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Hans Peter Hahn/Friedemann Neumann (Hg.)

Dinge als Herausforderung. Kontexte, Umgangsweisen und Umwertungen von Objekten

(Edition Kulturwissenschaft 182), Bielefeld 2018, transcript, 354 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8376-4513-2
Rezensiert von Isabella Kölz
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.07.2020

Der vorliegende Sammelband, herausgegeben von Hans Peter Hahn und Friedemann Neumann und hervorgegangen aus dem Panel „Dinge als Provokation“ im Oktober 2015 und dem Workshop „Dinge als Herausforderungen“ im Dezember 2016 (beide von der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde gefördert), thematisiert die widersprüchlichen Wahrnehmungen und Bewertungen von Dingen als „Herausforderungen“. Weil in Dingen Welt nicht einfach materialisiert wird und Dingen eine relevante Rolle in der (Neu)Aushandlung von Gesellschaft zukommt, plädieren die Autor*innen des Bandes für eine neue Perspektive auf materielle Kultur insgesamt: Eine lebensweltliche und multi-perspektivische Betrachtung soll es ermöglichen, die Mitwirkung der Dinge in der Konstituierung des Alltags stark zu machen, ohne sie jedoch als handelnde Entitäten zu überinterpretieren. Der Band versammelt neben Vorwort und Einleitung fünfzehn Fallstudien, die sich mit unterschiedlichen und oft mehrdeutigen Sichtweisen und Haltungen zu den jeweils untersuchten Dingen beschäftigen. Hans Peter Hahns Einführung bildet die theoretische und analytische Klammer um die einzelnen Aufsätze. Darin spricht er sich gegen „Vorstellungen von Dingen als Spiegel der Gesellschaft“ (9) aus und plädiert für Zugänge, in denen multiple und widersprüchliche Kontexte der Dinge betrachtet werden. Hahn sieht die Herausforderung der Dinge sowohl in der Metapher der Netzwerke als auch in der Offenheit ihrer Wahrnehmung. Diese „Vielheit der Dingerfahrungen“ (17) konkretisiert er durch drei Dimensionen – Mobilität, Zeitlichkeit und Eigensinnigkeit – und erläutert anschaulich, wie Dinge als „Auslöser und Erzeuger“ (24) von Debatten gesellschaftliche Veränderungen anstoßen. Zu Herausforderungen werden die Dinge also, indem sich an ihnen „eine Kontroverse entfacht“ (25).

