomischen Kontext zweckgerichtete Antriebe und konkurrierende Rationalitäten, die er in ihrer internen Heterogenität, ihrer Offenheit und Ambivalenz vermittels einer praxistheoretischen Perspektive zu erschließen empfiehlt. Alexandra Bernhardt befasst sich mit Coworking Spaces und untersucht an einem konkreten Beispiel die räumliche Ästhetik und identifikatorische Wirkung eines zum Creative Space ausgestalteten ehemaligen Ladenlokals für alle dort tätigen Coworker*innen, obwohl raumästhetisierende Ansprüche nicht alle für sich reklamieren. Auf die Arbeitspraxis hebt Nathalie Knöhr ab, indem sie das mündliche Präsentieren einer Projektidee ‒ das sogenannte Pitchen ‒ am Beispiel deutscher Serienschreibender mehr auf die emotionalen (belastenden bzw. dramatisierenden) Dimensionen als auf das Ästhetisierungskonzept orientiert befragt. Lina Franken befasst sich mit der Unterrichtspraxis von Lehrer*innen nicht hinsichtlich ihrer inhärenten ästhetischen Dimension, sondern hinsichtlich ihrer kreativen Gestaltungsweisen. Interessant ist dabei, dass dieses Berufsfeld explizit eine von (schulorganisatorischen) Normen gerahmte Kreativität fordert.

Wie ältere Frauen in ihrem prekären Ruhestand durch ästhetische Projekte und Produkte versuchen, ihr bisheriges Lebensniveau fortzuführen, behandelt Irene Götz in ihrem anregenden Beitrag. Anschaulich zeigt sie verschiedene Strategien kommodifizierbarer Selbststilisierung gemäß der biografisch inkorporierten Bourdieu’schen Kapitalsorten, wobei sie klare Nachteile ehemals körperlich arbeitender gegenüber ehemals intellektuell arbeitender Seniorinnen nachweist. In ihren Ausführungen über Ästhetisierungspraxen in einem Mütter-Lifestyleblog stellt Petra Schmidt die Vorüberlegungen zu ihrem Dissertationsprojekt vor. Anhand des Blogs „Hauptstadtmutti“, der von zwei vor ihrer Mutterschaft jahrelang in der Kreativbranche tätigen Frauen geführt wird, fahndet sie nach deren Ästhetisierungskompetenzen. Lars Winterberg analysiert vergleichbar mit Kaspar Maase die Ästhetisierungspraktiken des Fairen Handels in kulturwissenschaftlichem Zuschnitt. Er findet sie u a. in der den Produkten eingeschriebenen politischen Information, die als Ferment für ein besonderes Konsumerlebnis zu wirken imstande ist, oder in der imaginativen Repräsentation der Produzent*innen anhand ihrer Arbeitsformen und Arbeitsbedingungen.

Ein eigenes Kapitel im Schnittpunkt von Kreativitätspraktiken und Kunstproduktion bildet der Abschnitt „Künstlerische Verhandlungen ästhetisierter Arbeit“ mit drei Beiträgen. Am Beispiel eines entästhetisierten Kunstprojekts über prekäre Arbeitsbedingungen, das auf diskursiv vermittelte soziale Wirksamkeit statt auf künstlerische Affizierung setzte, entwirft Ildikó Szántó konzise verfasst eine zu Reckwitz alternative Lesart der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts und stellt die interessante Frage nach der Wechselbeziehung zwischen diskursiven Formaten in künstlerischen Arbeiten und einer sozialkritischen Agenda bzw. der Abneigung gegenüber gesellschaftlichen Ästhetisierungsprozessen. Jonas Tinius analysiert Formen der Reflexion über künstlerische Arbeit in der freien Szene darstellender Künstler*innen. Dabei hebt er die ambivalenten Wahrnehmungs- und Umsetzungsweisen der eigenen Prekarität und postfordistischen Arbeitsweisen hervor, die sich entweder in Kritik ergehen oder zu produktiver Flexibilität wandeln. Den Umgang mit Musikproduktionssoftware untersucht Fabian Ziemer eingängig aus der Subjektperspektive dreier Musiker, aus der das musikalische Programmieren als ästhetische Beschäftigung im Sinne eines Arbeitsprojekts bzw. eines Projekts der Lebensführung erscheint. Diese Art von Subjektivierung basiert auf der Arbeit am Selbst und fungiert als Inwertsetzung des Selbst angesichts prekärer Erwerbsbiografien.

Ein besonderes Plus des Tagungsbandes bildet zudem der Blick auf die Herausforderung musealer Repräsentationen von Arbeit. Mit dieser Thematik setzt sich ein eigener Abschnitt mit drei Beiträgen von praktizierenden Museums- bzw. Ausstellungsleitern auseinander. Jochen Putsch bietet einen soliden Überblick über die Entwicklungen und Begrenzungen des Typs Industriemuseum. Dabei verweist er auf das Grundproblem, Arbeit als komplexes Phänomen angemessen auszustellen, denn „Arbeit ist im Museum nicht ansatzweise simulierbar“ (254). Deshalb favorisiert er den Weg in die künstlerische Repräsentation von Arbeit. Lars K. Christiansen schließt mit kritisch im Rahmen der Ästhetisierungsdimension im Museum verfolgten Inszenierungsprozessen an und stellt den Versuch heraus, mittels gestalteter Filmsequenzen den musealen Objektwelten die personale Dimension der Beschäftigten beizufügen. Diese Betrachtungslinie setzt Bernd Holtwick mit regelrecht spannenden Einblicken in ein anspruchsvolles Museumskonzept fort, indem er instruktive Beispiele szenografischer Arbeitsdarstellungen ohne personale Repräsentationen behandelt, in die die Besucher*innen schlüpfen und „mitspielen“ können. Der Beschränktheit der behandelten Inszenierungsstrategien voll bewusst, markieren diese drei Beiträge einen hoch instruktiven Einblick in das Themenfeld Musealisierung bzw. Ausstellung und runden damit das inhaltlich breite wie kritisch-reflexive Beitrags-Portfolio dieses thematisch verdienstvollen Bandes ebenbürtig ab.