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Jan C. Watzlawik

Gegenstände. Zur materiellen Kultur des Protests

(Kleidogramme 168), Berlin 2018, Kadmos, 180 Seiten mit Abbildungen, teils farbig, 3 Tabellen, ISBN 978-3-8659-9394-6
Rezensiert von Agnieszka Balcerzak
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.07.2020

Heiligendamm, 2007: Polizisten in Kampfmontur und vermummte Demonstranten im Stil des Schwarzes Blocks stehen sich bei einem gewaltsam eskalierenden Demonstrationsumzug gegenüber, während ein weiß-roter Wäscheständer in Richtung der Sicherheitskräfte durch die Luft geschleudert wird. Diese visuell eindrucksstarke Momentaufnahme auf dem Titelbild des Buches von Jan C. Watzlawik garniert einige Seiten weiter das Zitat „WÄSCHESTÄNDER sollen nur ihren Zweck erfüllen. Manchmal werden sie auch zweckentfremdet, so wie hier […] beim G-8-Gipfel in Heiligendamm“ (5), das als Motto die inhaltliche Stoßrichtung seiner Dissertation andeutet. Watzlawiks Arbeit bewegt sich thematisch, methodisch und theoretisch an der Schnittstelle der kulturanthropologischen Ding- und Protestkulturforschung und fokussiert sich auf die Untersuchung der dinglichen Repräsentationen von Protestkultur. Bereits seit den 1970er Jahren hat Protestforschung Konjunktur und versucht in den meisten Fällen sozial- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen zu verbinden. Dabei stehen die Inszenierungen von Protest, seine spezifischen Gestaltungsformen und Symbole, Vergemeinschaftungspraktiken und Aneignungsformate des öffentlichen Raumes im Fokus und geben Auskunft über regionale sowie (inter-)nationale Verflechtungen von Alltags- und Protestkultur.

Basierend auf soziohistorischen und definitorischen Überlegungen zu den Kategorien „Ding“ und „Protest“, versteht der Kulturwissenschaftler Watzlawik „Gegenstände als Indikatoren einer reziproken Subjekt-Objekt-Relation“ und als „Zeugen der Beziehung von Menschen und Dingen“ (21), deren festzustellende Widerständigkeit in Alltags- und Protestkontexten gleichzeitig eine menschliche Qualität beschreibt. Ins Zentrum seiner Untersuchung stellt er die Frage nach den Praktiken, Prinzipien und Politiken des widerständigen Gebrauchs und der identitätsstiftenden Symbolisierungen von Alltagsdingen, die in Protestzusammenhängen zu Phänomenen der materiellen Kultur des Protests avancieren. Mittels zweier dinganalytischer Fallbeispiele rückt die Studie deshalb die protestspezifische, widerständige Zweckentfremdung und Wiedereingliederung von Alltagsgegenständen in den Mittelpunkt der Betrachtung, die als „aktive und aktivistische Formen von Konsum […] als Grundbausteine einer Theorie symbolischer Dingpolitiken“ (23) dienen. Das eröffnet die Lesart von Widerständen als Praktiken gesellschaftlicher Partizipation und erfasst Gegenstände materieller Protestkultur als Instrumente von Identitätskonstruktion und Gemeinschaftskonstituierung.

Die Studie ist in sechs theoretisch-empirische Teile gegliedert. Auf die Einleitung mit zwei Beispielen für Umnutzungen von Alltagsgegenständen wie Kopfkissen (Benno Ohnesorg, 1967, Berlin) und Feuerlöscher (Carlo Giuliani, 2001, Genua) zu Protestsymbolen, die schon längst ihren Weg ins kollektive Bildgedächtnis und in die Kulturgeschichte des Protests gefunden haben, folgen zuerst drei Kapitel zu den definitorischen, theoretischen und methodischen Grundlagen seiner Untersuchung. Watzlawik konstatiert eine „akademische Allgegenwart“ (25) für das interdisziplinäre Interesse an Alltagsdingen und Protest, betont die Bandbreite der in der Forschung fokussierten Zeiten, Orte und Ausprägungen von Sach- und Protestkultur, versucht aber gleichzeitig mit seinem Beitrag zur Synthese von Ding- und Protestkulturforschung eine Forschungslücke zu schließen.

