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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Gabriele Clemens (Hg.)

Werben für Europa. Die mediale Konstruktion europäischer Identität durch Europafilme

Paderborn 2016, Schöningh, 620 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, ISBN 978-3-506-77795-9
Rezensiert von Vanessa Conze
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 31.07.2020

Dass „die“ europäische Idee ebenso eine Identitätskonstruktion ist wie andere politische Ordnungsvorstellungen, hat sich mittlerweile als Erkenntnis breit durchgesetzt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Konstruktion indes ist nach wie vor überwiegend auf schriftliche Diskurse fixiert. Dies ändert ein Buch über die „mediale Konstruktion europäischer Identität durch Europafilme“, herausgegeben von Gabriele Clemens. Es fasst die Ergebnisse eines DFG-Projektes zusammen, das Filmwissenschaftler*innen und Historiker*innen gemeinsam unter ihrer Leitung an der Universität Hamburg durchgeführt haben.

Ausgehend von der Feststellung, dass die nach dem Zweiten Weltkrieg entstehenden europäischen Organisationen eine aktive Medienpolitik und gezielte Öffentlichkeitsarbeit betrieben, um das europäische „Bewusstsein“ zu stärken, setzt sich die Publikation mit einem Quellenkorpus auseinander, der bisher noch sehr wenig Aufmerksamkeit erfahren hat: „Europafilme“, also Auftragsfilme, die produziert wurden mit der Intention, „für den europäischen Einigungsgedanken zu werben, d.h. die Bürger*innen mit den Institutionen des geeinten Europas vertraut zu machen, ein positives Bild des Einigungsprozesses zu erzeugen und ein Zusammengehörigkeits- oder Gemeinschaftsgefühl der Europäer als Teil des institutionalisierten Europas zu erreichen“ (23). Solche Filme wurden von verschiedenen Auftraggebern produziert: von den offiziellen europäischen Institutionen wie dem Brüsseler Pakt/WEU, dem Europarat und den Europäische Gemeinschaften (EWG, EG), aber auch von Einzelstaaten, vor allem Frankreich, Italien und der Bundesrepublik Deutschland, sowie auch von privaten Europaorganisationen wie der Europäischen Bewegung oder der deutschen Europa-Union. Meist semifiktionale Kurzfilme oder Dokumentarfilme (mit Ausnahme des von der Europabewegung produzierten „Banketts der Schmuggler“ von 1952, dem einzigen reinen Spielfilm im hier untersuchten Sample), teilweise mit Trickfilm- und Animationselementen oder mit Archivmaterial angereichert, wurden sie hauptsächlich in Schulen und Bildungsinstitutionen gezeigt, zum Teil aber auch in Kinos als Vorfilme. Rund 450 Filmtitel konnten recherchiert werden, von denen sich 300 Filme in Archiven lokalisieren ließen. Das ist ein beeindruckendes Ergebnis und es ist ein großer Mehrwert, diese Titel in der umfangreichen Filmografie greifbar zu haben.

In die Analyse findet aber doch nur eine begrenztere Auswahl an besonders aussagekräftigen Filmen Eingang. In drei Hauptteile gegliedert, untersuchen die Autor*innen einerseits die Filme verschiedener europäisch-übernationaler Auftraggeber, dann nationale Europafilme aus Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland und Italien und fragen schließlich in einem thematisch angelegten Teil nach Leitmotiven inhaltlicher Art in den verschiedenen Europafilmen. Die Rezeption der Filme und die darüber hinausgehende Frage, ob die Filme in irgendeiner Form ihre Intention, zur Schaffung einer europäischen Identität beizutragen, umsetzen konnten, findet hingegen mit Verweis auf fehlende Daten keine Berücksichtigung.

