Aktuelle Rezensionen
Christoph Baumann
Idyllische Ländlichkeit. Eine Kulturgeographie der Landlust
(Rurale Topografien 6), Bielefeld 2018, transcript, 266 Seiten mit 12 Abbildungen, 11 Tabellen, ISBN 978-3-8394-4333-6Rezensiert von Anja Decker
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 31.07.2020
In der Europäischen Ethnologie/Kulturanthropologie ist in den letzten Jahren ein wieder erstarkter Bedarf an einer grundlegenden Auseinandersetzung mit den Kategorien ‚Land‘ und ‚Ländlichkeit‘ zu beobachten, der mit der Einrichtung der Kommission ‚Kulturanalyse des Ländlichen‘ in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e.V. unlängst ein neues Forum für diese Debatte gefunden hat. Diese Entwicklung vollzieht sich parallel und in kritischer Bezugnahme auf die Konjunktur des ‚Ländlichen‘ in anderen gesellschaftlichen Feldern. Sei es beispielsweise in der Unterhaltungsindustrie, der Nahrungsmittelbranche, dem Tourismus oder auch der städtebaulichen Praxis und regionalen Entwicklung – die vielfältigen hier vollzogenen Ausdeutungen und Aktualisierungen von ‚Ländlichkeit‘ zeigen, dass ‚Land‘/‚ländlich‘ trotz aller empirischen Uneindeutigkeiten wirkmächtige Ordnungskategorien sind, die Ein- und Ausschlüsse produzieren, Mobilitäten, Räume und Märkte prägen und sich je nach Kontext immer wieder anders artikulieren.
Mit seinem Fokus auf die ‚idyllische Ländlichkeit‘ wendet sich der Kulturgeograf Christoph Baumann vor diesem Hintergrund in seiner gleichnamigen Dissertation einer „spezifische[n] diskursive[n] Konfiguration des Ländlichen“ (65) zu, die eine erstaunliche Persistenz in der westlichen Gesellschaft aufweist. Angeregt durch den spektakulären Publikumserfolg der Zeitschrift „Landlust“ mit zeitweise einer Million verkaufter Exemplare pro Ausgabe, geht es Baumann darum zu verstehen, wie sich das ‚Idyllische‘ kontextabhängig konstituiert (22). Sein theoretischer Zugang folgt hierbei einer sozialkonstruktivistischen Perspektive und bringt diese mit dem differenztheoretischen Ansatz von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe zusammen (Kapitel 2 und 3). Idyllische Ländlichkeit, so lässt sich der Kern seiner theoretischen Überlegungen knapp zusammenfassen, ist sozial hergestellt, relational und dynamisch zugleich. Sie manifestiert sich, indem sie „Äquivalenz- und Differenzverhältnisse“ (22) mit anderen Konzepten und Begriffen eingeht, die ebenfalls immer wieder neue Rahmungen und Bezüge erfahren. Dabei formiert und entfaltet sich ‚Idylle‘ nicht allein auf der Ebene der Repräsentation, denn „[a]ls ein soziales Phänomen artikuliert sich das Idyllische sowohl in literarischen Texten, Gemälden oder politischen Manifesten als auch in Selbstverhältnissen, körperlichen Praktiken und materiellen Arrangements“ (65).
Sein Modell wendet Baumann zunächst auf eine historische Betrachtung positiver Rahmungen von Ländlichkeit an (Kapitel 4). Über eine chronologisch geordnete Auseinandersetzung mit einer Fülle von Fallbeispielen, die in erster Linie aus dem deutschsprachigen Kontext stammen, wird sichtbar, wie (ländliche) Idylle von der Antike bis in die Gegenwart eine zentrale Figur im westlichen Denken darstellt und wie im Dialog mit anderen Signifikanten, etwa ‚Natur‘, ‚Stadt‘ oder ‚Heimat‘, diverse Varianten idyllischer Ländlichkeit entstehen. Zwar ist bedauerlich, dass Baumann auf eine Erläuterung der Kriterien für die Auswahl der Fallbeispiele verzichtet. Dennoch liefert er aufschlussreiche historische Kontrastpunkte für die Einordnung aktueller Aufwertungen des Ländlichen und damit auch für die detaillierte Studie der Zeitschrift „Landlust“, der sich Baumann in der zweiten Hälfte des Buches zuwendet.
