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Sahar Sarreshtehdari
„Das ist so typisch persisch!“ Eine Untersuchung diasporischer Erinnerungskulturen am Beispiel der zweiten Generation iranischer MigrantInnen in Deutschland
(Münchener Beiträge zur Interkulturellen Kommunikation 29), Münster/New York 2017, Waxmann, 331 Seiten mit 8 Abbildungen, ISBN 978-3-8309-3673-2Rezensiert von Nieki Samar
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 28.08.2020
Einen Einblick in die Lebensgestaltung junger iranischer Migrant*innen in Deutschland anhand ihrer Erinnerungskultur zu erhalten, ist das Forschungsziel von Sahar Sarreshtehdaris Promotionsschrift im Fachbereich Interkulturelle Kommunikation an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. So beginnt die Dissertation mit einem Lied des österreichisch-iranischen Kabarettisten Michael Niavarani, der darin sein individuelles Bild des Irans beschreibt. Gewachsen ist dieses Bild aus seinen eigenen Eindrücken sowie den Erzählungen seines Vaters. Um sich der Erinnerungskultur und den Narrativen zu nähern, sprach die Autorin mit Menschen der zweiten Generation iranischer Migrant*innen, die in Deutschland geboren sind oder die einen großen Teil ihres Lebens außerhalb des Irans verbracht haben. Sarreshtehdari geht es um das Konzept „Iranischsein“ in der Sichtweise der Befragten und die dadurch begründeten Abgrenzungen – sowohl zur deutschen Mehrheitsgesellschaft als auch zu anderen Iraner*innen. Sie will erforschen, welche dieser Narrative die individuelle Lebensgestaltung wie beeinflussen (15). Der Fokus wird hierbei auf die Loslösung von nationalstaatlichen Kontexten und den daraus entstehenden transnationalen Dynamiken gelegt, die sich zwischen Herkunfts- und Residenzland bewegen (64). Mit der Darstellung der Vermischung und Neukombination von Geschichten, sogenannten „Cross-Over Geschichten“, verortet Sarreshtehdari ihre Arbeit an der Schnittstelle von Erinnerungsarbeit und Identitätskonstruktion.
Die Arbeit ist in fünf Kapitel gegliedert: Nach der Vorstellung der Thematik (I) geht die Autorin in Kapitel II dem Forschungsstand zu diasporischer Erinnerungskultur in Einwanderungsgesellschaften nach. Sie nähert sich diesem durch die Auseinandersetzung mit kulturwissenschaftlicher Gedächtnis- und Erinnerungsforschung sowie mit transnationalen Erinnerungsprozessen und dem kollektiven Gedächtnis, wobei sie auch interdisziplinäre Perspektiven auf Gedächtnis- und Erinnerungsprozesse aufgreift und einbezieht (24 f.). In Kapitel III stellt sie ihre methodische Herangehensweise vor. Um Einblicke in die vorhandenen Narrative und ihre Auswirkungen geben zu können und um verschiedene Perspektiven auf das Thema zu erfassen, nutzt sie eine Triangulation von qualitativen Methoden wie biografisch-narrativen Interviews und teilnehmender Beobachtung in sozialen Netzwerken (96). Zur Auswahl der Interviewpartner*innen kann kritisch angemerkt werden, dass die Autorin zunächst telefonische Befragungen kategorisch ablehnte (101), aber Videoanrufen zustimmte, bei denen das Gesicht ihrer Gesprächspartner*innen nicht zu sehen war. Möglicherweise wäre es bereichernd gewesen, weitere Menschen für ein persönliches Gespräch zu finden. In ihrem Empiriekapitel (IV) gliedert Sarreshtehdari die Narrationen in acht Unterkapitel wie beispielsweise „Ankunft in Deutschland“, „Reisen in den Iran“, „Transnationale Familiennetzwerke“ oder „Die Narrative des ‚Iranischseins‘“, in denen sie ihre Ergebnisse aus den Interviews und den Beobachtungen wiedergibt. Zusammenfassende Bemerkungen finden sich im Diskussionskapitel (V) und schließen die Ethnografie ab. Vor jedem neuen Kapitel begründet die Autorin die jeweilige Relevanz für den Verlauf der Forschung. Durch ihre klare Strukturierung und den schlüssigen Aufbau kann man ihrem Forschungsprozess gut folgen.
