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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Katrin Bauer/Andrea Graf (Hg.)

Erfinden – Empfinden – Auffinden. Das Rheinland oder die (Re-)Konstruktion des Regionalen im globalisierten Alltag. 10. Jahrestagung der Bonner Gesellschaft für Volkskunde und Kulturwissenschaften e. V.

(Bonner Beiträge zur Alltagskulturforschung 12), Münster/New York 2018, Waxmann, 195 Seiten mit 12 Farbabbildungen, ISBN 978-3-8309-3676-3
Rezensiert von Sarah Scholl-Schneider
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 14.08.2020

Region ist weder etwas Gegebenes noch exakt Abgemessenes, sondern vielmehr ein Handlungs- und Aushandlungsraum, in dem sich Interessen und Zugehörigkeiten überschneiden, gegenseitig beeinflussen und stetigem Wandel unterliegen. Ob also in dia- oder synchroner Weise, wissenschaftliche Zugriffe auf Regionen vermögen immer nur Facetten derselben zu beleuchten. Umso aufschlussreicher ist es, wie unser Fach, das im Bereich der regionalen Kulturanalyse über eine inzwischen umfangreiche Wissenstradition sowie eigene spezifische Zugänge verfügt, dieses Wissen kontinuierlich erweitert. Welche Facetten werden je nach Anlass in den Blick genommen? Und auf welche Weise wird dies getan?

Den Anlass des vorliegenden Sammelbandes stellten zwei Jubiläen im Jahr 2015 dar: 200 Jahre Wiener Kongress (und damit Gründung der preußischen „Rheinprovinz“) sowie der erste runde Geburtstag der Bonner Gesellschaft für Volkskunde und Kulturwissenschaften, die 2005 gegründet worden war. Entsprechend stammen viele der Beiträge aus dem engeren Kreis der Gesellschaft, die durch den dem Band vorangestellten Text von Carsten Vorwig in ihrer Entwicklung skizziert wird. Die zwei Gedankenstriche bereits im Titel des Bandes, vor allem aber die zahlreichen Bindestriche (Nordrhein-Westfalen, Ostwestfalen-Lippe, Jülich-Berg-Ravensberg etc.), die es braucht, um die vielen Bestandteile des Gegenstands „Rheinland“ sprachlich zu fassen, zeigen auf, wie schwierig es war und ist, dem Thema Region wie auch der spezifischen Region Rheinland gerecht zu werden. Mit der kompromisslosen Anerkennung des (Re-)Konstruktionscharakters eines solchen Vorhabens, das die beiden Herausgeberinnen in ihrer Einleitung klar verdeutlichen, ergibt die Mischung dia- und synchroner Zugänge sowie teils sehr unterschiedlicher thematischer Zugriffe Sinn: Der „Imaginationsraum Rheinland“ kann so in seinen historischen, politischen, alltagskulturellen und emotionalen Bezügen untersucht werden (9). Die drei im Titel genannten Dimensionen ‚Erfinden‘, ‚Empfinden‘ und ‚Auffinden‘, die die vier Bezüge subsummieren, sind im Band selbst noch um eine weitere Dimension erweitert, nämlich die der symbolischen Sinnproduktion von Region durch das ‚Ausstellen‘.

