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Evelyn Reso

Das große Ganze. Intergenerationalität in familiengeführten Tourismusbetrieben in Südtirol

(Tourism & Museum 6), Münster/New York 2016, Waxmann, 458 Seiten, ISBN 978-3-8309-3381-6
Rezensiert von Adelheid Schrutka-Rechtenstamm
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 31.07.2020

„Das große Ganze“ entstand als Dissertation im Fach Europäische Ethnologie an der Universität Innsbruck und war ein Forschungsprojekt, finanziert vom Touriseum, dem Südtiroler Landesmuseum für Tourismus, in dessen Publikationsreihe das Buch auch veröffentlicht wurde. Die Autorin Evelyn Reso untersucht familiengeführte Tourismusbetriebe in Südtirol. Als Familienbetrieb versteht sie einen Betrieb, der im Eigentum einer oder mehrerer Familien steht, die im Unternehmen persönlich mitarbeiten. Auch wenn dies nur eine Person ist, geht sie davon aus, dass auch der Alltag der anderen Familienmitglieder mit dem Gewerbe verbunden ist und es zu einer starken Vermischung der beruflichen und der privaten Angelegenheiten durch z. B. die intensiven Kontakte zu den Gästen kommt. Im Fokus stehen zwei Generationen: diejenige, die den Betrieb aufgebaut hat und die zweite Generation, die im touristischen Umfeld aufgewachsen ist und sich dann für oder gegen eine Nachfolge entscheiden musste.

Die Fragestellung der Studie rekurriert auf intergenerationale Beziehungen in familiengeführten Tourismusbetrieben vor dem Hintergrund tourismusgeschichtlicher Entwicklungen. Es geht Reso um das Zusammenleben und -arbeiten im eigenen Betrieb, Rollenverteilungen, das Thema der Nachfolge bzw. Übernahme des Betriebes und die diesbezüglich wichtigen Transferprozesse. Im Zentrum standen dabei Fragen nach den Brüchen und Kontinuitäten, nach Werten und Normen, nach Handlungsabläufen, nach Ritualen und Symbolen sowie die Erkundung von Geschichten, d. h. es kam dem Erzählen eine wichtige Bedeutung zu, nicht zuletzt deshalb, da ja auch die Umsetzung der Ergebnisse im Museum intendiert war.

Der Forschungsstand wird kurz über drei fachspezifische Zugänge vorgestellt: Tourismusforschung, Arbeits- und Unternehmenskulturforschung und Familienforschung. Um die Erzählungen der Akteurinnen und Akteure jeweils in einen regionalen, historischen und gesellschaftstheoretischen Kontext betten zu können, widmet sich die Autorin der tourismusgeschichtlichen Entwicklung Südtirols ab 1950, dem Thema Nachfolge in familiengeführten Tourismusbetrieben und dem postfordistischen Konzept alltäglicher Lebensführung. Dieser Teil der Arbeit ist nicht unnötig in die Länge gezogen, sondern dankenswerterweise auf für die weitere Untersuchung wesentliche Aspekte beschränkt.

Mehr Raum wird dem methodischen Vorgehen gewidmet. Dies erscheint ein passender Weg, um die Arbeitsweise und die Erfahrungen im Feld transparent zu machen und zu überdenken. Es geht dabei um die Datenerhebung, die Auswahl der Interviewparter*innen, die Kontaktaufnahme und den Gesprächsverlauf. Auch die Reflexion der eigenen Rolle im Feld kommt im Sinne der Autoethnografie zur Sprache. Hier schließt die Autorin außerdem durchaus persönliche Anmerkungen und Erkenntnisse, die sie in den Interviews gewonnen hat, mit ein, ebenso benennt sie Schwierigkeiten, die sich bei den Gesprächen ergaben. Daran schließt ein kurzer Abschnitt über die Transkription und die Datenanalyse an, ein wichtiger Aspekt, der nur zu oft in empirischen Arbeiten zu kurz kommt.