Spannend ist Sarreshtehdaris Hinzuziehung des Internets als Medium des kollektiven Gedächtnisses. Die Nutzung des Internets für wissenschaftliche Zwecke war bisher eher auf Möglichkeiten der Grenzüberwindung durch digitale Medien konzentriert, weniger auf die bereits bestehenden grenzüberschreitenden Erinnerungsnetzwerke von Migrant*innen (62 f.). Dort knüpft die Autorin an und zeigt auf, dass der Zugriff auf Daten und ein uneingeschränkter Informationsabruf aus dem Internet mit seiner unbegrenzten Speicherkapazität zunehmend an Relevanz gewinnen und ebenso die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem verschwimmt. Sarreshtehdari wirft Fragen auf nach deren Auswirkungen auf Familiengeschichten und Konstruktionen des Kollektivgedächtnisses (70 ff.). Sie stellt dar, dass die transnationale Migration eine beständige Konstruktionsleistung ist, da man durch Netzwerke und Organisationen in mehr als eine Gesellschaft eingebunden ist und dass Globalisierung und Internet diese Tatsache verstärken (Kapitel II.6.2). Informationen aus dem und über das Herkunftsland abzurufen, die in den deutschen Medien nicht beachtet werden, oder lokale Vernetzungen zu suchen und zu nutzen, stärken den Aufbau einer diasporischen Identität (76 f). Die Hinzuziehung des Internets hat den Zugang der Autorin zum Untersuchungsgegenstand zwar erweitert, doch beleuchtet sie soziale Netzwerke als solche ausführlich und kritisch (115, 286 f.).
Es zeigt sich, dass die Interviewten Schwierigkeiten haben, ihre eigene Identität zuzuordnen, da ihnen beispielsweise das „Iranischsein abgesprochen“ werde (162). Die meisten bringen den Iran mit „Heimatverlangen“ (282) zusammen, das durch Symbole, Gegenstände und soziale Beziehungen – Kontakt- und Vernetzungsmöglichkeiten mit dort lebenden Verwandten und Freund*innen – konstruiert wird (83). Andere merken bei einem Besuch im Iran, dass ihre Vorstellung nicht der Realität entspricht. Diese Ausführungen sowie die Diskussionen auf Facebook, bei denen sich Kommentare von jungen User*innen darauf beziehen, dass sie sich den Shah zurückwünschen, verdeutlichen, dass dieser Wunsch nicht auf Primärerfahrungen basieren kann, sondern ihre „Schilderungen der vorrevolutionären Zeit die Einstellungen und Aussagen der Eltern und Familienmitglieder widerspiegeln“ (175), die häufig der Kernpunkt der Kultur vor Ort sind (276). Diese Erinnerungen sind teils gemischt mit eigenen Erfahrungen oder Medieninhalten, denn durch das Internet kommen die Informationen über den Iran nicht mehr nur von den Eltern (285).
Die Befragten finden sich also zwischen Einordnung, Zuordnung und Abgrenzung: Dies wird dadurch ersichtlich, dass die Interviewten angeben, sowohl aus der Kultur ihrer Eltern oder ihres Heimatlandes, als auch aus Deutschland Charaktereigenschaften übernommen zu haben (321). Dies unterstreicht Sarreshtehdaris Feststellung, dass Erinnerungskulturen zwar in nationale Kontexte eingebettet, aber von grenzüberschreitenden Prozessen geprägt sind (292). Die vielen unterschiedlichen Narrative, die das individuelle Konzept „Iranischsein“ ausmachen, unterliegen einem ständigen Austausch und Aushandlungsprozess (235), der bei einigen ein Gefühl von Heimatlosigkeit oder multiplen Heimaten hervorruft (243). Und obwohl sich die Interviewten wegen ihrer Vorgeschichte interkulturelle Kompetenz zuschreiben, fällt auf, dass die Bedeutung des „Migrationshintergrunds“ für viele eher als „Nachteil und Hindernis“ denn als „Vorteil und Bereicherung“ gesehen wird (248 ff.).