Die „Konstruktion einer Region im 19. Jahrhundert“ wird durch den Historiker Georg Mölich instruktiv und konzise offengelegt. Ein Beitrag, der als Überblick gedacht ist, stellt für eine Tagung in mündlicher Form durchaus eine kreative, aber für die schriftliche Fassung meist keine allzu dankbare Aufgabe dar. Umso erstaunlicher ist es, wie es Mölich auf wenigen Seiten gelingt, diesen Überblick unter Einbezug ausgewählter Quellen (vor allem Amtsblätter) nicht nur umfassend, sondern auch lebendig und damit Neugier weckend zu liefern. Stehen bei ihm die preußisch-rheinischen Differenzen im Mittelpunkt, so werden im anschließenden Beitrag von Karlheinz Wiegmann konfessionelle Differenzen zum Thema gemacht. Am Beispiel Mönchengladbachs skizziert er anhand von 300 Jahren Konfessionsgeschichte, „Warum der ‚Niederrhein‘ nie katholisch wurde“. ‚Erfinden‘ lässt sich eine Region schließlich auch durch ihre Thematisierung in unterschiedlichen institutionellen Kontexten. Exemplarisch beleuchtet Lina Franken diesen Prozess im Bereich der schulischen Bildung. Sie geht der Frage nach, ob das Rheinland „in der Schule erfunden, empfunden oder aufgefunden“ wird (58). Die Ergebnisse, die auf im Rahmen ihrer Dissertation getätigten Forschungen beruhen, deuten weniger darauf hin, dass die Region – abgesehen von Ausnahmen und abhängig von der individuellen Motivation der Lehrenden – intensiv zu exemplarischen Zwecken genutzt wird, sondern zeigen vor allem das immense Potenzial eines Regionalbezugs im Unterricht auf.

Zwei Beiträge sind dem Bereich des ‚Empfindens‘ zugeordnet. Gemeinsam ist ihnen das Thematisieren von Selbstverortungen und Zuschreibungen, wenngleich es um sehr unterschiedliche Beispiele bzw. Akteurinnen und Akteure geht. David Johannes Berchem stellt Ideen für ein Projekt vor, das der „transnationalen Verfasstheit des [Bonner] Stadtteils Bad Godesberg“ auf der Spur ist und rückt damit auch ein „Migrantisches Rheinland“ in den Fokus. Sebastian Scharte zeigt in seinem sehr dichten, auch fachhistorisch äußerst instruktiven Beitrag die Distinktionsprozesse auf, durch die die unterschiedlichen Regionen innerhalb des Bindestrich-Bundeslandes Nordrhein-Westfalen gekennzeichnet sind. Als relevante Akteure stellt er dabei die Landschaftsverbände in den Mittelpunkt und fragt kritisch nach den Identitätsangeboten, die diese im Zusammenspiel mit anderen institutionellen Akteuren wie Heimatvereinen etc. liefern.

Weitere zwei Beiträge sind dem thematischen Bezugsrahmen des ‚Auffindens‘ zugeordnet. Ove Sutter geht der Frage nach, welche Bedeutung dem Faktor „regionale Identität“ im EU-Förderprogramm LEADER zukommt. Als Quellen dienen ihm die so genannten Lokalen Entwicklungsstrategien, hier konkret die 120 Seiten umfassende der LEADER-Region Zülpicher Börde. Es handelt sich hierbei um eine ländliche Gegend zwischen Aachen, Köln und Bonn, die es mittels dieser kulturellen Repräsentation schaffe – so seine Analyse sprachlicher und visueller Mittel in Form des Dokuments –, regionale Identität symbolisch zu produzieren. Regionalspezifische historische Gegebenheiten spielten dabei eine ähnlich große Rolle wie die (Um-)Rahmung landschaftlicher Spezifika für einen touristischen Blick. Während hier positiv konnotierte Identitätsangebote konstruiert werden müssen, werden sie an anderer Stelle ökonomisch in Wert gesetzt. Am Beispiel gewerblich organisierter Junggesellinnenabschiede zeigt Andrea Graf die „Inszenierung von Regionalität“ in Köln auf. Diese lasse sich etwa in speziell für solcherart Frauengruppen organisierten Führungen wiederfinden und werde dadurch nicht zuletzt auch medial kommuniziert.