Auf methodischer Ebene setzt der Autor im Rahmen der „explorativen Dingbeobachtung“ (41) zuerst auf kurze Feldaufenthalte, die, ethnografische Methoden wie teilnehmende Beobachtung und qualitative Interviews kombinierend, der Komplexität und Dynamik von Protestereignissen Rechnung tragen sollen. Der eher dürftige Ertrag sowie das Fehlen eines entsprechenden Instrumentariums zur Erhebung der Präsenz von Dingen bei Protestereignissen, geben dem Autor Anlass zur Entwicklung des eigenen Verfahrens der „quantitativen Dingfrequenz“ (46) als praktikables Auswahltool für Dinge und ihr Vorkommen in Medienberichten. Basierend auf der in den Sozial- und Kulturwissenschaften etablierten Methode der Inhaltsanalyse, setzt Watzlawik bei der Häufigkeits- bzw. Frequenzanalyse an und erweitert in einem vierstufigen Schema den quantitativen Zugriff durch qualitative Momente: „Nicht das Ding als kommunikatives Zeichen in seinen textuellen und kontextuellen Abhängigkeiten, sondern seine mediale Präsenz steht im Vordergrund.“ (47)

Als Forschungsfeld seiner mikroperspektivischen Erhebung wählt Watzlawik, bedingt durch die eigene örtliche Situierung, den durch die „Autonomen Nationalisten“ organisierten „5. Nationalen Antikriegstag“ 2009 in Dortmund. Dabei handelt es sich um die Aneignung des offiziellen Antikriegstages, der vom Deutschen Gewerkschaftsbund 1957 begründet und seitdem alljährlich am 1. September begangen wird, durch rechtsextremistische Gruppen. Die Erhebung mit Hilfe der quantitativen Dingfrequenz erfolgt auf der Grundlage der in der Nachbereitung studierten Medienberichte über die Dortmunder Proteste und zielt nicht auf das Vorkommen, sondern auf die Häufigkeit des Auftretens von Alltagsdingen ab. Die Auswahleinheiten umfassen Medienbeiträge bei den zwei größten regionalen Nachrichtenplattformen www.derwesten.de und www.ruhrnachrichten.de, die sich mit dem „5. Nationalen Antikriegstag“ im Zeitraum vom 4. März 2009 bis zum 5. März 2010 beschäftigen. Die Auswertung ergibt 81 Dinge (55 f.) – von klassischen Demonstrationsmedien wie Fahnen und Transparenten über vestimentäre Proteststücke wie Kapuzenpullover oder Sonnenbrillen bis zu übrigen Dingen, z. B. Fahrrädern und Luftballons – denen in den Medienberichten Aufmerksamkeit durch Nennung oder Abbildung zukommt, die mit den Dortmunder Demonstrierenden in Verbindung gebracht werden und daher potenzielle Gegenstände des Protests darstellen können.

