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Debora Frommeld
Die Personenwaage. Ein Beitrag zur Geschichte und Soziologie der Selbstvermessung
(KörperKulturen), Bielefeld 2019, transcript, 370 Seiten mit 30 Abbildungen, Tabellen, ISBN 978-3-8376-4710-5Rezensiert von Lisa Wiedemann
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 31.07.2020
In der westlichen Moderne gilt der Körper als gestaltbar und gestaltungsbedürftig. Es existieren unzählige Praktiken, um ihn zu bearbeiten, zu pflegen, zu modifizieren oder zu verschönern. Dabei ist die „vermeintlich äußerliche Körperarbeit immer und unausweichlich Arbeit am sozialen Selbst“, wie Paula Irene Villa in der Einleitung zu dem von ihr herausgegebenen Buch „schön normal: Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst“ (Bielefeld 2008, 8) schreibt, denn dem fitten und schlanken Körper werden Werte wie Durchhaltevermögen, Gesundheit und Disziplin zugeschrieben. Doch der Wunsch und die Bemühungen einem „Normalgewicht“ oder ästhetischen Körperidealen zu entsprechen, müssen lebenslänglich überprüft werden. Vor allem Praktiken der Selbstvermessung erlauben es, den eigenen Körper jederzeit als Durchschnittskörper zu erblicken. Genau an dieser Stelle setzt Deborah Frommelds Dissertation „Die Personenwaage: Ein Beitrag zur Geschichte und Soziologie der Selbstvermessung“ an. Dabei problematisiert die Autorin nicht in erster Linie einen Schlankheitskult (20), vielmehr ist die Hauptakteurin der Studie die Personenwaage und damit die Instrumentierung der Gewichtskontrolle. Frommeld geht es darum, einen in Zeiten der Digitalisierung unter dem Label „Self-Tracking“ zu beobachtenden „Trend der Selbstvermessung genealogisch zu erfassen“, wozu sie die Leser*innen auf eine eindrucksvolle „soziologisch-historisch[e] Reise“ (9) schickt. Dabei identifiziert und füllt sie eine Forschungslücke, denn eine Geschichte der Personenwaage liegt für den deutschsprachigen Raum bisher nicht vor (19 ff.).
Auf 305 Seiten entwickelt Frommeld in methodischer Sorgfalt sukzessive eine Genealogie der Personenwaage, die wissens- und diskursanalytische Ansätze kombiniert. Dabei rekonstruiert sie die „diskursive Arena des Artefakts“ (17) auf empirisch äußerst innovative Art und Weise, denn Hauptquelle sind 122 Patentdokumente aus dem Zeitraum 1919 bis 1989. Indem sie die Verwobenheit von Technik, Wissen und Gesellschaft explizit anhand des Planungsprozesses einer Alltagstechnik in den Blick nimmt, schlägt sie einen für die Techniksoziologie instruktiven Weg ein.
Mit der entwickelten Forschungsperspektive wurde in methodischer wie theoretisch-reflexiver Hinsicht Michel Foucaults „Werkzeugkiste“ (58) geöffnet. Entsprechend wird die Personenwaage in eine foucaultsche Machtanalytik eingespannt und von Beginn an als „machtvolles Instrument“ (28) charakterisiert, das sowohl den individuellen Körper in Klassifikationen wie Normal-, Über- oder Untergewicht fixiert als auch biopolitisch auf den Körper einer Bevölkerung gerichtet ist. Anhand des empirischen Materials erkundet Frommeld, wie sich historische Machtverhältnisse in der Entwicklung der Waage entfaltet und sich dabei ihre Funktionsweisen verändert haben (37). Ebenso zeichnet sie nach, wie „Wissen über die Personenwaage in spezifischen Teildiskursen entwickelt, verändert und aktualisiert wird“ (39) und sich zu vorübergehend oder dauerhaft stabilen Wissensregimen verdichtet (57). Fokussiert werden insgesamt drei Teildiskurse: Erstens ein übergeordneter Innovationsdiskurs, der – verkörpert durch die Patente – im Vordergrund steht. Zweitens werden wissenschaftliche Diskurse der Medizin, Anthropometrie und Ernährungswissenschaft in die Analyse eingewoben. Denn auch sie produzieren historisch spezifisches Wissen, das sich in die Gestaltung und Verwendungslogik des Messinstruments inskribiert. Drittens greift die Autorin wiederkehrend öffentlich-mediale Diskurse auf, in Form von Artikeln aus der Frauenzeitschrift „Brigitte“ und Werbetexten einer Fitness-App.
Die Arbeit hat insgesamt acht Kapitel. Ein umfangreiches einleitendes Kapitel skizziert den Forschungsstand, die Forschungslücke, Fragestellungen und die Perspektivierung der Studie. Das zweite Kapitel konkretisiert das Forschungsdesign und erläutert die detailreichen Untersuchungsschritte des diskursanalytischen Vorgehens. Zwischen methodologischem Fundament und Analyseergebnissen vermittelnd, rekonstruiert das dritte Kapitel zum einen die Bildung des Quellenkorpus und erläutert in dem Zuge den Aufbau der Patentschriften. Zum anderen bettet es den Korpus in eine soziohistorische Kontextanalyse ein. Entsprechend werden fünf soziale Prozesse kategorisiert, die in die historische Entwicklungsdynamik der Personenwaage verwickelt waren: „Technisierung des Alltags“ (114 ff.), „Individualisierung“ (119 ff.), „Normalisierung des Lebens“ (122 ff.), „Medikalisierung“ (128 ff.) und „Ästhetisierung der Lebenswelt“ (134 ff.). Auch wenn die fünf Prozesse an dieser Stelle als „noch korrigierbare theoretische Ergebnisse“ (110) bestimmt werden, wird bereits hier deutlich: Die Geschichte der Personenwaage liegt im Fadenkreuz der gesellschaftlichen Entwicklungen, die von der Soziologie vielfach als charakteristisch für die (Spät-)Moderne beschrieben wurden. Das vierte Kapitel nimmt sich der Vorgeschichte des Instruments an. Eindrücklich schildert die Autorin, dass Vermessungen des Körpers ihren Ausgangspunkt in militärischen Musterungen und (ernährungs-)medizinischen Untersuchungen nahmen. Ebenso berichtet sie von in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommenden öffentlichen Personenwaagen, die in den nachfolgenden Jahrzehnten an öffentlichen Plätzen (168) zur „spielerische[n] Selbstvermessung“ (173) einluden. Bis in die 1970er Jahre standen die Automaten an Bahnhöfen, in Schwimmbädern, Kaufhäusern oder Parks und waren mit Normalgewichtstabellen ausgestattet (185).
