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Victoria Huszka
Rent a Grandma: aktivierte Alterskraft. Großelterliche Gefühle und Fürsorge im Spiegel der Debatten um (Selbst-)Verantwortung im Alter
(Münchner ethnographische Schriften 26), München 2017, Utz, 112 Seiten, ISBN 978-3-8316-4609-8Rezensiert von Thilo Eggerbauer
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 31.07.2020
Wenn Senior*innen für die Kinder fremder Familien die Großelternrolle übernehmen sollen, ist zunächst einiges unklar: Welche Konflikte können auftreten? Welche Nähe bzw. Distanz ist angemessen? Und wie steht es mit der Bezahlung? „Leihgroßelternschaft“ nennt sich dieses Phänomen, über das seit einigen Jahren immer wieder in der Presse berichtet wird. In den Kulturwissenschaften hingegen fand es bis jetzt kaum Beachtung. In der vorliegenden Monografie, die auf einer Magisterarbeit am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München beruht, beschäftigt sich nun Victoria Huszka mit diesem Thema. Über einen Aushang in einem Kindergarten stieß die Autorin zufällig auf das Phänomen, woraufhin sie „mit nahezu jeder Vermittlungsstelle und jeder annoncierten Leihgroßelternschaft in der Region Kontakt aufzunehmen und Gespräche zu führen“ versuchte (41). Diese Bemühungen hatten qualitative Interviews mit neun sogenannten Leihgroßeltern zum Ergebnis, fünf davon wertete Huszka vor dem Hintergrund folgender Forschungsfragen aus: Was ist Leihgroßelternschaft? Wie ist bzw. wird diese konstruiert? Welche Rolle kommt dabei dem „Geben“ zu? „Geben“ identifiziert Huszka einleitend als einen wiederkehrenden Begriff in Diskursen um das „Ideal der Großelternschaft“ und „Fürsorgearbeit“ im Allgemeinen (33). Die Autorin erarbeitet zunächst den bisherigen Forschungsstand und ordnet das Phänomen der Leihgroßelternschaft in entsprechende kultur- und sozialwissenschaftliche Debatten ein. Wie sie aufzeigt, genießt das Phänomen große mediale Aufmerksamkeit und ist seit längerem vor allem im Bereich der Sozialen Arbeit ein Untersuchungsgegenstand. Dabei werde sowohl in der medialen Öffentlichkeit als auch in der bisherigen Forschung die leihgroßelterliche Beziehung „mit dem Verlust traditioneller familiärer Strukturen, die mit Werten wie Verlässlichkeit, Solidarität und Nachbarschaft verknüpft werden“, begründet (11). Tatsächlich ist eine positive Bewertung der Großeltern im öffentlichen Meinungsfeld aber relativ neu, wie Huszka anhand der bisherigen Großelternforschung aufzeigt. Das Bild der unterstützenden Großelterngeneration habe es erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Folge der Intensivierung intergenerationeller Beziehungen gegeben. Zuvor habe diese Generation eher als Fürsorgeempfänger gegolten. In den heutigen Diskursen um Fürsorgearbeit und ehrenamtliches Engagement von Senior*innen spiele das Motiv des „Gebens“ aber eine zentrale Rolle (33).
Bevor Huszka ihre Ergebnisse darstellt, fasst sie die geführten Interviews zusammen und ordnet sie nach Themenbereichen. Dabei werden zahlreiche Interviewauszüge zur Veranschaulichung herangezogen, sodass die Interviewpartner*innen selbst zum Sprechen kommen. Deutlich werden hier die unterschiedlichen Erwartungen, die diese an ihre Rolle als Leihgroßeltern stellen. Üben sie beispielsweise die Tätigkeit aus, um etwas zu verdienen, oder machen sie die Arbeit ehrenamtlich? Wie stehen sie zu den Kindern, die sie betreuen? Als Beispiel sollen hier die Aussagen einer 75-jährigen Leihgroßmutter herangezogen werden. Diese betreut, erzählte sie Huszka, ihren Leihenkel schon, seit er ein Baby war. Die Beziehung zu seinen Eltern sei schwierig, doch wolle sie die Betreuung nicht aufgeben, weil sie sehr an dem Jungen hänge. Sogar mütterliche Gefühle beschreibt sie. Anfangs sei sie für ihre Tätigkeit noch bezahlt worden. Nachdem sie dann aber immer weiter heruntergehandelt worden sei, bekomme sie jetzt lediglich eine Aufwandsentschädigung.
In den ersten Kapiteln kann die Autorin darstellen, wie „[d]ie Rolle der Leihgroßelternschaft eine mehrfache Zuschreibung erfährt“ (39). „Demnach handelt es sich um eine familiär konnotierte Fürsorgetätigkeit, die gesellschaftlich mit geschlechterspezifischen Charakterisierungen einhergeht und dementsprechend bewertet wird.“ (39) In der Analyse gelingt es Huszka dann aufzuzeigen, dass die „Praktiken des Gebens“, die in die „Figur der Großeltern [...] diskursiv eingeschrieben werden, auch in der Konstruktion der Leihgroßelternschaft“ präsent sind (84). Allerdings haben die „Idealisierungen der Großelternschaft“ bei der Konstruktion der Leihgroßelternschaft Grenzen. Denn während sich Großelternschaft „primär aus dem Verhältnis zu einem Enkelkind“ konstituiert, wird „Leihgroßelternschaft durch die Betreuung eines Kindes, also durch die ‚Fürsorge‘ für ein Kind [...] charakterisiert“ (82). Darüber hinaus zeigt die Analyse, dass emotionale Ursachen wie „Enttäuschung hinsichtlich familiärer Vorstellungen“ (98) zentrale Faktoren für eine Aufnahme einer Tätigkeit als Leihgroßmutter oder -vater sind und auch deren Gestaltung und Interpretation beeinflussen. Eine andere Interviewpartnerin, 66 Jahre alt, habe zum Beispiel auf dem Wege der Leihgroßelternschaft Familienanschluss gesucht, weil sie selbst kinderlos ist.
Durch ihre explorative Analyse der „Leihgroßelternschaft“ gelingt es Victoria Huszka ein interessantes Thema in seiner Breite darzustellen und für anschließende Forschungen fruchtbar zu machen. Dafür könnte beispielsweise die Perspektive der „Leihfamilien“ mithilfe einer teilnehmenden Beobachtung untersucht werden. Auch genderspezifische Unterschiede in der Interpretation der Tätigkeit als Leihoma oder Leihopa wären eine Analyse wert. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Huszka nachvollziehbar argumentiert und die in der Arbeit gestellten Fragen schlüssig beantwortet. Die Arbeit ist nicht nur für in der Großeltern- und Altersforschung Tätige interessant, die gut strukturierte Arbeitsweise macht die Lektüre mit Blick auf die eigene Abschlussarbeit auch für Studierende gewinnbringend.