Als relevante Begriffe und theoretische Konzepte, die die bestimmenden Analysekategorien bilden sollen, stellt Reso Identität und Sinn, Gefühle und Agency, Transferprozesse und Kapitalsorten sowie Konsens und Konflikt vor. Leider werden diese Konzepte im analytischen Teil nur implizit wieder aufgenommen, eine stärkere theoretische Diskussion wäre wünschenswert und sicherlich äußerst interessant gewesen.

Den Hauptteil der Dissertation von Evelyn Reso bilden empirische Einzelfallanalysen, wobei fünf Betriebe vorgestellt werden. Jedes dieser Portraits ist ähnlich aufgebaut, aber doch auch wieder individuell auf die jeweilige Situation abgestimmt: Zu Beginn erfolgt die Vorstellung des Betriebes inklusive Beobachtungen der Autorin, der Zugang zu den Interviewpartner*innen wird thematisiert und manchmal gibt es auch eine kurze Geschichte des Hotels. Darauf folgen Analysen der Gespräche mit Vertreter*innen der älteren und dann der jüngeren Generation. Zur Sprache kommen der Aufbau des Betriebes oder der Einstieg in den Betrieb, der Arbeitsalltag, die Betriebsübergabe und die Nachfolge, Kindheit und Elternschaft im Betrieb und Zukunftsperspektiven. Jede Fallanalyse endet mit einem Zwischenfazit, in dem die Autorin ihre Beobachtungen und wichtige Aspekte für die Zielsetzung der Arbeit herausstellt.

Die Fallanalysen lesen sich sehr gut, sowohl inhaltlich wie auch stilistisch. Man hat nie das Gefühl, dass hier einfach Ergebnisse zusammengeschrieben wurden. Jedes Familienportrait ist gut komponiert und die Autorin versteht es, durch eine Abfolge von Beschreibungen, direkten Zitaten, Reflektionen und Analysen in den Schilderungen eine starke Authentizität zu vermitteln. Immer wieder nimmt sie sprachliche Feinheiten aus den Aussagen der Gesprächspartner*innen auf, weist auf Widersprüchlichkeiten hin und gibt auch den Gefühlen in der Analyse breiten Raum. Die Interviews wurden alle ins Hochdeutsche übertragen. Die Miteinbeziehung des Dialekts bzw. das Switchen zwischen Dialekt, Verkehrs- oder Hochsprache hätte eventuell zu weiteren interessanten Erkenntnissen führen können.

Den Abschluss des Buches bilden Darstellung und Diskussion der empirischen Ergebnisse. Das zentrale Thema ist dabei das titelgebende „große Ganze“, die Intergenerationalität in familiengeführten Tourismusbetrieben, aufgeschlüsselt nach Außenbereich, erweitertem Innenbereich, Innenbereich Familie und Individuum. Hier werden zentrale Aspekte herausgearbeitet, die trotz aller Diversität in den lebensgeschichtlichen Konstruktionen der Erzählenden von Bedeutung sind, wie beispielsweise beim Kapitel „Höhere Mächte“, die in Form des Zufalls, des Schicksals, von Glück oder Gott erklärend oder deutend Erwähnung finden.

In der Arbeit wird das Spezifische der intergenerationalen Beziehungen in Tourismusbetrieben auf spannende Art und Weise herausgearbeitet. Die enge Verflechtung von Familie und Betrieb als Identifikationsmerkmal ist dabei ein wichtiges Ergebnis. Eine der wesentlichen Stärken von Evelyn Reso liegt sicherlich in der interessanten Schilderung der Gespräche mit Vertreterinnen und Vertretern dieser Berufssparte, die noch viel zu selten in den wissenschaftlichen Fokus geraten sind. Ihre Offenheit und wiederholte Selbstreflektion spiegeln die hohe Qualität der Gesprächsführung und die Empathie der Interviewerin. Eine Umsetzung der Ergebnisse fand in der Sonderausstellung „Hotel. Generation. Erzählen“ im Lanserhaus Eppan des Touriseums (März/April 2017) statt.