Wie das fünfte Kapitel anhand der Patentdokumente belegt, wurden die Vermessungsspiele im Verlauf des 20. Jahrhunderts schrittweise privater und intimer. Die Fülle der detailreichen Schilderungen übersteigt den Umfang einer Rezension. Chronologisch nach Jahrzehnten geordnet, bringt Frommeld die Planungen der Entwickler*innen in einen Dialog mit den zuvor gekennzeichneten sozialen Prozessen. Deutlich wird: „Die Genealogie der Personenwaage ist […] ein Prozess, der auf das private Wohnumfeld und die individuelle Selbstmessung abzielt.“ (180) Bereits in den 1960er Jahren beschrieben die Patentschriftstücke ein Messinstrument, das regelmäßig Anwendung findet und sich praktisch in die Wohnumgebung integriert (209). In den 1970er Jahren erfuhr die Waage für den Heimgebrauch ihre „Hochphase“ (ebd.) und die 1980er etablierten sie als normalen „Haushaltsgegenstand“ (211).
Kapitel sechs öffnet den Blick für gegenwärtige Entwicklungen des Artefakts seit 1990. So brachte das neue Jahrtausend Waagen zu Tage, die mittels Sonden und Elektroden das Körpergewicht genauestens in Körperfett und Wasseranteil aufschlüsselten. Allerdings wertet Frommeld diese Neuerungen nicht als grundlegend neue Funktionalität der Artefakte, vielmehr differenzierten sich die „alltäglichen Beobachtungs- und Kontrolltechniken des Körpers“ (253) weiter aus. Weiterhin werden Smartphone-Apps zur Sprache gebracht, die seit „den letzten Jahren dazu genutzt werden, das Körpergewicht mit anderen Werten in Bezug zu setzen“ (255). Kapitel sieben und acht rekapitulieren die Ergebnisse und halten fest: In der „Genealogie des Instruments konstituiert sich [zunächst] ein Wissensregime, das über den Zeiger und das Display zwischen Subjekt und Gesellschaft vermittelt[e]“ (249) und sich gegenwärtig zunehmend auf Apps und Sensoren verlagert (259). Die Macht des Instruments Personenwaage zeige sich dabei vor allem in dem ihm zugrundeliegenden Wissensregime, „durch das sich Individualisierungs-, Normalisierungs- und Medikalisierungsprozesse vollziehen“ (264).
Am Ende der Arbeit spannt Frommeld ihre Ergebnisse nochmals in foucaultsche und gouvernementalitätstheoretische Perspektiven ein (286 ff.). Damit werden die „Sorge um das Körpergewicht“ (290) und das sich in Freiheit wiegende Subjekt vor den Hintergrund kultureller Idealbilder, Normen und Wertesysteme gerückt. Eine noch eingängigere und diverse Diskussion der empirischen Ergebnisse hätte dabei noch deutlicher herausarbeiten können, an welchen Stellen die Arbeit am Material über die Verdoppelung der theoretisch stark durch Foucault orientierten Vorannahmen hinausweist.
Insgesamt entsteht der Eindruck eines etwas unausgewogenen Verhältnisses zwischen langen programmatischen Ausführungen zum methodischen Vorgehen der Diskursanalyse, detailreichen Ausführungen zu den Ideen der Entwickler*innen und einer reflektierenden Abstraktion der Ergebnisse. Auch bleiben die punktuellen Ausflüge in die öffentlichen Teildiskurse eher dekontextualisiert. Zwar sind etwa die Vorher-Nachher-Geschichten aus der „Brigitte“ der 1960er Jahre sehr lesenswert (278 f.), sie hinterlassen jedoch den Eindruck, hier sei vordergründig der schwierige Versuch einer „Rekonstruktion eines Gesamtdiskurses“ (274) unternommen worden. Vielmehr wäre eine kurze Reflexion dessen, was in der Studie ‚nicht‘ sichtbar wird, wünschenswert gewesen. So verhandeln die Patentschriften immer nur den projizierten Gebrauch der Waage und geben kaum Einblicke in konkrete und situative Verwendungsweisen. Verstaubt die Personenwaage vielleicht doch seit Jahren hinter der Badezimmertür, weil die morgendliche Gewichtskontrolle zu viele schlechte Gefühle verursacht?
Deborah Frommeld ist eine sehr eindrucksvolle Studie gelungen, die ein seltenes und lesenswertes Zusammentreffen von soziologischer und historischer Analyse entfaltet. Mit ihrer Geschichte der Personenwaage leistet sie einen entscheidenden Beitrag für eine Soziologie der Selbstvermessung, indem sie die gesellschaftliche Bedeutung des digitalen Self-Trackings historisch aufschichtet und zeigt, dass Apps und Fitnessarmbänder nicht so neu sind, wie sie im ersten Moment erscheinen.