Aktuelle Rezensionen
Johannes Moser/Simone Egger (Hg.)
The vulnerable middle class? Strategies of housing in prospering cities
(Münchner ethnographische Schriften 29), München 2019, utzverlag, 146 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8316-4755-2Rezensiert von Georg Wolfmayr
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 31.07.2020
Der im Jahr 2019 von Johannes Moser und Simone Egger als Nummer 29 der Münchner ethnographischen Schriften herausgegebene Sammelband „The vulnerable middle class? Strategies of housing in prospering cities“ widmet sich einer gesellschaftlichen Großgruppe, die in den letzten Jahren insbesondere in ihrer Krisenhaftigkeit Gegenstand einiger sozial- und kulturwissenschaftlicher Zeitdiagnosen war: der Mittelschicht. Ausgehend von einem Panel auf dem Kongress „Ways of Dwelling. Crisis – Craft – Creativity“ der Societé Internationale d’Ethnologie et de Folklore (SIEF) im Jahr 2017 entstand ein Band, der sieben der zehn Beiträge des Panels nun erfreulicherweise auch für eine breitere Leser*innenschaft zugänglich macht. Die Texte des Bandes thematisieren Mittelschicht in Deutschland (insbesondere München) und Schweden in Hinsicht auf deren Wohnverhältnisse, die angesichts rasch steigender Lebens- und Wohnkosten zunehmend in Bedrohung geraten. Der Band ergänzt Makroperspektiven auf die Entwicklung postmoderner Städte um einen ethnografischen und mikroanalytischen Blick auf die Strategien und Taktiken der Mittelschicht im Umgang mit der Wohnkrise.
Simone Eggers Beitrag „Dwelling in Postmodern Cities: Middle Class and Social Responsibility“ bietet einen Einstieg in das brisante Themenfeld und versucht, thematische Bezüge zu verknüpfen. Von den Finanzmärkten über Wohnen als Zuhause und Ausdruck von Zugehörigkeit bis zu aktivistischem Engagement reichen die Zusammenhänge, in denen sich die gegenwärtige Wohnkrise entfaltet. Hervorgehoben sei die in diesem Rahmen besonders interessante Quelle der Wohnungsannoncen, über welche sich Vorstellungen und Hoffnungen von Wohnraumsuchenden und deren Strategien im Umgang mit der Wohnkrise im Kontext von Ungleichheit analysieren lassen. Der Beitrag zeigt sowohl die Breite und Komplexität von relevanten Bezügen eines nach Egger unumgänglich holistischen Verständnisses von Stadt und Wohnen als auch das städtische sowie stadtforscherische Dilemma, viele Determinanten gleichzeitig zusammendenken zu müssen.
Im Wohnen erkennt Stefan Groth (neben den bisher von ihm bearbeiteten Feldern Selbstoptimierung, Sport und Arbeit) ein weiteres Fallbeispiel für eine gesellschaftliche Tendenz hin zum „Mittleren“. In seinem Beitrag „Of Good Averages and Happy Mediums: Orientations towards an Average in Urban Housing“ analysiert er mittelschichtige Vorstellungen, Normen und Ästhetiken des „Mittleren“, etwa in Werbungen für Innenausstattung und in der Nutzung öffentlichen Raums. Etwas unentschlossen bleibt der Beitrag bezüglich der Frage, ob die Tendenz zur Mitte im Feld des Wohnens nicht vielmehr als eine Anpassung an knapper werdende Räume verstanden werden kann, also schlussendlich nicht als Orientierung an der Mitte, sondern als eine Anpassung nach unten als Taktik im Kontext von Knappheit.
Laura Gozzer verbindet in klarer Sprache ethnografische Schilderungen vom angespannten Münchner Wohnmarkt mit einer Diskussion um den Klassenbegriff in ihrem Beitrag „New Housing Cooperatives in Munich: Two Scenarios for an Ethnographical Class Analysis“. Die Aktivitäten der Münchner Mittelschicht in als Antwort auf die Wohnkrise neu gegründeten Wohngenossenschaften analysiert sie mit zwei unterschiedlichen Zugängen zu Klasse. Zum einen situiert sie nach Pierre Bourdieu die untersuchten Fallbeispiele als Positionen im Feld des Wohnens und analysiert die Genossenschaften als Ausdruck damit verbundener Wohn- und Lebensstile. Zum anderen untersucht sie die Genossenschaften als konkrete Prozesse der Formation von Klasse. Diese Reflexion über den Klassebegriff tut dem Sammelband insofern gut, als Laura Gozzers Beitrag die einzige explizite Diskussion des Mittelschichtsbegriffes unter den versammelten Texten darstellt und damit den Band an eine allgemeinere Diskussion anknüpft.
Eine weitere Antwort der Mittelschicht auf die Wohnkrise zeigt Max Ott in seinem Text mit dem Titel „Help Yourself, but Build the Right Thing: A Collaborative Housing Project in Growing Berlin“. Max Otts Diskussion von Bau- und Wohngruppen veranschaulicht die widersprüchlichen Responsibilitäten, welche sich nicht nur in den Selbstverständnissen der Mittelschicht niederschlagen, sondern auch in der stadtforscherischen Kritik an gegenwärtigen Entwicklungen. Erhellend sind die Beispiele der strategischen Instrumentalisierung von Ethik für Vorhaben der Stadtentwicklung. Interessant wäre überdies gewesen, welche Rolle Bau- und Wohngruppen in Berlin generell spielen; wie ist die Breite des Phänomens einzuschätzen?
