Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Irene Götz/Alex Rau (Hg.)

Facetten des Alter(n)s. Ethnografische Porträts über Vulnerabilitäten und Kämpfe älterer Frauen

(Münchner ethnographische Schriften 25), München 2017, Utz, 138 Seiten, ISBN 978-3-8316-4241-0
Rezensiert von Denisa Bartoňová
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.07.2020

Im Durchschnitt erreichen die Renten von Frauen fast nur die Hälfte der Höhe dessen, was Männer erhalten; im Jahr 2013 befanden sich in Bayern etwa 83 Prozent der Rentnerinnen unterhalb der Armutsgrenze. Der Frage, warum Altersarmut so oft ein Frauenproblem ist, geht der Band „Facetten des Alter(n)s“ anhand von acht ethnografischen Porträts von alleinstehenden, größtenteils in München lebenden Frauen nach. Die Autor*innen präsentieren verschiedene Formen von Verletzlichkeit und Prekarität, denen diese Frauen in ihrem Alltag begegnen, sowie ihre unterschiedlichen Widerstands- und Anpassungsstrategien.

Entstanden ist die Studie im Rahmen des zweisemestrigen Lernforschungsprojektes „Prekärer Ruhestand. Ist Altersarmut weiblich?“ am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Das Projektseminar, das von Irene Götz und Alex Rau geleitet und von acht Masterstudierenden besucht wurde, knüpfte thematisch an das am selben Institut angesiedelte DFG-Projekt „Prekärer Ruhestand. Arbeit und Lebensführung von Frauen im Alter“ (2015–2018) an. Dieses Forschungsprojekt hatte zum Ziel, „die oft polarisierenden Altersbilder – Drohszenarien von Altersarmut einerseits und ‚Active Ageing‘ […] andererseits – zu ersetzen durch einen differenzierten Blick auf die im Alltag entwickelten Taktiken, Praktiken und Kompetenzen“ (15 f.).

Der vorliegende Band verfolgt ein ähnliches Ziel, indem er folgende Fragen aufwirft: [W]elche „konkreten Erwerbs- und Familienbiografien [prekarisieren] alleinstehende Frauen im Alter“? (16) Wie nehmen die Rentnerinnen verschiedene Formen von Verletzlichkeit wahr – seien es körperliche oder materielle Einschränkungen oder drohende soziale Isolation? (5) Wie erfahren die Frauen Abhängigkeiten von manchen Beziehungen, von Orientierungs-, Sinn- oder „Statusverlust“? (16) Wie gehen sie mit sozialen Alterszuschreibungen um?

Zunächst führen Irene Götz und Alex Rau in den kulturwissenschaftlichen Fachdiskurs ein und legen den gesellschaftlichen Kontext dar. Die zwischen vier und acht Seiten langen biografischen Porträts, die darauf folgen, sind dann vier Kategorien nach unterschiedlichen Prekarisierungen im Alltag zugeordnet. Anschließend fasst der Münchner Soziologe Michael Rothmund die biografischen Porträts zusammen und bettet sie in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext ein. Der abschließende Text von Miriam Gutekunst und Alex Rau versteht sich als „Plädoyer für eine didaktische Auseinandersetzung mit dem Schreiben als Lernprozess“ (119 ff.), um auch die breitere Öffentlichkeit zu erreichen.

Nach dem einführenden Text „Facetten weiblichen Alter(n)s“, in dem die Herausgeberinnen  das Alter als „Kategorie gesellschaftlicher Strukturierung […] nach Altersphasen“ (10) und damit als soziales Konstrukt konzeptualisieren, folgen zwei biografischen Porträts, die sich mit der „Arbeit nach der Rente“ (29) befassen. Diese dient in erster Linie der Gewinnung von weiteren finanziellen Einnahmen und damit dem Entkommen der Gefahr von Altersarmut. Des Weiteren wird Arbeit auch zu einer wichtigen Strategie gegen Einsamkeit und „soziale Isolation“ (31) und fördert die Sicherung einer „gewisse[n] Autonomie“ (34) und von Anerkennung. Beide Porträts zeigen „Frauen aus der unteren Mittelschicht“ (19), die zwar den größten Teil ihres Lebens einer Erwerbsarbeit nachgingen, aber zu ihrer Rente hinzu weitere Geldeinkünfte benötigen. Als ein Schlüsselfaktor für die Ausführung von Arbeit im Rentenalter erweist sich die Gesundheit sowie das Wissen um deren Fragilität und zeitliche Begrenztheit.