Mit ihrem überraschenden und andauernden Erfolg ist die „Landlust“ das kommerziell erfolgreichste Modell sogenannter ‚Landzeitschriften‘, die sich in den letzten zehn Jahren zu einem eigenen Genre auf dem deutschsprachigen Printmarkt entwickelt haben. Gegliedert in die Sektionen „Im Garten“, „In der Küche“, „Landleben“, „Ländlich Wohnen“ und „Natur erleben“ und versehen mit großformatigen Fotografien möchte sich das Magazin den „schönsten Seiten des Landlebens“ zuwenden, so der frühere Untertitel der Zeitschrift. Bemerkenswert ist hierbei, dass die „Landlust“ nicht etwa von einem auf Lifestylemagazine spezialisierten Verlag herausgegeben wird, sondern vom Landwirtschaftsverlag Münster verantwortet wird, einem Agrarfachverlag, der mit der Entwicklung der Zeitschrift erstmals das Feld der Fachpublizistik verließ. Damit steht das mediale Produkt „Landlust“ auch für die Strategie landwirtschaftlicher Akteur*innen, sich vor dem Hintergrund einer sich transformierenden Landwirtschaft über eine Kommodifizierung von Ländlichkeit neue Märkte und Zielgruppen zu erschließen (156‑158). Die Parallelen zu Entwicklungen im Tourismus- und Lebensmittelsektor sind augenscheinlich, man denke etwa an die Einrichtung von Erlebnishöfen, Landmärkten, Selbstpflückmöglichkeiten und agrartouristischen Angeboten (ehemaliger) landwirtschaftlicher Betriebe.
Aus kulturanthropologischer Perspektive gelesen, bietet Baumanns facettenreiche Untersuchung des Magazins (Kapitel 5 und 6) zunächst einmal methodische Anregungen für den analytischen Zugang zu „medialisierter, idyllischer Ländlichkeit“ (117). Um herauszuarbeiten, über welche Bezüge und Abgrenzungen sich im Kontext der „Landlust“ ländliche Idylle artikuliert, bezieht er neben einer Jahresausgabe des Magazins auch die Ebenen von Produktion und Rezeption ein. Für diese multiperspektivische Untersuchung der „Landlust“ als „aktuelle Variation idyllischer Ländlichkeit“ (133) blieb Baumann zwar der direkte Zugang zu den Produzent*innen der Inhalte verwehrt. Um dennoch Einblicke in die Selbstbilder und Produktionslogiken zu erhalten, konnte er sich die Tendenz der Medienbranche zur medialisierten Selbstbeobachtung zunutze machen. Denn angesichts des generellen Rückgangs der Auflagenzahlen von Printmedien stellte der publizistische Erfolg der „Landlust“ selbst ein Ereignis von Nachrichtenwert dar, über das vor allem in journalistischen Fachorganen berichtet wurde, woraus der Autor Rückschlüsse auf den Produktionskontext ziehen konnte. Zur Annäherung an die Rezeptionsweisen der Zeitschrift führte Baumann elf leitfadengestützte Interviews mit Leser*innen, in denen er unter anderem mit dem Mittel einer gemeinsamen reflektierenden Lektüre des Magazins arbeitete.
