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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Franz Jäger

Gletscher und Glaube. Katastrophenbewältigung in den Ötztaler Alpen einst und heute

Innsbruck/Wien/Bozen 2019, StudienVerlag, 275 Seiten mit Abbildungen, teils farbig, ISBN 978-3-7065-5920-1
Rezensiert von Bernd Rieken
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 07.08.2020

Der vorliegenden Monografie liegt eine Dissertation zugrunde, die im Jahr 2015 unter dem Titel „Kulturelle Strategien im Umgang mit Naturgefahren im hochalpinen Lebensraum: dargestellt aus volkskundlich-ethnologischer Perspektive an Fallbeispielen aus dem Kulturraum Ötztal – Pitztal – Passeier von der kleinen Eiszeit bis zur Gegenwart“ am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck eingereicht und von Siegfried de Rachewiltz betreut wurde. Franz Jäger, ursprünglich Jurist, hat nach seiner Pensionierung Europäische Ethnologie studiert und am Ende die vorliegende Qualifikationsschrift vorgelegt.

Die so genannte Kleine Eiszeit war in den Alpen – einer typischen „region of risk“ im Sinn der geografischen Katastrophenforschung – mit Gletschervorstößen verbunden, aber auch mit einer Zunahme an Muren, Überschwemmungen und Lawinen. Hochgelegene Dörfer waren bedroht von den vorrückenden Eismassen und ganze Täler von Eisseen, die sich hinter Moränen mitunter weit oben aufstauten. Die Menschen standen der Naturgewalt hilflos gegenüber, Staumauern, künstliche Abflüsse oder Lawinenverbauungen überstiegen das damals technisch Machbare. Die Leute hatten daher Angst, sie sahen in den Bedrohungen entweder ein göttliches Strafgericht oder das Wirken dämonischer Mächte. Da eine solche Situation kaum zu ertragen ist, übten sie religiöse Handlungen aus als damals „einzige Möglichkeit, Schadensereignisse zu deuten und zu bewältigen“ (78). Unter Bezugnahme auf Niklas Luhmann sieht der Autor die Funktion der Religion darin, „auf Grundbedürfnisse, Sinnfragen und Existenzkrisen“ zu reagieren und dafür Lösungen anzubieten (78 f.). Jäger skizziert das anhand einer Fülle historischer und auch heutiger Beispiele, von geweihten Palmzweigen und Lichtmesskerzen über Glockenläuten und Wettersegen bis zu Wetterprozessionen, die alljährlich abgehalten wurden und teilweise bis heute stattfinden. Instruktiv ist in dem Zusammenhang das Fischbachgelöbnis von Längenfeld, das auf Überschwemmungen im Jahre 1702 zurückgeht und dessentwegen auch in der Gegenwart alljährlich eine Prozession begangen wird (208 ff.). Summa summarum sei daher die Volksfrömmigkeit „ein sensibler volkskundlicher Indikator für den Klimawandel während der ‚Kleinen Eiszeit‘ bis zur Klimaerwärmung der Gegenwart“ (67) – meines Erachtens ein wichtiger Aspekt –, mit deren Auswirkungen und Deutungen sich der Autor ebenfalls in eigenen Kapiteln befasst.

Der besondere Wert der Arbeit liegt darin, die Bedeutung der Religion als mentaler Bewältigungsstrategie bei Katastrophen am Beispiel der Ötztaler Alpen ins Zentrum gerückt zu haben. Dieser Aspekt ist bisher weniger berücksichtigt worden, zumal kulturwissenschaftlich sozialisierte Autoren, die sich mit Desastern befassen, in der Regel aus der bürgerlich-aufgeklärten Mittelschicht stammen und religiösen Fragen zuweilen gleichgültig oder ablehnend gegenüberstehen.

Doch Jäger schießt übers Ziel hinaus und gerät in eine Extremposition, wenn er pauschal behauptet, die Religion erfülle heute genauso wie früher „die Aufgabe einer Sinnstiftung und bietet an, allen Unwägbarkeiten des Lebens mit Gottvertrauen zu begegnen“ (79). Auch im allerletzten Satz des Buches positioniert sich der Autor dementsprechend eindeutig: „Die Religion ist somit heute wie damals in einer Mensch-Natur-Beziehung fest verankert.“ (250)

Dass er Religion im streng katholischen Sinn versteht, zeigt sich unter anderem an seiner Auseinandersetzung mit der Arbeit über die Lawinenkatastrophe von Galtür aus der Feder des Rezensenten (Rieken, Schatten über Galtür?, 2010), denn ich habe behauptet, dass die Grenzen zwischen christlichem Glauben und magischem Denken fließend seien, was aus seiner Sicht theologisch völlig unhaltbar wäre (199 u. ebd., Fußnote 933), weswegen er im sensiblen Bereich der Volksreligiosität – im Gegensatz zu mir! – eine „intensive Feldforschung“ betrieben hätte (200). Damit ist die implizite Botschaft klar: Nur ein Katholik kann einen Katholiken wirklich verstehen, ein Argumentationsmuster, das kennzeichnend ist für ideologisch sozialisierte Personen, etwa auch für orthodoxe Marxisten. Ferner ist der Autor entrüstet darüber, dass ich aus psychologisch-ethnologischer Perspektive in einigen meiner Interviews eine Verbindung zwischen dem Desaster und der Befürchtung, es könnte eine Strafe Gottes gewesen sein, herausgehört habe (202). Denn aus Sicht der gegenwärtigen katholischen Lehre werde das Strafe-Gottes-Argument strikt abgelehnt, da Gott nicht ins Naturgeschehen eingreife. Die Schöpfung wird in der Tat heutzutage als einmaliger Akt betrachtet, die gegenteilige Position, der Okkasionalismus, gilt seit langem als veraltet.

