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Arnika Peselmann

Konstituierung einer Kulturlandschaft. Praktiken des Kulturerbens im deutsch-tschechischen Erzgebirge

(Göttinger Studien zu Cultural Property 14), Göttingen 2018, Universitätsverlag, 324 Seiten mit 3 Abbildungen, ISBN 978-3-86395-376-8
Rezensiert von Henrik Schwanitz
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 07.08.2020

„Wir sind Welterbe“ – mit diesem Slogan wurde im Juli 2019 in Zeitungen, auf Plakaten und Werbebannern, in sozialen Medien, aber auch in Form von Flashmobs (z. B. in Marienberg im Erzgebirge) die Ernennung der „Montanen Kulturlandschaft Erzgebirge/Krušnohoří“ zum Weltkulturerbe gefeiert. Am 6. Juli hatte die UNESCO in Baku diese Entscheidung gefällt und damit einen 20 Jahre andauernden Prozess zu einem erfolgreichen Ende gebracht.

Eben jener Bewerbung um den Weltkulturerbe-Titel hat sich Arnika Peselmann in ihrer 2018 erschienenen Dissertation gewidmet, die im Rahmen einer DFG-geförderten Forschergruppe zum Thema „Die Konstituierung von Cultural Property. Akteure, Diskurse, Kontexte, Regeln“ (2008‑2014) entstand und mit der sie 2016 an der Georg-August-Universität in Göttingen promoviert wurde. Im Fokus ihrer Studie stehen dabei „Praktiken des Erbens“ (17), genauer des Kulturerbens. Kulturerbe definiert sie als „translokales Phänomen mit global verteilten Bezugspunkten“, das sich an konkreten Orten verdichtet und in zwischenmenschlichen und Mensch-Materie-Interaktionen sichtbar wird (17).

Der Untersuchungsraum ist das Erzgebirge, wobei sich die Autorin nicht nur auf den sächsischen Teil konzentriert, sondern auch auf den böhmischen Teil, der viel weniger als Erzgebirge wahrgenommen wird. Dies hängt vor allem mit dem Kontinuitätsbruch der dort lebenden Bevölkerung nach 1945 zusammen. Mit dem Erzgebirge wird eine interessante und vielseitige Kulturlandschaft in den Blick genommen, die von verschiedenen Erzählungen geprägt ist: Weihnachtsland, Bergbauregion, aber auch – auf tschechischer Seite – Landschaft der verschwundenen Orte. Der Fokus auf die Kulturlandschaft und ihre Genese bedingt, dass die Studie einen Schwerpunkt in landschafts- und raumtheoretischen Fragen hat. Die Praktiken des Erbens stehen zwar im Vordergrund, sie dienen aber der Analyse landschafts- bzw. raumkonstituierender Prozesse, der Frage also, wie sich der Bewerbungsprozess auf die „erzgebirgischen Raumstrukturen“ (17) auswirkte. In der Betonung der „Gemachtheit“ von Kulturlandschaft schließt die Autorin vor allem an die konstruktivistische Raumtheorie Martina Löws (Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001) an (44 ff.).

Einen dritten wichtigen methodisch-theoretischen Anker der Studie bildet der Fokus auf die verschiedenen an der Debatte beteiligten Akteurinnen und Akteure. Die UNESCO, Expertinnen und Experten, Politikerinnen und Politiker sowie die lokale Bevölkerung, aber auch Orte und Objekte versteht die Autorin dabei als Bestandteile eines Netzwerks, das sie mittels der „Akteur-Netzwerk-Theorie“ untersucht, die die Rekonstruktion von Konstituierungsprozessen ermöglicht (36).

Zentral für die Gliederung der Arbeit ist die Unterteilung kollektiver Erbpraktiken in drei Modi: 1. Erbe verteidigen, 2. Erbe teilen sowie 3. Erbe annehmen. Diese drei Modi des Erbens werden anhand von fünf „Stationen“ ausgearbeitet, die jeweils an andere Orte des sächsisch-böhmischen Erzgebirges führen und jeweils andere Aspekte des Umgangs mit dem Kulturerbe sowie mit der Konstituierung von Kulturlandschaft thematisieren.