Diese Gliederung macht einerseits Sinn, da sie den Blick auf Auftraggeber und ihre Intentionen, Herstellungsprozesse und Verantwortliche, übernationale und nationale Interessen an diesen Filmen und schließlich inhaltliche Fragen lenkt. Andererseits, und das durchzieht das Buch wie ein roter Faden, führt diese Gliederung zu deutlichen Redundanzen. Da offenbar der im Prinzip ja löbliche Anspruch bestand, möglichst viele, vielleicht alle der beteiligten Mitarbeiter*innen ihren Forschungsanteil präsentieren zu lassen, hat der Band deutliche Längen – was sich nicht zuletzt am Umfang von 620 Seiten festmachen lässt. Inhaltlich liegt dies vor allem daran, dass sich zwischen den verschiedenen Ebenen bei allen Unterschieden auch deutliche Ähnlichkeiten ausmachen lassen – was ja wiederum ein Befund für sich ist. Es zeigt sich, dass die Europaideen, die in diesen Filmen vermittelt wurden, erstaunlich ähnlich sind, egal ob wir auf die europäische, die nationale, die politische oder die privat-lobbyistische Ebene schauen. Der prägnant durch Gabriele Clemens zusammengefasste Schluss bündelt diese Aspekte. So finden sich in vielen Filmen Bezüge auf ein vorgeblich gemeinsam-kulturelles Erbe Europas in Antike und Mittelalter. Bilder von antiken Ruinen, von Schlössern und Kunstwerken illustrieren dieses gemeinsame Erbe. Solche Darstellungen waren oft verbunden mit teleologischen Geschichtsdarstellungen, die die Nationalstaatsbildungsprozesse der frühen Neuzeit als „Sündenfall“ Europas betrachteten. Geläutert durch den Zweiten Weltkrieg sei Europa in den fünfziger Jahren mit der europäischen Integration zu seiner wahren Bestimmung zurückgekehrt. Als Leitmotiv gilt oft der Verweis auf Wohlstand, wirtschaftliche Prosperität und Konsum auf der einen, Frieden und Glück auf der anderen Seite. Filmisch inszeniert durch Autos, Züge und Flugzeuge, immer in Bewegung, durch Fabriken und moderne Bauten suggerierten diese Szenen den wirtschaftlichen Wideraufstieg Europas – gerade in Kontrast mit den Aufnahmen von Ruinen, frierenden Menschen und Flüchtlingsströmen, die das Elend des Zweiten Weltkriegs symbolisierten, oder in antikommunistischer Abgrenzung vom „Osten“ als sowjetischer Einflusssphäre. Ein überwiegend positives und optimistisches Zukunftsbild wurde hier gezeichnet, allein noch gestört durch den Bösewicht fast aller Europafilme: den „als bürokratisch, willkürlich und despotisch gezeichneten“ Zöllner und Grenzbeamten (538), der eifersüchtig über seine zum Symbol der Vergangenheit stilisierten Grenzen und Schlagbäume wacht. Die Jugend hingegen wurde in diesen Filmen als Träger dieses Europagedankens inszeniert, wobei auch die berühmte „Grenzbaum“-Aktion in St. Germanhof 1950 wiederholt in den Fokus der Analyse geriet. Die Autoren zeigen, dass diese Aktionen keinesfalls so spontan abliefen wie der sich darum rankende Mythos es glauben machen wollte. Überhaupt kommt der Band zu dem Befund, dass die Rolle der Europabegeisterten „der Jugend von Auftraggebern und Filmemachern größtenteils […] nur angedichtet“ worden sei (539).

Ein solches, vor allem am Wohlstandsversprechen ausgerichtetes Europabild, das Bezug nahm auf gemeinsame Werte und eine gemeinsame Geschichte, war spätestens Mitte der 1950er Jahre im Europadiskurs dominant, das hat die Forschung schon seit geraumer Zeit herausgearbeitet. Was diesem Band jedoch gelingt, wurde bisher in dieser Weise kaum geleistet: zu verdeutlichen, wie ähnlich sich die Europadiskurse in den verschiedenen Ländern Westeuropas und auch auf der europäischen Ebene waren. Obwohl es natürlich auch Unterschiede gab – so verwiesen Europafilme der Bundesrepublik häufig auf das „Wir sind wieder wer“, französische Europafilme arbeiteten sich vor allem am deutsch-französischen Verhältnis ab und italienische Produktionen zeigten eine, in Produktionen anderer Länder so nicht zu findende, Orientierung an einem politisch integrierten Europa auf – so überrascht bei der Lektüre immer wieder, wie ähnlich sich die Filme offenbar in ihren Grundaussagen, den verwendeten Bildern und Botschaften letztlich doch waren. Dies weist auf eine europäische Identität hin, die die Filme zwar eigentlich erst herstellen wollten, die aber ganz offensichtlich bei den verantwortlichen Filmschaffenden und Auftraggebern sowohl auf europäischer wie auch auf verschiedenen nationalen Ebenen bereits vorhanden war. Dies und die Tatsache, dass hier ein bisher völlig vernachlässigter Quellenbestand erschlossen wurde, macht das besprochene Werk, trotz gewisser Längen und Redundanzen, so interessant, wichtig und weiterführend.