Susanna Rolfsdotter Eliasson beschreibt in „Strategies for Achieving the Good Life: A New Generation Becomes Summer Cottage Owners in Sweden“ individuelle Lösungen der Wohnkrise in Stockholm und Göteborg: die Flucht aufs Land, um dort in Ferienhäusern kostengünstig mehr Raum für einen Lebensstil zur Verfügung zu haben, den man sich in den Städten nicht mehr leisten kann. Sind diese „sommarstugas“ schon seit dem 19. Jahrhundert Teil schwedischer Lebensstile unterschiedlicher Klassen, hat sich in den letzten Jahren vor allem in mittelschichtigen Milieus ein Boom in der Nachfrage nach diesen Ferienhäusern entwickelt. Eliasson versteht die in den Narrativen der neuen Besitzer*innen erkennbare Polarisierung von Stadt und Land und die Idealisierung des Landlebens als Teil einer neuen Urbanisierung.
Libuše Hannah Vepřek gibt unter dem Titel „Stattpark OLGA. An Alternative Way of Dwelling as a Critique of the (Rental) Housing Logic“ Einblick in eine ungewöhnliche Form mittelschichtiger Antwort auf die Wohnkrise. Waren Bauwagenplätze seit den 1980er Jahren vor allem Orte einer Bewohner*innenschaft mit wenig ökonomischem Kapital, ist Stattpark OLGA ein Projekt von Angehörigen der Mittelschicht. Die Intention der Initiator*innen war die Etablierung einer alternativen Form des Wohnens jenseits kapitalistischer Logiken. Auch in diesem Beispiel zeigt sich die Widersprüchlichkeit und die notwendige Aushandlung heterogener Ansprüche der Bewohner*innen ‑ insbesondere angesichts notwendiger Arrangements mit der Stadt. Kulturelles und soziales Kapital garantierten sowohl Akzeptanz als auch Exklusivität des Bauwagenplatzes.
Den Abschluss des Bandes bildet der Beitrag „Who’s the Master of the Plan? Exploring the Tempelhof Field as a Space of Non-Dwelling Moralizations“ von Sanda Hubana zur Aushandlung des Tempelhofer Feldes in Berlin. Hubana rollt die Planungen zur Bebauung des ehemaligen Flughafens und Widerstände von Aktivist*innen aus der Mittelschicht dagegen auf, verweist auf die immer bestehende Gefahr der Exklusion und Exklusivität angesichts unterschiedlicher Ressourcen zur eigenen Beteiligung und schließt damit an die den Band durchziehenden ethischen Ambivalenzen im mittelschichtigen Handeln im Kontext der Wohnkrise an. Zentral für Planungsprozesse, so stellt die Autorin heraus, sei Vertrauen zwischen den involvierten Gruppen. Wie sie allerdings zu der überraschenden Einschätzung kommt, das Misstrauen der Bevölkerung gegen politische Versprechen entspringe in erster Linie deren Unwissen über politische, ökonomische und planerische Prozesse, wird von ihr leider nicht ausgeführt und bleibt unverbunden mit dem empirischen Material.
Die versammelten Beiträge zeigen anschaulich verschiedene Umgangsweisen von mittelschichtigen Milieus in Schweden und Deutschland mit der gegenwärtigen Wohnkrise, welche von individueller Flucht ins Grüne, um für sich mehr Lebensraum zu haben, bis zu kollektivem politischen Engagement reichen. In vielen der Beiträge werden die Widersprüchlichkeiten in einer Klasse deutlich, deren Lebensstile bedroht sind und angesichts knapper werdenden Wohnraums zunehmend schwieriger aufrechterhalten werden können. Mit dieser Unsicherheit geht, bei gleichzeitiger Infragestellung von Autobesitz im Speziellen, von Konsum und materialistischem Individualismus allgemein, die Abarbeitung an ethischen Kategorien einher, welche sich im Topos des guten Lebens kondensieren.
Dieser Begriff des „guten Lebens“, auf den sich die einzelnen Beiträge immer wieder beziehen und der damit einen impliziten roten Faden durch den Band darstellt, bleibt weitgehend unbestimmt. Er taucht auf in seiner ethischen Dimension im Sinne eines „richtigen“ Lebens, zuweilen aber auch in seiner lebensqualitativen Dimension als „angenehmes“, die Bedürfnisse befriedigendes Leben, das wenig Entbehrungen verspricht. Eine Diskussion dieser unterschiedlichen Dimensionen und deren Zusammenhang in gegenwärtigen Wohnverhältnissen und -idealen sowie eine historische Einordnung hätten womöglich noch weitergehende Antworten auf die Frage geliefert, inwiefern das „gute Leben“ heute wieder ein wirksames Versprechen darstellt. Ein zusammenfassendes, die Beiträge und Konzepte reflektierendes Vor- oder Nachwort hätte mitunter auch die in Laura Gozzers Artikel angestoßene Diskussion rund um den Klasse- und Mittelschichtbegriff vertiefen können. Der Band zeigt schließlich eindrücklich wie sich schichtspezifische Problemlagen in unterschiedlichen Städten und Ländern Europas ähneln. Werden solche Fragen im vorliegenden Band nur knapp beantwortet, ist zu vermuten, dass sich weitere Publikationen aus dem Umfeld der DFG-geförderten Forschergruppe „Urbane Ethiken“ (etwa die noch für heuer angekündigte Veröffentlichung über „Urban Ethics“), aus der auch das Panel in Göttingen hervorgegangen ist, ausführlicher diesen Themen widmen.