Die erste Station, die sich dem Thema „Erbe verteidigen“ widmet, führt in das „Spielzeugdorf“ Seiffen. Im Fokus des Kapitels steht die „erzgebirgische Volkskunst“, die konstitutiv für das Selbstbild vieler Bewohnerinnen und Bewohner des Erzgebirges ist und nach außen hin (in diesem Fall gegen chinesische Nachahmer) verteidigt wird (52 ff.). Die Volkskunst aus dem Erzgebirge gewinnt so einen hohen Wert für die Konstruktion von Identität, da sie als etwas Raumgebundenes verstanden wird, zugleich wird Produkten von außerhalb die „Echtheit“, ja die Existenzberechtigung, abgesprochen (62 f.). Andererseits wird Erbe aber auch geteilt, was die Autorin an neu entstandenen deutsch-tschechischen Verflechtungen zeigt, die sich durch Projekte zur Wiederbelebung der Volkskunst im böhmischen Erzgebirge ergeben haben. Ergebnis dieses Prozesses ist etwa das zweisprachige Web-Portal „Das sächsisch-böhmische Spielzeuggebiet im mittleren Erzgebirge“ (67).

Der Modus „Erbe teilen“ bildet gewissermaßen den Hauptteil der Arbeit, was schon daran zu erkennen ist, dass er drei Stationen umfasst. Hierbei reist man mit der Autorin zunächst nach Freiberg, dem Zentrum der Arbeit für den UNESCO-Antrag, dem „Kulturerbelabor“ (88). Im Fokus stehen hier die Expertinnen und Experten, die als „Heritage Professionals“ (84) die Kulturerbe-Debatte prägen und forcieren. Man hat das Gefühl, mit der Autorin diesen Expertinnen und Experten über die Schultern schauen zu können, wenn sie sich am Nominierungsdossier der UNESCO abarbeiten, potenzielle Denkmäler in Listen aufnehmen, klassifizieren und schlussendlich für den Wettbewerb nominieren. Peselmann spricht dabei bewusst vom „Engineering“ (95), das durch die Antragsformalitäten der UNESCO bedingt ist. Dies führt dazu, dass die beworbene Kulturlandschaft als eine inszenierte „Montage“ (97) erscheint, hergestellt und geordnet durch die Antragsteller, die aus dem Erzgebirge eine Kulturlandschaft formten, die kulturerbewürdig ist. Dabei zeigt die Autorin überzeugend, dass dies kein von oben nach unten geführter Prozess ist, sondern vielmehr als Ergebnis der Aushandlungsprozesse mit regionalen und lokalen Akteurinnen und Akteuren zu verstehen ist, die ganz entscheidende Träger der Bewerbung sind. Die Bedeutung lokaler Akteurinnen und Akteure, aber auch das bisweilen schwierige Verhältnis von lokaler Erinnerungskultur und globaler Erbepraktik zeigt die Autorin am Beispiel des ehemaligen Uranbergbaugebietes Bad Schlema. Insbesondere in diesem Kapitel werden Formen von Konsens und Konflikt, von Zustimmung und Ablehnung herausgearbeitet (173 ff.).