Die erhobene Dingfrequenz in der Berichterstattung zum Dortmunder „Antikriegstag“ 2009 soll verdeutlichen, welche Alltagsgegenstände in medialen Protestdiskursen eine Rolle spielen. Ausgehend von theoretischen Annäherungen an das auf Karl-Sigismund Kramer zurückgehende kulturanthropologische Konzept der „Dingbedeutsamkeit“ (59), erfolgt im weiteren Schritt die qualitative Dinganalyse als hilfreiches „Erklärungsmodell für die Bedeutungsträgerschaft von Dingen“ (68). Im vierten und fünften Kapitel werden demnach zwei dinganalytische Forschungsminiaturen zum Hoodie und Pflasterstein präsentiert, die als Beispiele für protestspezifisch aufgeladene Alltagsgegenstände mit besonders hohem Frequenzfaktor, bei denen Ding- und Protestkultur in besonderer Weise zusammenkommen und die exemplarisch als mediale Träger zum einen der „Waffe des Wortes“ und zum anderen der „Waffe der Tat“ (17) ausgewiesen werden. In dem forschungsleitenden Kontext von Alltags- und Protestkultur werden die Fallbeispiele neben den dingkonstituierenden Elementen wie Material, Form und Funktion auch hinsichtlich ihrer widerständigen Nutzung und Bedeutung analysiert. Der Fokus der protestkulturellen Verortung liegt dabei auf den „zeitlich-örtlichen Kulminationspunkten des jeweiligen Dinggebrauchs“ (69), wobei der Autor zu Recht anmerkt, dass feste Zeitsetzungen vereinfachend sein können, denn der Gebrauch von Protestgegenständen ist mit größeren historischen Prozessen verbunden und kann daher „Vor- und Nachgeschichten“ (72) aufweisen. Während es sich beim Pflasterstein um ein etabliertes Protestmedium des 19. Jahrhunderts handelt, mit Hochphasen seiner Verwendung u. a. von der französischen Julirevolution 1830 bis zur deutschen Reichsgründung 1871 und später im Zuge der Studentenbewegung der 1960er Jahre, ist der Hoodie eine Erfindung des 20. Jahrhunderts mit Gebrauchskulminationspunkten in den Anfängen der 68er-Bewegung über die 1980er Jahre bis hin zur Gegenwart. Die Forschungsminiaturen umreißen in Bezug auf den Kapuzenpullover seine widerständige Nutzung als Schutzwaffe sowie im Kontext von Uniformierung und Tarnung u. a. am Beispiel des „I ♥ RIOT“-Hoodies (90 ff.), bezogen auf den Pflasterstein wiederum im Zusammenhang mit Straßendestruktion, Barrikadenbau oder als Wurfgeschoss im Einsatz gegen Polizei oder Militär, wie es z. B. der Fall der „Schlacht am Tegeler Weg“ am 4. November 1968 im Zuge der 68er-Revolte (119 f.) einprägsam belegt.

Im sechsten Kapitel, gefolgt von einer skizzenhaften Zusammenfassung, wird abschließend die intendierte Formulierung einer „Theorie symbolischer Dingpolitiken“ (140) herausgearbeitet. In Anlehnung u. a. an Claude Lévi-Strauss’ Ansatz der Bricolage (1968) sowie Michel de Certeaus Idee von Konsum als alternative Produktion (1988), betont Watzlawik im Zusammenhang mit den Forschungsminiaturen die Praktiken der De- und Rekontextualisierung der dinglichen Funktionsweisen und Symboliken in Protestkontexten. Künstlerische Zweckentfremdungen, alltagskulturelles Umfunktionieren und der aktive Konsum durch widerständiges Dinghandeln sind dabei Bestandteile einer „Kulturtechnik des Dingumgangs“ (128), die bei der Funktion ansetzt und diese im Rahmen von Symbolisierungsprozessen transformiert. Diese Ding-Symbol-Transformation, die verdeutlicht, dass Dinge in ihrer Alltagsfunktion das Potenzial besitzen, zu Symbolen mit protestspezifischen Verwendungen umfunktioniert zu werden, ist die Grundlage der vom Autor formulierten symbolischen Dingpolitik.

Mit „Gegenstände. Zur materiellen Kultur des Protests“ legt Watzlawik eine Publikation vor, die in ihrer Struktur und Argumentation überzeugt. Große Anerkennung gilt seinem eigenständig entworfenen Modell der quantitativen Dingfrequenz, auch wenn dieses mit einer erweiterten thematischen, regionalen und gendersensiblen Fokussierung durchaus andere Analyseobjekte und inhaltliche Erkenntnisse hervorgebracht hätte. Versehen mit mehreren Abbildungen, bieten überdies insbesondere die exemplarischen Forschungsminiaturen, die Protestgegenstände aus historischer und zeitgenössischer Perspektive umreißen, einen spannenden Einblick in die Ding- und Protestkultur sowie deren Medienpräsenz. Eine weitergehende Analyse dieses in der Studie zentral behandelten Aspektes, die stärker noch auf gesellschaftliche Debatten in anderen protestspezifischen Kontexten (z. B. der Frauen-, LGBT- oder Öko-Bewegung) Bezug nehmen, wäre als Anschlussforschung wünschenswert. Insgesamt handelt es sich um eine wertvolle und lesenswerte Studie zur materiellen Kultur des Protests, die Theorie und Empirie überzeugend verbindet und in Zeiten einer „Renaissance von Protest“ mitunter spannende Einblicke in das hochaktuelle Feld der Synthese von Alltags- und Protestkultur bietet.