Wie Dinge zu Herausforderungen werden, wenn Heimat-Objekte an die Stelle von Heimat treten, erarbeitet Elke-Vera Kotowski am Beispiel des ambivalenten Umgangs nachfolgender Generationen mit deutsch-jüdischen „Dingen des Exils“ (287). Diese konzipiert sie als Semiophoren, Symbole des kulturellen Erbes sowie Identitätsmarker für Geflohene und deren Kinder und Enkelkinder. Wie im Untertitel deutlich wird, handelt es sich bei Kotowskis Text um einen Werkstattbericht, der die Grundzüge ihres geplanten interdisziplinären Forschungsvorhabens umreißt. Diese Projektskizze weckt Vorfreude auf eine interessante Monografie. Lil Helle Thomasʼ Beitrag führt in das frühe 20. Jahrhundert. Darin diskutiert sie Adolf Loosʼ architektonische Praxis im Kontext seiner theoretischen Werke am Beispiel der Villa Karma als „einen komplizierten Prozess der Objektivation“ (245) und zeigt dabei die spannungsgeladene Beziehung zwischen Loosʼ konzeptuellem Ideal und dem verwirklichten Objekt auf. Mittels architektonischen Deskriptionen und Interpretationen, Loosʼ theoretischer Verortung sowie den Ausführungen Theodor Beers, des Auftraggebers der Villa, folgt Thomas der Frage, wie sich dieses „gebaute Kulturverständnis“ (245) in der Villa Karma manifestiert. Lucia Artner spürt in ihrem Beitrag dem Toilettenstuhl und der Herausforderung der unterstützten Ausscheidung in der Pflege nach. Sie führt in die sozial- und kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit menschlichen Ausscheidungen ein, die sie mit Erkenntnissen und Diskussionen aus Pflegetheorien und -praktiken verknüpft. Ethnografisch geht sie den alltäglichen, durch den Umgang mit dem Toilettenstuhl evozierten Herausforderungen nach. An Artners Abhandlung beeindruckt besonders die Darstellung situativer Aushandlungen mit dem Stuhl (in doppeltem Sinne) aus dem ethnografischen Material heraus. Ihre Untersuchung verweist nachvollziehbar „auf den Herstellungscharakter bzw. die Herstellungsleistung in der interaktiven Bearbeitung (von Dingen als) Herausforderung“ (282). Ähnlich deutlich wie beim Toilettenstuhl wird das Debatten auslösende Potential von Dingen am Beispiel der Plainsfederhaube in Markus H. Lindners Beitrag. Durch seine differenzierte Beschreibung des Diskurses um aktuelle (kritische) Aushandlungen des Kopfschmucks und der detaillierten historischen und ethnografischen Betrachtung desselben gelingt es ihm aufzuzeigen, warum Fragen nach cultural exchange oder cultural appropriation gegenwärtig so emotionalisiert diskutiert werden und wie Dinge in gesellschaftliche Aushandlungen um Machtverhältnisse und Teilhabe verstrickt sind. Ausgehend von zwei Fallbeispielen diskutiert Friedemann Neumann die „Schaffung haushaltlicher Konstellationen“ (33) und damit einhergehende Reibungen und Grenzziehungen mit Blick auf darin involvierte Materialitäten im Kontext transkultureller Alltage. Zentral stehen hierbei Fragen nach Irritationen des Gewohnten durch Haushaltsdinge sowie die Taktiken der Forschungspartner*innen im Umgang mit diesen. Neumann zeigt, dass sich in den Haushaltsdingen Migrantisches nicht einfach repräsentiert. Mit Rückgriff auf Bruno Latours Konzept „der zirkulierenden Referenz“ gelingt es dem Autor, die Dinge so differenziert zu beschreiben, wie sie es im Alltag sind und dabei gleichzeitig auch die gesellschaftlichen Verhältnisse von Haushalten sowie ihre Wandelbarkeit und Dynamik mitzudenken. Sophia Becke und Stephan Bongards wohl strukturierter Beitrag ist das spannende Ergebnis einer transdisziplinären psychologisch-ethnologischen Forschung zur Untersuchung früher sozialer Beziehungen und psychischer Entwicklung von Kindern eines Clans im Grasland Kameruns, den Nseh. Ziel ihrer Forschung ist es, transkulturelle Forschungsgrenzen und „westliche“ Normvorstellungen in der Psychologie durch einen objektorientierten Ansatz aufzulösen. Als zentrales Objekt wählen sie das Tragetuch, an dem sie Verhaltensstrukturen und die ihnen zugrundeliegenden sozialen Normen rekonstruieren. Dabei kommen sie zu dem Ergebnis, dass „im Tuch […] Bindungsstrukturen und Erziehungsideale greifbar [werden]“ (95). Ausgehend von gegenwärtigen Digitalisierungsbestrebungen in Museen, Sammlungen und Archiven wirft Katja Müller Fragen nach der Materialität digitaler Objekte auf: Wie gestaltet sich ihre Nutzung und Verbreitung im digitalen Raum? Wie verschieben sie unsere Vorstellungen von musealen Objekten oder die Materialität von Kulturerbe? Über die einleuchtende theoretische Verortung sowie konkrete Beispiele aus der musealen Digitalisierungspraxis gelingt es ihr zu zeigen, dass digitale Objekte zwar nicht stofflich sind, sie deshalb aber nicht weniger relevant für museale Arbeit sein müssen. Digitale Objekte brechen die Dichotomie zwischen Original und Nachbildung auf und verdeutlichen, dass kulturelles Erbe nicht unbeweglich und materiell ist, sondern Kultur (immer) in bestimmter Weise kodiert ist. Auch in Georg Schifkos Beitrag spielt das Museum eine zentrale Rolle. Die herausfordernden Dinge beziehen sich hier auf den Dekor der ethnografischen Abteilung des naturkundlichen Museums in Wien. Die dort Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen plastischen Stuckfiguren (Karyatiden) stellen indigene Menschen dar. Weil es aber keine Quellen gibt „aus denen eindeutig ersichtlich wird, welche konkreten Ethnien in Form von Karyatiden gezeigt werden“ (306), widmet sich Schifko der Deutung dreier Figurenpaare anhand ihrer „kulturspezifischen Artefakte“ (311). Im Aufsatz von Anna-Maria Walter ist es das Handy, das Menschen in der Region Gilgits in Nordpakistan vor Herausforderungen stellt. In ihrer lebendig geschriebenen (und auch für Lesende ohne regionales Expert*innenwissen nachvollziehbaren) ethnografischen Studie steht das Handy metaphorisch für die Kommunikation unter anderem in Paarbeziehungen. Am Handy manifestiert sich ein öffentlicher Diskurs um die tradierte Gesellschaftsordnung, die Liebespaaren via Handy Eigeninitiative und emotionale Nähe ermöglicht. Walter gelingt es anhand der Auswertung ihres ethnografischen Materials nachvollziehbar darzustellen, wie die aktuellen gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse in Gilgits zur Normalisierung eines komplexeren Wertewandels beitragen.