Indem er sein Material einer differenztheoretischen Analyse unterzieht und diese vergleichend ins Verhältnis setzt zu der zuvor ausgearbeiteten historischen Analyse, schält Baumann schrittweise die diskursive Logik der „Landlust“ heraus. In dem medialen Produkt „Landlust“, so seine stringent und dicht am Material herausgearbeitete Argumentation, artikuliere sich der Aufruf, sein Leben idyllisch zu gestalten. Leitprinzipien dieses „Imperativ[s] der idyllischen Lebensweise“ (203) seien insbesondere eine Zuwendung zum Privaten und zum Ästhetischen, zu einem aktiven Leben, das zyklisch nach den Jahreszeiten ausgerichtet ist und Geschichte wertschätze. Zum Ausdruck kommt dies etwa in der saisonalen Aktualität der Inhalte, dem wiederkehrenden Motiv der arbeitenden Hände sowie der Fokussierung auf sinnliches Erleben, tradiertes Wissen, Kernfamilie und private Gärten. Weitestgehend ausgeklammert werden dagegen Referenzen auf Tagesaktualität, Zweckrationalität, Digitalisierung sowie Foren gesellschaftlichen Austausches und Konflikts. In dieser Hinsicht könne das Magazin als ein „Wahrnehmungsmanual“ (186) und ein „Manual der alltäglichen Idyllisierung“ (155) zugleich gedeutet werden, das von den von Baumann befragten Personen in zwei eng verkoppelten Modi rezipiert werde, dem „Modus des erholenden Wegträumens“ (165) und dem „Modus der praktischen Inspiration“ (165). Seine Gesprächspartner*innen setzten die Anrufungen des Heftes in positiven und engen Bezug zu ihrer eigenen (angestrebten) Lebensgestaltung und verstanden das Magazin als Bestätigung und Ideengeber für ihre diesbezüglichen Bemühungen. Das Sprechen über die „Landlust“ motivierte sie, Baumann zum Rundgang durch ihre Gärten einzuladen oder Bezug auf Objekte und Praxen zu nehmen, mittels derer sie ihr Leben und ihre unmittelbare Umwelt idyllisch gestalten. Den Akt des Lesens der „Landlust“ selbst stellten sie mitunter als ein meditatives Erlebnis dar, bei dem sie in einen Rückzugsraum eintauchen würden, den sie – etwa durch die Wahl eines privaten Leseortes und störungssicheren Zeitfensters für die Lektüre – selbst miterzeugen. Damit, so argumentiert Baumann unter Rückgriff auf Michel Foucault, werde die Rezeption des Hefts selbst zu einer Idyllisierungshandlung und damit Teil einer Subjektivierungspraxis, die sich nicht im Utopischen, sondern in heterotopen Räumen entfaltet (169). Denn der sich in der „Landlust“ artikulierende Imperativ einer Idyllisierung des (privaten) Lebens ziele eben gerade nicht auf eine allumfassende Transformation gesellschaftlicher Ordnung, sondern sei „vielmehr eine Aus-Zeit und ein Aus-Ort, eine individuelle Nische, die als temporäre und begrenzte Gegenplatzierung ihren Platz in dieser Welt hat“ (206 f.). Angesichts der politischen Dimension, die hier zum Ausdruck kommt und von Baumann zumindest kurz diskutiert wird (210), wäre es wünschenswert gewesen, die soziale Positionierung der Interviewpartner*innen bei der Diskussion des Materials reflexiv einzubeziehen. Dass sich praktisch keine Gegenstimmen oder Praxen des widerständigen Lesens in seinem besprochenen Material finden lassen, mag eben auch an dem Baumann zugänglichen Ausschnitt aus dem Kreis der Rezipient*innen liegen, die bis auf wenige Ausnahmen formal hoch gebildet waren. Entsprechend drängt sich die Frage auf, ob die Analyse nicht noch weiteres gesellschaftsanalytisches Potential entfaltet hätte, wenn auch die Perspektive weniger privilegierter Leser*innen einbezogen worden wäre. Der Methodenteil lässt offen, ob es entsprechende Überlegungen gab und aus welchen Gründen sich Baumann gegen diese Forschungsstrategie entschieden hat. Entsprechend macht die Lektüre der Dissertation neugierig auf weiterführende Studien, etwa zur Mitgestaltung und Rezeption medialisierter (idyllischer) Ländlichkeit jenseits des bildungsbürgerlichen Milieus oder auch zu anderen Feldern der Kommodifizierung von Ländlichkeit und ihren inhärenten Anrufungen. Hierfür legt Baumanns Dissertation ein überzeugendes theoretisches und analytisches Instrumentarium vor.