Auch die vierte Station widmet sich dem „Erbe teilen“ und führt nun erstmalig auf die böhmische Seite des Mittelgebirges nach Ústí nad Labem. Hier, so zeigt die Autorin, hatte die Projektgruppe mit gänzlich anderen Voraussetzungen zu kämpfen als auf deutscher Seite. Denn die Region, die Gebiete umfasst, die ehemals als „Sudetenland“ bezeichnet wurden, gilt in der Tschechischen Republik als vernachlässigte Region mit sozio-kulturellen Problem- und Konfliktlagen. „Vertreibung und Neuansiedlung“ nach 1945 haben dazu geführt, dass – anders als auf sächsischer Seite – ein erzgebirgisches Heimatbewusstsein fehlt, auf das aufgebaut werden kann (187). In den Fokus der Untersuchung rücken somit die Strategien, mit denen man für das Welterbe-Unternehmen warb, und die eingebundenen Akteurinnen und Akteure. Zentral ist dabei die Erkenntnis, dass die Kulturerbe-Debatte genutzt wurde, um neue Identitätsangebote zu schaffen (190). Voraussetzung war eine Sensibilisierung der Bewohner für die Kulturlandschaft und ihre Geschichte. Die Leistung der dort wirkenden Kulturerbe-Gruppe war es, aufbauend auf einem lokalen Netzwerk und intensiver Lobbyarbeit, einer peripheren Region der Tschechischen Republik, deren Denkmalwert zuvor nicht erkannt worden war, eine Stimme gegeben zu haben. Indem „Erbe geteilt“ wurde, konnten es die dortigen Bewohnerinnen und Bewohner sowie die Entscheidungsträger annehmen.

Diese Ergebnisse leiten zur letzten Station über, die sich dem Modus „Erbe annehmen“ widmet. Sie führt in das sächsisch-böhmische Grenzgebiet, in den einstigen Ort Königsmühle, der nach 1945 von seinen Bewohnern verlassen wurde und dann in Vergessenheit geriet. Die Ruinen der hinterlassenen Gebäude können als Spuren der Geschichte, konkret der Vertreibung der deutschen Bevölkerung, gelesen werden (241 ff.). In jüngerer Zeit, dies zeigt die Autorin, gibt es Initiativen, diesen Raum mit Sinn zu füllen und auf kreative Art und Weise eine Gedenklandschaft aufzubauen. Das Beispiel des „Land-and-Art-Festivals“ in Königsmühle dient hier dazu, den Umgang mit dem „landschaftlichen Erbe“ zu verdeutlichen (249 ff.). Man könnte noch weitergehen und in Anlehnung an Pierre Nora sogar von der Konstituierung einer Erinnerungslandschaft sprechen (s. auch Simon Schama: Landscape and Memory. New York 1995).

Das Resümee der Arbeit fasst die Ergebnisse der theoretischen und empirischen Befunde zusammen, wobei hier und da eine stärkere Pointierung wünschenswert gewesen wäre. Abseits wichtiger wissenschaftlicher Erkenntnisse ist besonders die Sprache der Autorin positiv hervorzuheben, die nicht nur die empirischen Ergebnisse klar verständlich macht. Vielmehr hat die Studie gerade dort ihre besonderen Momente, wo die Darstellungen derart bildhaft sind, dass man sich gleichsam mit der Autorin auf Feldforschung in die Orte im deutsch-tschechischen Erzgebirge begibt und die beschriebenen Eindrücke klar vor Augen sieht. Der Verständlichkeit dienen auch die einzelnen Zwischenfazits, eine ungemeine Hilfestellung. Ein einziges Manko in diesem Bereich kann darin gesehen werden, dass bisweilen die Einstiege in die empirischen Kapitel etwas ‚theorielastig‘ geraten sind.

Die Arbeit bewertet letztendlich den Welterbetitel für die „Montane Kulturlandschaft Erzgebirge/Krušnohoří“ als Gewinn. Als Studie setzt sie Maßstäbe für weitere Untersuchungen, die sich wissenschaftlich mit der Genese einer Bewerbung, mit den Akteurinnen und Akteuren sowie mit den von ihnen transportierten, konzipierten und konstruierten Erinnerungs- und Landschaftsbildern beschäftigen möchten. An diesem eindrücklichen Beispiel bietet sie Erkenntnisse über die Formen und Praktiken einerseits des Kulturerbens, andererseits vor allem der Konstituierung von Kulturlandschaft in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart. Die Dissertation von Arnika Peselmann ist eine sowohl sprachlich als auch wissenschaftlich äußerst beachtenswerte Studie, der viele Leserinnen und Leser gewünscht seien!