Es ist die Frage nach der Relevanz der Materialität von Geld, der Geraldine Schmitz in ihrem spannenden Artikel auf dem Central Market in Tamale, Nordghana, nachgeht. Darin thematisiert sie „Handels- und Handlungsstrategien der Händler in Bezug auf ihr wirtschaftliches und soziales Bestehen“ (197), die sie über nachvollziehbare Schlüsselmomente ihrer Feldforschung analysiert. Sie zeigt darin auf, warum das auf dem Markt verwendete Geld nur in der Theorie und nicht in der Alltagspraxis die gleiche Kaufkraft hat wie das Geld außerhalb des Marktes und warum der Wert des „Market Money“ „maßgeblich mit der Materialität des Geldes und dessen Symbolkraft“ (196) zusammenhängt. Wie Handgewebtes im zeitgenössischen Myanmar entsteht, beschäftigt Jella Fink. Zentral in ihrer ethnografischen Forschung steht die Frage, wie der gegenwärtige Wandel Myanmars „auf materieller Ebene sichtbar“ (121) wird. Ihr Beitrag spürt dieser Frage anhand von Veränderungen der Lun’t-aya Acheik Weberei nach. Mittels ihres ethnografischen Materials beschreibt sie neue Strategien der Weberei-Besitzerinnen in der handwerklichen Herstellung sowie Vermarktung der Stoffe. Diesen Wandel diskutiert Fink u. a. im Kontext einer Verschiebung des Acheik als Bamar-Kleidungsstück hin zum Myanmar-Kleidungsstück. Auch Felix Girke thematisiert gegenwärtige Aushandlungen in Myanmar: Ausgehend von ethnografischen Erhebungen und einer biografischen wie historischen Kontextualisierung des Lebens und Wirkens des Generals Aung San diskutiert Girke das vieldeutige und deshalb herausfordernde Bildnis des Generals: „Aung San ist vieles für viele. Sein Bild ist Provokation, Vermittlung, Hoffnung.“ (161) Die geschilderten Spannungen zwischen dem öffentlichen und privaten Umgang mit dem Bildnis eröffnen interessante Einblicke in die gesellschaftlichen Dynamiken Myanmars. Warum Werkzeug eine relevante aber herausfordernde Dinggruppe für die Ethnologie der Arbeit darstellt, erläutert Valerie Hänischs Beitrag zum Umgang mit und zur Herstellung von Schmiedewerkzeugen der inadan im Norden Nigers. Anhand der dichten Beschreibungen, die sie sorgfältig aus ihrem ethnografischen Material formt, sowie einer griffigen und differenzierten Auseinandersetzung mit theoretischen Ansätzen zu Handwerk und Arbeit in der Ethnologie macht sie deutlich, dass das handwerkliche Wissen der inadan nicht in ihren Werkzeugen, sondern im Gebrauch, in der Erzeugung und in den Händen dieser liegt. Hänisch zeigt, wie Dinge mit Praxis verbunden sind und wie unser Umgang mit ihnen unser In-der-Welt-sein formt. Ebenfalls um Werkzeuge geht es in der Abhandlung der Archäologin Elena Francés Revert, die eine kritische Diskussion um die Herausforderungen der Erforschung früheisenzeitlicher Knochenwerkzeuge eröffnet. Dabei erläutert sie ebenso anschaulich wie zuvor Hänisch, dass sich Werkzeuge ohne die Perspektive der Herstellung und des Umgangs nur spekulativ begreifen lassen. Während Francés Revert durchgängig spannende Fragen und Probleme in der Erforschung des Knochenwerkzeugs anführt, denkt sie auch interdisziplinär und mit Praxisbezug über mögliche Lösungen nach, die sie u. a. in der experimentellen Archäologie und in Kooperationen mit Ethnolog*innen sieht. Der Umgang mit und die dadurch evozierten Herausforderung durch Knochen sind auch Thema in Thomas Kolnbergers Aufsatz. Er diskutiert ausgehend von menschlichen Knochen und Totenschädeln den (vergangenen wie gegenwärtigen) Umgang mit der „Dinglichkeit des Leibes“ (341). Dass sich Menschen und (ihre eigenen oder fremde) menschliche Überreste „zwangsläufig“ irgendwann im Leben begegnen, sieht er als „anthropologische Konstante von höchstem gesellschaftlichen Aufforderungscharakter“ (341). Trotz der theoretischen Dichte gelingt es Kolnberger anhand von Beispielen und Diskursen aufzuzeigen, wie „der Aufforderungscharakter“ menschlicher Knochen und Schädel „zum Index für historische Veränderlichkeiten“ wird und die „menschlichen Dinge“ damit „unabschließbare Bedeutungsträger“ bleiben (341).

Der vorliegende Sammelband setzt sich auf spannende und vielfältige Weise mit aktuellen Ansätzen, Debatten und Fragen der materiellen Kulturforschung auseinander. Besonders die vielen Beiträge, die aus ihrem ethnografischen Material heraus anschaulich aufzeigen, wie Dinge gesellschaftliche Debatten anstoßen, wenn „verschiedene Sichtweisen ihre Geltung beanspruchen“ (16), machen den Band lesenswert. Auch wenn die einzelnen Texte inhaltlich oder regional nur wenige Berührungspunkte haben, berühren sie sich alle darin, die Dinge phänomenologisch, lebensweltlich und multiperspektivisch zu betrachten. Damit zeigt der Band auf verständliche Art, dass die „Mehrdeutigkeit von Dingen wie auch die Wandelbarkeit von objektbezogenen Bedeutungen und von Gebrauchsweisen […] die eigentlichen Gründe [sind], warum Materielle Kultur heute als Forschungsgegenstand bedeutsam ist“ (11).