So ganz stimmt das indes nicht, hat doch zum Beispiel ausgerechnet ein prominenter Würdenträger der katholischen Kirche, Kardinal Christoph Schönborn aus Wien, in einem Interview mit der Wiener Zeitung die Meinung geäußert, dass er die Corona-Pandemie zwar nicht als göttliches Strafgericht betrachte, aber es sei doch „die Frage, ob Gott uns durch die Natur etwas sagen will. Da hat die Naturwissenschaft keine Expertise […]. Aber dass er in der Krise bei uns anklopft und uns zum Nachdenken einlädt, daran glaube ich.“ (Wiener Zeitung, 11./12.4.2020, 16) Demnach will Gott uns mithilfe der Pandemie etwas mitteilen, nur ist es die Frage, ob er das nicht auch etwas weniger gewalttätig, ohne die vielen Tausenden Toten, hätte tun können!

Was mich in dem Zusammenhang allerdings wirklich stört, ist, dass Jäger, wenn er mich erwähnt, zwar ausschließlich kritisiert, ansonsten aber meinen Schriften fleißig Ideen entnimmt, ohne darauf hinzuweisen. Das gilt für Äußerungen des oberösterreichischen Pfarrers und damaligen Bischofsanwärters Gerhard Wagner sowie des ehemaligen Salzburger Weihbischofs Andreas Laun über den Hurrikan Katrina als Strafe Gottes (Jäger, 202; Rieken, Schatten über Galtür?, 2010, 102 f.), denn Jäger bezieht sich zum Beispiel auf dieselbe Webseite wie ich und bezeichnet Laun als Weihbischof, so wie ich es im Jahre 2010 getan habe, doch ist Laun seit 2017 emeritiert. Entsprechendes gilt auch für Ausführungen über die Ambivalenz des Wassers (Jäger, 49 ff.; Rieken, „Nordsee ist Mordsee“, 2005, 145 ff.), vor allem aber für die These, dass die Behauptung, Gott strafe die Menschen für ihre Sünden, im populären Diskurs ersetzt worden sei durch die Behauptung, die Natur strafe die Menschen für ihre Umweltsünden – denn das ist ein zentrales Argumentationsmuster in meiner Monografie über Sturmfluten und genauso in der Dissertation Franz Jägers. – So hatte ich beim Lesen das eine oder andere Déjà-vu-Erlebnis …

Davon abgesehen: Was folgt aus dem bisher Gesagten? Jäger hat zwar mit Blick auf das durchgängig katholische Tiroler Oberland Recht, wenn er die Aufgabe der Religion bei der Bewältigung von Katastrophen betont, aber es wäre verfehlt, daraus den Schluss zu ziehen – was Jäger implizit tut –, man müsse katholisch werden bzw. religiös sein, um Katastrophen gut bewältigen zu können. Nebenbei bemerkt bin ich, mit Blick auf die Funktion der Religion, in Galtür zu ähnlichen Ergebnissen gelangt, da ich ebenso wie Jäger in ihr einen wichtigen Resilienzfaktor bei der Bewältigung des Desasters sehe, nur habe ich daraus nicht den verallgemeinernden Schluss gezogen, das man dafür die Religion, sondern eine Weltanschauung benötige, die uns Sinn vermittelt, und das leisten selbstverständlich auch säkulare Sinnsysteme.

Ein paar Bemerkungen noch zur Literatur und zu verwandten Diskursen: Jäger hätte durchaus die bis 2018 – aus dem Jahr stammen die neuesten Literaturangaben – vorliegenden Arbeiten zu Katastrophen aus der Europäischen Ethnologie zurate ziehen können, etwa die Habilitationsschriften von Andreas Schmidt („Wolken krachen, Berge zittern …“, 1999) und von mir (2005) – Letztere in direkter Form – sowie die Dissertationen von Reinhard Bodner (Berg/Leute, 2018) – übrigens auch aus Innsbruck – und Sandro Ratt (Deformationen der Ordnung, 2018), der sich ebenfalls mit religiösen Dimensionen befasst, allerdings als einer unter mehreren (Ratt 2018, 100); darüber hinaus den von der Universität Innsbruck organisierten Sammelband „Ist es der Sindtfluss? Kulturelle Strategien und Reflexionen zur Prävention und Bewältigung von Naturgefahren“ (Roland Psenner, Reinhold Lackner u. Maria Walcher [Hg.], 2008), denn darin reflektiert unter anderem Gerlinde Haid über „Klänge gegen Naturgefahren“ sowie Hans Haid „Über Gletscherbannungen, Bittgänge, scharfe Gelübde, Kinderprozessionen zum Ferner usw.“ – und das sind zwei Themen, mit denen sich auch Jäger ausführlich beschäftigt. Ferner hätten die Ausführungen übers Erfahrungswissen Einheimischer (192 ff.) in die Debatte über lokales Wissen eingebettet werden können und die Hinweise über das Präsent-Halten früherer Katastrophen (204 f.) in den Kontext des kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses.

All dessen ungeachtet würde ich das Buch empfehlen, weil es trotz ideologischer Schieflage einen Themenbereich akzentuiert, der bisher in der Europäischen Ethnologie noch nicht ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt worden ist, aber für Menschen, die in der Religion einen Halt finden, Bedeutung hat, nämlich ihre Rolle bei der Bewältigung von Katastrophen.