Die Porträts im zweiten Abschnitt mit dem Schwerpunkt „Familie als Ressource“  zeigen Frauen im hohen Alter, bei denen es in Folge des Nachlassens körperlicher Kräfte auch zur Reduktion von sozialen Beziehungen und damit zur engeren Bindung an die eigene Familie kommt. Diese Frauen bewegen sich in einer Umgebung mit kleinem Radius, vor allem in Haus und Garten. Sie sind mit dem Wissen um „Endlichkeit“ (21) und um Bedeutungsverlust konfrontiert. „Regelmäßigkeit“ und „Reproduktionsarbeit“ (20) halten sie in der Gegenwart.

Der „Umgang mit körperlichen Einschränkungen“ (63) wird im dritten Abschnitt weiter ausgeführt. Es wird gezeigt, wie zwei Interviewpartnerinnen auf viele soziale Beziehungen, Aktivitäten und Hobbys verzichten, weil sie sich nicht mehr gut bewegen können. Nichtsdestotrotz bemühen sich die Rentnerinnen ihre Unabhängigkeit zumindest in einigen Lebensbereichen zu bewahren, beispielsweise durch das Besorgen von Vorräten, durch Sich-fit-Halten oder durch die Praxis des positiven Denkens.

Im letzten Abschnitt werden „Schutzräume vor Vulnerabilitäten“ (77), vor Unsicherheit und gesellschaftlicher Missachtung thematisiert. Dabei wird vor allem das Haus zum „Rückzugsraum“ (21), aber auch zu etwas, das nicht mehr selbstverständlich ist, wie es besonders aus dem Porträt einer obdachlosen Rentnerin hervorgeht. Ohne eine dauerhafte „Bleibe“ wird für sie jegliche „gesellschaftliche Teilhabe“ (96) schwieriger.

Im Text von Michael Rothmund werden die unterschiedlichen Formen von Vulnerabilität und Abhängigkeit relativiert. Der Wahrnehmung des Alters als einer „Phase der Abhängigkeit“ stellt Rothmund die „Konzeption der existentiellen sozialen Verwiesenheit“ (100) von Judith Butler gegenüber. Ihr zufolge ist jedes Leben in allen seinen Phasen „gefährdet“ (110) und „verletzbar“ (109) und deswegen von der Hilfe anderer abhängig.

Der letzte Beitrag des Bandes setzt sich dafür ein, das Textgenre des ethnografischen Porträts in die Lehre einzubeziehen und führt zugleich in seine Schreibtechnik ein. Die Autorinnen plädieren für eine bessere Vermittlung der Schreibkompetenz als „Handwerkszeug“ (125) an den Universitäten, weil das Schreiben die wichtigste Tätigkeit in Geistes- und Sozialwissenschaften sei. Darüber hinaus befürworten sie eine „partizipative Forschung“ (126), die voraussetzt, dass Interviewpartner*innen die wissenschaftlichen Erkenntnisse lesen, sich zu ihnen äußern und sich in den Forschungsergebnissen schließlich erkennen können.

Insgesamt gelingt es dem Band, unterschiedliche Formen von Abhängigkeiten und Vulnerabilitäten – finanzielle, körperliche oder soziale – und konkrete Bewältigungsstrategien aufzuzeigen, und zwar in einer auch für Laien verständlichen Form. Auf diese Weise kommt die Realität in den Blick anstatt der stereotypen Bilder, die zwischen vollständiger Abhängigkeit und „aktive[m …] Alter“ liegen (85).

Es muss hier positiv hervorgehoben werden, dass es sich um ein studentisches Forschungsprojekt handelt, in dem die ganze Komplexität der Problematik bearbeitet wird, in dem die Fälle einer nachvollziehbaren Analyse unterzogen und schließlich in Textform gebracht werden. Lobenswert ist auch die Absicht, die Forschungsergebnisse und Erkenntnisse einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und verständlich darzulegen. Und nicht zuletzt ist der Wunsch sehr zu schätzen, eine politische Debatte anzuregen und auf gesellschaftliche Veränderungen abzuzielen.