Mediale Inszenierungen von Urlaubsreisen und die darüber erkennbaren „regionalen Verortungen in Fotoalben“ stehen im Mittelpunkt der Ausführungen von Katrin Bauer, die den Abschnitt zum ‚Ausstellen‘ eröffnen. Zwei private Alben der 1950er Jahre aus dem Bestand des LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalgeschichte bilden die Grundlage für den sehr kurzen Text, dessen Regionalbezug – vielleicht deswegen – ebenso kurz angeschnitten bleibt wie genauere Angaben zum methodischen Umgang mit den Quellen. Markus Walz beschließt die Sektion mit einem Aufsatz zu „Regionale[n] Szenarien in rheinischen Weihnachtskrippen“, die er systematisch und in diachroner Perspektive auf die Frage nach „heimatlichen“ Gestaltungen und Elementen hin untersucht (171). Die zum Verständnis der beiden Aufsätze wichtigen Abbildungen wurden leider ans jeweilige Textende platziert, was die Rezeption etwas erschwert. Dies führt mich zu zwei weiteren ‚äußerlichen‘ Anmerkungen: Die etwas lieblose Bebilderung an dieser Stelle korrespondiert nicht mit dem sehr schön gestalteten Titelbild des Bandes, das ich für äußerst gelungen halte (moderne Plastikspielfiguren stellen eine Baustellenszene auf einer historischen Rheinlandkarte nach), weil es eben nicht gängige regionale Stereotype (re-)produziert. Und man mag es mit gendergerechter Sprache halten, wie man will: Aber Belege dafür, wie Sprache gesellschaftliche Schieflagen zu perpetuieren in der Lage ist („Sekretärinnen, Pförtner und Hausmeister“, 80), sollten nun wahrlich nicht mehr in wissenschaftlichen Texten auftauchen.

Den Abschluss des Bandes bildet ein Aufsatz von Bernhard Tschofen mit dem Titel „Regionalität jenseits der Konstruktion? Über Ungleichzeitigkeiten in spätmodernen Alltagen“. Er geht dabei der Frage nach dem scheinbaren Gegensatzpaar des Regionalen und des Globalen nach, was im Titel des Bandes angedeutet und durch die (meisten) Aufsätze thematisiert wird. Anhand zweier Fallbeispiele aus der Landwirtschaft und dem Tourismus kann er knapp, aber deutlich die vielschichtige Verwobenheit regionaler und globaler Prozesse aufzeigen. Er verweist damit einmal mehr auf die Relevanz der lebensweltlichen Praxis für Regionales, weil sich Konstruktionen dessen „immer auf Erfahrungen der materiellen und immateriellen Lebenswelt beziehen“ (184).

Der Band zeigt, dass um die Konstruktion einer Region herum immer auch machtvolle In- und Exklusionsstrategien und -prozesse am Werk sind (am stärksten sichtbar in den Beiträgen von Tschofen, Sutter und Scharte), dass das Hier nicht ohne ein Dort zu denken ist (Mobilität und Tourismus werden insbesondere von Berchem, Bauer und Tschofen behandelt) und dass mediale Inszenierungen von Region Wirkung zeigen (zur Bedeutung des Hörfunks etwa Scharte, zu Schulbüchern Franken, zu Amtsblättern Mölich). Er zeigt auch, dass der im Fach in den 1980er Jahren erfolgte Paradigmenwechsel der Regionalforschung hin zu einer Fokussierung auf die Akteurinnen und Akteure inzwischen durchweg Beachtung findet. Das alles, so könnte man nun einwenden, sind keine neuen Erkenntnisse. Aber im Zusammenspiel ergeben sie doch ein höchst facettenreiches Bild einer Momentaufnahme des Rheinlands. Plastisch wird dabei gleichzeitig auch, wie um den Bonner Standort des Faches herum die jeweiligen Autorinnen und Autoren Zugänge und Fragen zu „ihrer“ Region suchen und Antworten finden. Der von Tschofen in seinem Aufsatz geäußerte Appell, stärker auch den (eigenen) Körper als Medium der Erfahrung in der regionalen Kulturanalyse einzusetzen (193), hätte vielen der Forschungen nochmals eine weitere wichtige Dimension hinzufügen können – aber es wird weitere Jubiläen geben, zu denen man sich dem Thema der Region erneut zuwenden und vielleicht neue Zugänge suchen wird.