Hervorzuheben ist, dass die Autorin in ihrer Dissertation auch Einblicke in ihr Feldforschungstagebuch gewährt. Sarreshtehdari dokumentiert ihre Annäherung an ihr Forschungsfeld und legt ihre persönliche Betroffenheit in dem Themenkomplex offen. Sie beschreibt in ihrer Selbstreflexion ihre Befürchtungen und ihr Verhältnis zu den Interviewten zwischen Nähe und Distanz. Sarreshtehdari bewertet und kontextualisiert ihre Forschungsweise vor allem auch, weil ihr von ihren Interviewpartner*innen ein Wissensvorrat an „iranischem Wissen“ zugesprochen wurde. Daher achtet sie in ihrer Ausarbeitung darauf, Kleinigkeiten zu erklären und zu belegen (119 ff.), die für iranisch-stämmige Menschen selbstverständlich sind. Ein wiederkehrendes Bild in ihrer empirischen Untersuchung ist der Wunsch nach Bildung, der auch in der „Titel-Sucht“ (203 f.) deutlich wird, wenn Eltern von ihren Kindern einen Doktortitel erwarten. Einige der Interviewten berichten, dass sie fühlen, in der Schuld ihrer Eltern zu stehen, da zu deren Auswanderungsmotiven oft der Wunsch nach Bildung für ihre Kinder gehören würde. Die Autorin arbeitet heraus, dass der Bildungswunsch mit dem Streben nach (materiellem) Wohlstand gekoppelt zu sein scheint, um letztendlich mit den finanziellen Möglichkeiten auch die damit verbundene (oder erhoffte) Zugehörigkeit zu einer oberen Gesellschaftsklasse zur Schau stellen zu können (219). Die Unsicherheit der Autorin diesbezüglich kann durch einen Einblick in ihr Forschungstagebuch eingeordnet werden.
Es finden sich mehrere Ansätze, die weiter erforscht werden könnten, beispielsweise eine Untersuchung von transnationalen Identitätskonstruktionen und -zuordnungen junger Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Auch wäre es spannend und von kulturwissenschaftlichem Interesse, die Diasporagemeinschaft der Iraner*innen näher zu betrachten, da die Autorin auch die Diversität und Heterogenität der Gruppe betont, deren unterschiedliche politische Einstellungen kollektive Aktionen erschweren (93). Ebenso könnten die von Sarreshtehdari beobachteten Abwertungen anderer persischsprachiger Nationalitäten und Kulturen, die im Internet im Vergleich zur iranischen Kultur degradiert würden, näher untersucht werden (188 f.).
Durch die Erzählungen der diasporischen Erinnerungskultur, die iranische Migrant*innen der zweiten Generation in sich tragen, gelingt es Sarreshtehdari, die Bedeutung von Narrativen für das kollektive Gedächtnis herauszuarbeiten und die Auswirkungen aufzuzeigen, die die Idee des „Iranischseins“ auf die Lebensgestaltung hat (235). Die Autorin erarbeitet in ihrer ausführlichen Forschung eine Perspektive auf Erinnerungskultur, die nicht nur die wichtige Funktion von Erinnerungskonstruktionen für Diasporagemeinschaften verdeutlicht, sondern auch den Stellenwert betont, den sie im deutschen Kontext haben sollten, da es sich um Lebensgestaltungen von Menschen handelt, die größtenteils in Deutschland aufgewachsen sind oder zumindest dort leben und arbeiten.
Sahar Sarreshtehdari beendet ihr Buch mit dem Appell, die Ansichten von Menschen mit Migrationshintergrund in die Narrative der deutschen Gesellschaft einzuflechten, damit sich im öffentlichen Diskurs auch multikulturelle Realitäten wiederfinden (293) und so zu neuen gesamtgesellschaftlichen Erinnerungen beitragen können.